dem Wortrhythmus folgend, Schlag auf Schlag blitzartig sich entladet, im Augenblick des Hörens einen durch nichts zu überbietenden Eindruck drasti- scher Kraft, dem nur die überwältigende Wirkung einer absolut vollendeten dramatischen Wortdeclamation nahe zu kommen vermag. Beide Arten des Sprechgesangs, die lyrische mit ihrer lieblichen Herzlichkeit, und die drama- tische mit ihrer hinreißenden Lebendigkeit sind weit mehr als das Recitativ wesentlich berechtigte Musikgattungen; in ihnen ist Musik, Seele, Gesang, zwar in allgemeinster, einfachster, aber ebendamit in potenzirtester Weise; aus ihnen könnte neben der Oper ein zweites mit musikalischem Ausdruck begleitetes Musikdrama sich entwickeln, falls nämlich eine spätere Entwick- lung der Kunst und der geistigen Anschauungsweise überhaupt dahin führte, Stoffe in der Art und Weise der griechischen Tragödie zu finden, die, in der Mitte zwischen Oper und Wortdrama liegend, für musikalische Decla- mation sich eigneten, ethisch dramatische Stoffe, welche feierlich innigen und kräftigen Ausdruck, aber keine breitere musikalische Ausführung ver- langten, so daß eben diese Mittelgattung die richtige für sie wäre.
So hoch der declamatorische Gesang in den so eben hervorgehobenen Beziehungen steht, so falsch wäre es nun aber deßungeachtet, in ihm die höchste oder gar einzige Form des über die Liedform hinausstrebenden Ge- sanges zu erblicken. Es ist Musik in ihm, aber keine freie und ganze Entfaltung der Musik; er löst die Rede in Musik auf, aber er bindet die Musik an Sylben, Worte, Sätze, Metrum; er kommt nicht oder nur zu- fällig zur Realisirung der der Musik eigenthümlichen Formen gleichartiger entsprechender Perioden; er führt immer von einer Wendung zur andern, läßt keinen Gedanken sich selbständig entwickeln, er wirkt nur in und mit dem Worte, unterstützt nur den Eindruck des letztern, es kommt in ihm kein Tongebilde zu eigener Consistenz, sondern das Ganze schwebt oder rauscht vorüber wie das verhallende Wort selbst; der musikalischen Phantasie wird Nichts geboten, sie geht leer aus, es war doch nur ein momentaner, mu- sikalischrhythmisch erwärmter und belebter declamatorischer, nicht ein wirklich musikalischer Eindruck, den wir erhielten, das Einzelne des Inhalts ließ auch hier die Form, die Kunst nicht zu ihrem Rechte gelangen; ja der Ausdruck selbst trat ebendarum nicht voll und wirksam genug hervor, weil es nicht zur Entwicklung breiterer Formen kam, innerhalb welcher die einen bestimmtern Ausdruck bedingenden Mittel wirklich hätten vollständiger an- gewandt werden können, kurz es war eben mehr Eindruck als Ausdruck, es war musikalische Rede, aber nicht Musik. Es kann daher kein Zweifel sein, daß es auch noch eine andere, das Einzelne der Stimmung charak- teristisch mit vollem Ausdruck malende Art der Vocalmusik geben muß, in der nicht blos Musik ist, sondern die ganz und vollkommen Musik ist. Die Tonkunst ist so formenreich, daß es in der That sonderbar wäre, wenn
dem Wortrhythmus folgend, Schlag auf Schlag blitzartig ſich entladet, im Augenblick des Hörens einen durch nichts zu überbietenden Eindruck draſti- ſcher Kraft, dem nur die überwältigende Wirkung einer abſolut vollendeten dramatiſchen Wortdeclamation nahe zu kommen vermag. Beide Arten des Sprechgeſangs, die lyriſche mit ihrer lieblichen Herzlichkeit, und die drama- tiſche mit ihrer hinreißenden Lebendigkeit ſind weit mehr als das Recitativ weſentlich berechtigte Muſikgattungen; in ihnen iſt Muſik, Seele, Geſang, zwar in allgemeinſter, einfachſter, aber ebendamit in potenzirteſter Weiſe; aus ihnen könnte neben der Oper ein zweites mit muſikaliſchem Ausdruck begleitetes Muſikdrama ſich entwickeln, falls nämlich eine ſpätere Entwick- lung der Kunſt und der geiſtigen Anſchauungsweiſe überhaupt dahin führte, Stoffe in der Art und Weiſe der griechiſchen Tragödie zu finden, die, in der Mitte zwiſchen Oper und Wortdrama liegend, für muſikaliſche Decla- mation ſich eigneten, ethiſch dramatiſche Stoffe, welche feierlich innigen und kräftigen Ausdruck, aber keine breitere muſikaliſche Ausführung ver- langten, ſo daß eben dieſe Mittelgattung die richtige für ſie wäre.
So hoch der declamatoriſche Geſang in den ſo eben hervorgehobenen Beziehungen ſteht, ſo falſch wäre es nun aber deßungeachtet, in ihm die höchſte oder gar einzige Form des über die Liedform hinausſtrebenden Ge- ſanges zu erblicken. Es iſt Muſik in ihm, aber keine freie und ganze Entfaltung der Muſik; er löst die Rede in Muſik auf, aber er bindet die Muſik an Sylben, Worte, Sätze, Metrum; er kommt nicht oder nur zu- fällig zur Realiſirung der der Muſik eigenthümlichen Formen gleichartiger entſprechender Perioden; er führt immer von einer Wendung zur andern, läßt keinen Gedanken ſich ſelbſtändig entwickeln, er wirkt nur in und mit dem Worte, unterſtützt nur den Eindruck des letztern, es kommt in ihm kein Tongebilde zu eigener Conſiſtenz, ſondern das Ganze ſchwebt oder rauſcht vorüber wie das verhallende Wort ſelbſt; der muſikaliſchen Phantaſie wird Nichts geboten, ſie geht leer aus, es war doch nur ein momentaner, mu- ſikaliſchrhythmiſch erwärmter und belebter declamatoriſcher, nicht ein wirklich muſikaliſcher Eindruck, den wir erhielten, das Einzelne des Inhalts ließ auch hier die Form, die Kunſt nicht zu ihrem Rechte gelangen; ja der Ausdruck ſelbſt trat ebendarum nicht voll und wirkſam genug hervor, weil es nicht zur Entwicklung breiterer Formen kam, innerhalb welcher die einen beſtimmtern Ausdruck bedingenden Mittel wirklich hätten vollſtändiger an- gewandt werden können, kurz es war eben mehr Eindruck als Ausdruck, es war muſikaliſche Rede, aber nicht Muſik. Es kann daher kein Zweifel ſein, daß es auch noch eine andere, das Einzelne der Stimmung charak- teriſtiſch mit vollem Ausdruck malende Art der Vocalmuſik geben muß, in der nicht blos Muſik iſt, ſondern die ganz und vollkommen Muſik iſt. Die Tonkunſt iſt ſo formenreich, daß es in der That ſonderbar wäre, wenn
<TEI><text><body><divn="1"><divn="2"><divn="3"><divn="4"><p><hirendition="#et"><pbfacs="#f0241"n="1003"/>
dem Wortrhythmus folgend, Schlag auf Schlag blitzartig ſich entladet, im<lb/>
Augenblick des Hörens einen durch nichts zu überbietenden Eindruck draſti-<lb/>ſcher Kraft, dem nur die überwältigende Wirkung einer abſolut vollendeten<lb/>
dramatiſchen Wortdeclamation nahe zu kommen vermag. Beide Arten des<lb/>
Sprechgeſangs, die lyriſche mit ihrer lieblichen Herzlichkeit, und die drama-<lb/>
tiſche mit ihrer hinreißenden Lebendigkeit ſind weit mehr als das Recitativ<lb/>
weſentlich berechtigte Muſikgattungen; in ihnen iſt Muſik, Seele, Geſang,<lb/>
zwar in allgemeinſter, einfachſter, aber ebendamit in potenzirteſter Weiſe;<lb/>
aus ihnen könnte neben der Oper ein zweites mit muſikaliſchem Ausdruck<lb/>
begleitetes Muſikdrama ſich entwickeln, falls nämlich eine ſpätere Entwick-<lb/>
lung der Kunſt und der geiſtigen Anſchauungsweiſe überhaupt dahin führte,<lb/>
Stoffe in der Art und Weiſe der griechiſchen Tragödie zu finden, die, in<lb/>
der Mitte zwiſchen Oper und Wortdrama liegend, für muſikaliſche Decla-<lb/>
mation ſich eigneten, <hirendition="#g">ethiſch</hi> dramatiſche Stoffe, welche feierlich innigen<lb/>
und kräftigen Ausdruck, aber keine breitere muſikaliſche Ausführung ver-<lb/>
langten, ſo daß eben dieſe Mittelgattung die richtige für ſie wäre.</hi></p><lb/><p><hirendition="#et">So hoch der declamatoriſche Geſang in den ſo eben hervorgehobenen<lb/>
Beziehungen ſteht, ſo falſch wäre es nun aber deßungeachtet, in ihm die<lb/>
höchſte oder gar einzige Form des über die Liedform hinausſtrebenden Ge-<lb/>ſanges zu erblicken. Es iſt Muſik <hirendition="#g">in ihm</hi>, aber keine freie und ganze<lb/>
Entfaltung <hirendition="#g">der</hi> Muſik; er löst die Rede in Muſik auf, aber er bindet die<lb/>
Muſik an Sylben, Worte, Sätze, Metrum; er kommt nicht oder nur zu-<lb/>
fällig zur Realiſirung der der Muſik eigenthümlichen Formen gleichartiger<lb/>
entſprechender Perioden; er führt immer von einer Wendung zur andern,<lb/>
läßt keinen Gedanken ſich ſelbſtändig entwickeln, er wirkt nur in und mit<lb/>
dem Worte, unterſtützt nur den Eindruck des letztern, es kommt in ihm<lb/>
kein Tongebilde zu eigener Conſiſtenz, ſondern das Ganze ſchwebt oder rauſcht<lb/>
vorüber wie das verhallende Wort ſelbſt; der muſikaliſchen Phantaſie wird<lb/>
Nichts geboten, ſie geht leer aus, es war doch nur ein momentaner, mu-<lb/>ſikaliſchrhythmiſch erwärmter und belebter declamatoriſcher, nicht ein wirklich<lb/>
muſikaliſcher Eindruck, den wir erhielten, das Einzelne des Inhalts ließ<lb/>
auch hier die Form, die Kunſt nicht zu ihrem Rechte gelangen; ja der<lb/>
Ausdruck ſelbſt trat ebendarum nicht voll und wirkſam genug hervor, weil<lb/>
es nicht zur Entwicklung breiterer Formen kam, innerhalb welcher die einen<lb/>
beſtimmtern Ausdruck bedingenden Mittel wirklich hätten vollſtändiger an-<lb/>
gewandt werden können, kurz es war eben mehr Eindruck als Ausdruck,<lb/>
es war muſikaliſche Rede, aber nicht Muſik. Es kann daher kein Zweifel<lb/>ſein, daß es auch noch eine andere, das Einzelne der Stimmung charak-<lb/>
teriſtiſch mit vollem Ausdruck malende Art der Vocalmuſik geben muß, in<lb/>
der nicht blos Muſik iſt, ſondern die ganz und vollkommen Muſik iſt. Die<lb/>
Tonkunſt iſt ſo formenreich, daß es in der That ſonderbar wäre, wenn<lb/></hi></p></div></div></div></div></body></text></TEI>
[1003/0241]
dem Wortrhythmus folgend, Schlag auf Schlag blitzartig ſich entladet, im
Augenblick des Hörens einen durch nichts zu überbietenden Eindruck draſti-
ſcher Kraft, dem nur die überwältigende Wirkung einer abſolut vollendeten
dramatiſchen Wortdeclamation nahe zu kommen vermag. Beide Arten des
Sprechgeſangs, die lyriſche mit ihrer lieblichen Herzlichkeit, und die drama-
tiſche mit ihrer hinreißenden Lebendigkeit ſind weit mehr als das Recitativ
weſentlich berechtigte Muſikgattungen; in ihnen iſt Muſik, Seele, Geſang,
zwar in allgemeinſter, einfachſter, aber ebendamit in potenzirteſter Weiſe;
aus ihnen könnte neben der Oper ein zweites mit muſikaliſchem Ausdruck
begleitetes Muſikdrama ſich entwickeln, falls nämlich eine ſpätere Entwick-
lung der Kunſt und der geiſtigen Anſchauungsweiſe überhaupt dahin führte,
Stoffe in der Art und Weiſe der griechiſchen Tragödie zu finden, die, in
der Mitte zwiſchen Oper und Wortdrama liegend, für muſikaliſche Decla-
mation ſich eigneten, ethiſch dramatiſche Stoffe, welche feierlich innigen
und kräftigen Ausdruck, aber keine breitere muſikaliſche Ausführung ver-
langten, ſo daß eben dieſe Mittelgattung die richtige für ſie wäre.
So hoch der declamatoriſche Geſang in den ſo eben hervorgehobenen
Beziehungen ſteht, ſo falſch wäre es nun aber deßungeachtet, in ihm die
höchſte oder gar einzige Form des über die Liedform hinausſtrebenden Ge-
ſanges zu erblicken. Es iſt Muſik in ihm, aber keine freie und ganze
Entfaltung der Muſik; er löst die Rede in Muſik auf, aber er bindet die
Muſik an Sylben, Worte, Sätze, Metrum; er kommt nicht oder nur zu-
fällig zur Realiſirung der der Muſik eigenthümlichen Formen gleichartiger
entſprechender Perioden; er führt immer von einer Wendung zur andern,
läßt keinen Gedanken ſich ſelbſtändig entwickeln, er wirkt nur in und mit
dem Worte, unterſtützt nur den Eindruck des letztern, es kommt in ihm
kein Tongebilde zu eigener Conſiſtenz, ſondern das Ganze ſchwebt oder rauſcht
vorüber wie das verhallende Wort ſelbſt; der muſikaliſchen Phantaſie wird
Nichts geboten, ſie geht leer aus, es war doch nur ein momentaner, mu-
ſikaliſchrhythmiſch erwärmter und belebter declamatoriſcher, nicht ein wirklich
muſikaliſcher Eindruck, den wir erhielten, das Einzelne des Inhalts ließ
auch hier die Form, die Kunſt nicht zu ihrem Rechte gelangen; ja der
Ausdruck ſelbſt trat ebendarum nicht voll und wirkſam genug hervor, weil
es nicht zur Entwicklung breiterer Formen kam, innerhalb welcher die einen
beſtimmtern Ausdruck bedingenden Mittel wirklich hätten vollſtändiger an-
gewandt werden können, kurz es war eben mehr Eindruck als Ausdruck,
es war muſikaliſche Rede, aber nicht Muſik. Es kann daher kein Zweifel
ſein, daß es auch noch eine andere, das Einzelne der Stimmung charak-
teriſtiſch mit vollem Ausdruck malende Art der Vocalmuſik geben muß, in
der nicht blos Muſik iſt, ſondern die ganz und vollkommen Muſik iſt. Die
Tonkunſt iſt ſo formenreich, daß es in der That ſonderbar wäre, wenn
Informationen zur CAB-Ansicht
Diese Ansicht bietet Ihnen die Darstellung des Textes in normalisierter Orthographie.
Diese Textvariante wird vollautomatisch erstellt und kann aufgrund dessen auch Fehler enthalten.
Alle veränderten Wortformen sind grau hinterlegt. Als fremdsprachliches Material erkannte
Textteile sind ausgegraut dargestellt.
Vischer, Friedrich Theodor von: Ästhetik oder Wissenschaft des Schönen. Bd. 3,2,4. Stuttgart, 1857, S. 1003. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/vischer_aesthetik030204_1857/241>, abgerufen am 05.12.2024.
Alle Inhalte dieser Seite unterstehen, soweit nicht anders gekennzeichnet, einer
Creative-Commons-Lizenz.
Die Rechte an den angezeigten Bilddigitalisaten, soweit nicht anders gekennzeichnet, liegen bei den besitzenden Bibliotheken.
Weitere Informationen finden Sie in den DTA-Nutzungsbedingungen.
Insbesondere im Hinblick auf die §§ 86a StGB und 130 StGB wird festgestellt, dass die auf
diesen Seiten abgebildeten Inhalte weder in irgendeiner Form propagandistischen Zwecken
dienen, oder Werbung für verbotene Organisationen oder Vereinigungen darstellen, oder
nationalsozialistische Verbrechen leugnen oder verharmlosen, noch zum Zwecke der
Herabwürdigung der Menschenwürde gezeigt werden.
Die auf diesen Seiten abgebildeten Inhalte (in Wort und Bild) dienen im Sinne des
§ 86 StGB Abs. 3 ausschließlich historischen, sozial- oder kulturwissenschaftlichen
Forschungszwecken. Ihre Veröffentlichung erfolgt in der Absicht, Wissen zur Anregung
der intellektuellen Selbstständigkeit und Verantwortungsbereitschaft des Staatsbürgers zu
vermitteln und damit der Förderung seiner Mündigkeit zu dienen.
Zitierempfehlung: Deutsches Textarchiv. Grundlage für ein Referenzkorpus der neuhochdeutschen Sprache. Herausgegeben von der Berlin-Brandenburgischen Akademie der Wissenschaften, Berlin 2024. URL: https://www.deutschestextarchiv.de/.