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Vischer, Friedrich Theodor von: Ästhetik oder Wissenschaft des Schönen. Bd. 3,2,4. Stuttgart, 1857.

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die Form der Objectivität doch wiederum nicht wirklich festgehalten, das
Ganze wird in die Form eines lyrischen Gefühlsergusses gebracht, der
Vortragende muß abwechselnd die Rolle des empfindenden Zuschauers der
Handlung und die des dramatischen Darstellers der in ihr redenden und
handelnden Personen übernehmen, es ist eine stets in die Subjectivität
zurückgenommene Objectivität, ein Vorherrschen der erstern über die letztere,
das doch wiederum den Eindruck eines Mangels an Lebendigkeit des Ganzen,
des Mangels einer wahren, dem Inhalt adäquaten, für seine vollkommen
sprechende Darstellung zureichenden Kunstform machen muß; die durchcom-
ponirte Ballade gehört mit Einem Wort einer einseitig subjectiven Richtung
an, die auch das Objective subjectiv umgestaltet, sie ist keine reine Gattung.
Befriedigender ist daher die, bei einfachern (z. B. Göthischen) Dichtungen
dieser Art statthafte, nichtdurchcomponirte, höchstens die Begleitung wech-
selnde, etwa auch an einzelnen Stellen, z. B. am Schlusse, die Melodie
ändernde, erweiternde, ihr mehr Kraft oder Innigkeit gebende Ballade, die
das Geschichtliche nicht malend schildern, sondern nur seine allgemeine Be-
deutsamkeit für das Gefühl, die Stimmung, die es durchweht, den Eindruck,
den es auf die Empfindung macht, veranschaulichen, kurz wie das einfache
Lied durch den Ausdruck, nicht aber durch speziellere Charakteristik wirken
will. Eine Nebenart nichtdurchcomponirter, sondern einfach melodischer episch-
lyrischer Lieder, die Romanze, entsteht, wenn das epische Element in
ihnen vorherrscht, wenn das eigentlich Lyrische, Weiche, Rührende zurücktritt
und das Ganze mehr eine objectiv plastische Haltung hat, die auch in der
Melodie sich abspiegelt. Die Romanze kann ernster oder auch komischer Art
sein, aber in beiden Fällen tritt der lyrische Ausdruck zurück, es ist weniger
auf Innigkeit, Wärme der Empfindung, als auf eine (wiewohl nicht speziell
malende) charakteristische Gestaltung der Tonfolge abgesehen, die dem rein
Lyrischen gegenüber das Gepräge der Ruhe, der Objectivität, des Ansich-
haltens, wie um anzudeuten, daß erzählt werden soll, an sich trägt, dem
Inhalte aber deßungeachtet im Allgemeinen wohl entspricht durch das Ge-
präge des Ernstes, der Bedeutsamkeit oder andrerseits des Komischheitern,
in das sie sich kleidet. Die Romanze schließt sich nicht enger an den Text,
sie schlägt mehr den allgemeinern, ernst gewichtigen oder burlesken Erzähler-
ton an, der zum Bänkelsängertone herabsinkt, wenn aus der für die Romanze
wesentlichen Zurückhaltung des Ausdrucks Ausdruckslosigkeit, mechanische oder
gar plumpe Recitation wird. Auch in die Instrumentalmusik ist die Romanze
übergegangen; sie bezeichnet hier dem Rondo verwandte Sätze mit kürzerem,
leichtem, nicht auf Tiefe des Ausdrucks, sondern auf klare, freie, wohl-
gefällige Tonfolge abzweckendem melodischem Hauptsatz, der wie die Lieder-
strophe fortwährend in gleicher Weise, zuerst ohne, sodann mit Zwischen-
sätzen, die sich allmälig erweitern und vermehren können, sich wiederholt
und endlich das Ganze abschließt.


die Form der Objectivität doch wiederum nicht wirklich feſtgehalten, das
Ganze wird in die Form eines lyriſchen Gefühlserguſſes gebracht, der
Vortragende muß abwechſelnd die Rolle des empfindenden Zuſchauers der
Handlung und die des dramatiſchen Darſtellers der in ihr redenden und
handelnden Perſonen übernehmen, es iſt eine ſtets in die Subjectivität
zurückgenommene Objectivität, ein Vorherrſchen der erſtern über die letztere,
das doch wiederum den Eindruck eines Mangels an Lebendigkeit des Ganzen,
des Mangels einer wahren, dem Inhalt adäquaten, für ſeine vollkommen
ſprechende Darſtellung zureichenden Kunſtform machen muß; die durchcom-
ponirte Ballade gehört mit Einem Wort einer einſeitig ſubjectiven Richtung
an, die auch das Objective ſubjectiv umgeſtaltet, ſie iſt keine reine Gattung.
Befriedigender iſt daher die, bei einfachern (z. B. Göthiſchen) Dichtungen
dieſer Art ſtatthafte, nichtdurchcomponirte, höchſtens die Begleitung wech-
ſelnde, etwa auch an einzelnen Stellen, z. B. am Schluſſe, die Melodie
ändernde, erweiternde, ihr mehr Kraft oder Innigkeit gebende Ballade, die
das Geſchichtliche nicht malend ſchildern, ſondern nur ſeine allgemeine Be-
deutſamkeit für das Gefühl, die Stimmung, die es durchweht, den Eindruck,
den es auf die Empfindung macht, veranſchaulichen, kurz wie das einfache
Lied durch den Ausdruck, nicht aber durch ſpeziellere Charakteriſtik wirken
will. Eine Nebenart nichtdurchcomponirter, ſondern einfach melodiſcher epiſch-
lyriſcher Lieder, die Romanze, entſteht, wenn das epiſche Element in
ihnen vorherrſcht, wenn das eigentlich Lyriſche, Weiche, Rührende zurücktritt
und das Ganze mehr eine objectiv plaſtiſche Haltung hat, die auch in der
Melodie ſich abſpiegelt. Die Romanze kann ernſter oder auch komiſcher Art
ſein, aber in beiden Fällen tritt der lyriſche Ausdruck zurück, es iſt weniger
auf Innigkeit, Wärme der Empfindung, als auf eine (wiewohl nicht ſpeziell
malende) charakteriſtiſche Geſtaltung der Tonfolge abgeſehen, die dem rein
Lyriſchen gegenüber das Gepräge der Ruhe, der Objectivität, des Anſich-
haltens, wie um anzudeuten, daß erzählt werden ſoll, an ſich trägt, dem
Inhalte aber deßungeachtet im Allgemeinen wohl entſpricht durch das Ge-
präge des Ernſtes, der Bedeutſamkeit oder andrerſeits des Komiſchheitern,
in das ſie ſich kleidet. Die Romanze ſchließt ſich nicht enger an den Text,
ſie ſchlägt mehr den allgemeinern, ernſt gewichtigen oder burlesken Erzähler-
ton an, der zum Bänkelſängertone herabſinkt, wenn aus der für die Romanze
weſentlichen Zurückhaltung des Ausdrucks Ausdrucksloſigkeit, mechaniſche oder
gar plumpe Recitation wird. Auch in die Inſtrumentalmuſik iſt die Romanze
übergegangen; ſie bezeichnet hier dem Rondo verwandte Sätze mit kürzerem,
leichtem, nicht auf Tiefe des Ausdrucks, ſondern auf klare, freie, wohl-
gefällige Tonfolge abzweckendem melodiſchem Hauptſatz, der wie die Lieder-
ſtrophe fortwährend in gleicher Weiſe, zuerſt ohne, ſodann mit Zwiſchen-
ſätzen, die ſich allmälig erweitern und vermehren können, ſich wiederholt
und endlich das Ganze abſchließt.


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[997/0235] die Form der Objectivität doch wiederum nicht wirklich feſtgehalten, das Ganze wird in die Form eines lyriſchen Gefühlserguſſes gebracht, der Vortragende muß abwechſelnd die Rolle des empfindenden Zuſchauers der Handlung und die des dramatiſchen Darſtellers der in ihr redenden und handelnden Perſonen übernehmen, es iſt eine ſtets in die Subjectivität zurückgenommene Objectivität, ein Vorherrſchen der erſtern über die letztere, das doch wiederum den Eindruck eines Mangels an Lebendigkeit des Ganzen, des Mangels einer wahren, dem Inhalt adäquaten, für ſeine vollkommen ſprechende Darſtellung zureichenden Kunſtform machen muß; die durchcom- ponirte Ballade gehört mit Einem Wort einer einſeitig ſubjectiven Richtung an, die auch das Objective ſubjectiv umgeſtaltet, ſie iſt keine reine Gattung. Befriedigender iſt daher die, bei einfachern (z. B. Göthiſchen) Dichtungen dieſer Art ſtatthafte, nichtdurchcomponirte, höchſtens die Begleitung wech- ſelnde, etwa auch an einzelnen Stellen, z. B. am Schluſſe, die Melodie ändernde, erweiternde, ihr mehr Kraft oder Innigkeit gebende Ballade, die das Geſchichtliche nicht malend ſchildern, ſondern nur ſeine allgemeine Be- deutſamkeit für das Gefühl, die Stimmung, die es durchweht, den Eindruck, den es auf die Empfindung macht, veranſchaulichen, kurz wie das einfache Lied durch den Ausdruck, nicht aber durch ſpeziellere Charakteriſtik wirken will. Eine Nebenart nichtdurchcomponirter, ſondern einfach melodiſcher epiſch- lyriſcher Lieder, die Romanze, entſteht, wenn das epiſche Element in ihnen vorherrſcht, wenn das eigentlich Lyriſche, Weiche, Rührende zurücktritt und das Ganze mehr eine objectiv plaſtiſche Haltung hat, die auch in der Melodie ſich abſpiegelt. Die Romanze kann ernſter oder auch komiſcher Art ſein, aber in beiden Fällen tritt der lyriſche Ausdruck zurück, es iſt weniger auf Innigkeit, Wärme der Empfindung, als auf eine (wiewohl nicht ſpeziell malende) charakteriſtiſche Geſtaltung der Tonfolge abgeſehen, die dem rein Lyriſchen gegenüber das Gepräge der Ruhe, der Objectivität, des Anſich- haltens, wie um anzudeuten, daß erzählt werden ſoll, an ſich trägt, dem Inhalte aber deßungeachtet im Allgemeinen wohl entſpricht durch das Ge- präge des Ernſtes, der Bedeutſamkeit oder andrerſeits des Komiſchheitern, in das ſie ſich kleidet. Die Romanze ſchließt ſich nicht enger an den Text, ſie ſchlägt mehr den allgemeinern, ernſt gewichtigen oder burlesken Erzähler- ton an, der zum Bänkelſängertone herabſinkt, wenn aus der für die Romanze weſentlichen Zurückhaltung des Ausdrucks Ausdrucksloſigkeit, mechaniſche oder gar plumpe Recitation wird. Auch in die Inſtrumentalmuſik iſt die Romanze übergegangen; ſie bezeichnet hier dem Rondo verwandte Sätze mit kürzerem, leichtem, nicht auf Tiefe des Ausdrucks, ſondern auf klare, freie, wohl- gefällige Tonfolge abzweckendem melodiſchem Hauptſatz, der wie die Lieder- ſtrophe fortwährend in gleicher Weiſe, zuerſt ohne, ſodann mit Zwiſchen- ſätzen, die ſich allmälig erweitern und vermehren können, ſich wiederholt und endlich das Ganze abſchließt.

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Zitationshilfe: Vischer, Friedrich Theodor von: Ästhetik oder Wissenschaft des Schönen. Bd. 3,2,4. Stuttgart, 1857, S. 997. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/vischer_aesthetik030204_1857/235>, abgerufen am 21.11.2024.