volle Berechtigung. Das Gleichgewicht beider Elemente, des Inhalts und der Form, ist es, worauf die Schönheit der Musik entschieden beruht; nur freilich mit der nähern Bestimmung, daß sie doch mehr Musik bleibt beim Uebergewicht des formalen als bei dem des objectiv materialen Factors. Innerhalb der subjectiven Kunstform ist die Musik trotz aller ihrer Freiheit der Architectur gegenüber doch ähnlich wie diese an die Formschönheit gebunden, weil die eigenthümliche Beschaffenheit ihres Materials diese for- dert (S. 898), wogegen sie für die Darstellung des eigentlich Concreten nicht zureicht. Materiell schildern und so durch concreten Inhalt interessiren, wie Malerei und besonders Poesie, kann sie nun einmal nicht und sie ist nicht mehr sie selbst, sobald sie es versucht, wogegen sie doch wenigstens Musik und immer noch Bild des mannigfach bewegten Gefühlslebens bleibt, wenn sie einseitig melodisirt, harmonisirt, fugirt u. s. w.; die Trockenheit und Steifigkeit des Formalismus, die Fadheit und Seichtigkeit des Formen- cultus halten sich doch noch innerhalb der Grenzen der Musik selber, so lange jene nicht zu rein unacustischem und ausdruckslosem mathematischem Calcul, diese nicht zu leerem Geklingel ausartet, während alle Sachen- und Ideenmalerei, wo sie nicht vorübergehend eine Begründung durch besondere Umstände und Zwecke erhält, unmusikalisch frostig und hölzern oder unkünst- lerisch nebelhaft und dunkel ist. Der rhythmische Formeffect, der schon sehr nahe an den materialistischen Schalleffect streift und mit diesem gerne sich verbindet, ist freilich auch unmusikalisch, indem auch mit ihm dem Gehör und Gefühl nichts mehr geboten wird (S. 912). Das Gleichgewicht beider Elemente mit leisem Uebergewicht der Form als Hauptelementes der Musik ist das eigentlich Musikalische; interessanter, spannender, geistreicher und geistvoller nimmt das Uebergewicht eines ideellen oder eines scharf charak- teristischen, objectiven Inhalts sich freilich aus, aber die Gefahr des Ueber- schweifens über die Grenzen der Musik liegt dabei außerordentlich nahe, daher denn z. B. Beethoven nicht in Werken der letztern Art (wie in der großen Ouvertüre zu Leonore), sondern in denjenigen am bewundernswer- thesten ist, in welchen er das starke Hervortreten des Inhalts nicht zum Ueberwiegen werden läßt, sondern es, wie namentlich in der Cmoll- und Adur-Symphonie, aufwiegt durch streng systematische Form, reiche Themen- verarbeitung, fließende, anmuthige und frische Melodie, kurz durch eine rein musikalische Haltung des Ganzen, die alle Mittel der Musik erschöpfend gebraucht und doch innerhalb ihrer Schranken sich bewegt.
§. 793.
Die Entschiedenheit, mit welcher das musikalische Stylgesetz möglichstes Gleich- gewicht des Inhalts und der Form verlangt, schließt solche Stylarten nicht
volle Berechtigung. Das Gleichgewicht beider Elemente, des Inhalts und der Form, iſt es, worauf die Schönheit der Muſik entſchieden beruht; nur freilich mit der nähern Beſtimmung, daß ſie doch mehr Muſik bleibt beim Uebergewicht des formalen als bei dem des objectiv materialen Factors. Innerhalb der ſubjectiven Kunſtform iſt die Muſik trotz aller ihrer Freiheit der Architectur gegenüber doch ähnlich wie dieſe an die Formſchönheit gebunden, weil die eigenthümliche Beſchaffenheit ihres Materials dieſe for- dert (S. 898), wogegen ſie für die Darſtellung des eigentlich Concreten nicht zureicht. Materiell ſchildern und ſo durch concreten Inhalt intereſſiren, wie Malerei und beſonders Poeſie, kann ſie nun einmal nicht und ſie iſt nicht mehr ſie ſelbſt, ſobald ſie es verſucht, wogegen ſie doch wenigſtens Muſik und immer noch Bild des mannigfach bewegten Gefühlslebens bleibt, wenn ſie einſeitig melodiſirt, harmoniſirt, fugirt u. ſ. w.; die Trockenheit und Steifigkeit des Formaliſmus, die Fadheit und Seichtigkeit des Formen- cultus halten ſich doch noch innerhalb der Grenzen der Muſik ſelber, ſo lange jene nicht zu rein unacuſtiſchem und ausdrucksloſem mathematiſchem Calcul, dieſe nicht zu leerem Geklingel ausartet, während alle Sachen- und Ideenmalerei, wo ſie nicht vorübergehend eine Begründung durch beſondere Umſtände und Zwecke erhält, unmuſikaliſch froſtig und hölzern oder unkünſt- leriſch nebelhaft und dunkel iſt. Der rhythmiſche Formeffect, der ſchon ſehr nahe an den materialiſtiſchen Schalleffect ſtreift und mit dieſem gerne ſich verbindet, iſt freilich auch unmuſikaliſch, indem auch mit ihm dem Gehör und Gefühl nichts mehr geboten wird (S. 912). Das Gleichgewicht beider Elemente mit leiſem Uebergewicht der Form als Hauptelementes der Muſik iſt das eigentlich Muſikaliſche; intereſſanter, ſpannender, geiſtreicher und geiſtvoller nimmt das Uebergewicht eines ideellen oder eines ſcharf charak- teriſtiſchen, objectiven Inhalts ſich freilich aus, aber die Gefahr des Ueber- ſchweifens über die Grenzen der Muſik liegt dabei außerordentlich nahe, daher denn z. B. Beethoven nicht in Werken der letztern Art (wie in der großen Ouvertüre zu Leonore), ſondern in denjenigen am bewundernswer- theſten iſt, in welchen er das ſtarke Hervortreten des Inhalts nicht zum Ueberwiegen werden läßt, ſondern es, wie namentlich in der Cmoll- und Adur-Symphonie, aufwiegt durch ſtreng ſyſtematiſche Form, reiche Themen- verarbeitung, fließende, anmuthige und friſche Melodie, kurz durch eine rein muſikaliſche Haltung des Ganzen, die alle Mittel der Muſik erſchöpfend gebraucht und doch innerhalb ihrer Schranken ſich bewegt.
§. 793.
Die Entſchiedenheit, mit welcher das muſikaliſche Stylgeſetz möglichſtes Gleich- gewicht des Inhalts und der Form verlangt, ſchließt ſolche Stylarten nicht
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volle Berechtigung. Das Gleichgewicht beider Elemente, des Inhalts und
der Form, iſt es, worauf die Schönheit der Muſik entſchieden beruht; nur
freilich mit der nähern Beſtimmung, daß ſie doch mehr Muſik bleibt beim
Uebergewicht des formalen als bei dem des objectiv materialen Factors.
Innerhalb der ſubjectiven Kunſtform iſt die Muſik trotz aller ihrer Freiheit
der Architectur gegenüber doch ähnlich wie dieſe an die Formſchönheit
gebunden, weil die eigenthümliche Beſchaffenheit ihres Materials dieſe for-
dert (S. 898), wogegen ſie für die Darſtellung des eigentlich Concreten
nicht zureicht. Materiell ſchildern und ſo durch concreten Inhalt intereſſiren,
wie Malerei und beſonders Poeſie, kann ſie nun einmal nicht und ſie iſt
nicht mehr ſie ſelbſt, ſobald ſie es verſucht, wogegen ſie doch wenigſtens
Muſik und immer noch Bild des mannigfach bewegten Gefühlslebens bleibt,
wenn ſie einſeitig melodiſirt, harmoniſirt, fugirt u. ſ. w.; die Trockenheit
und Steifigkeit des Formaliſmus, die Fadheit und Seichtigkeit des Formen-
cultus halten ſich doch noch innerhalb der Grenzen der Muſik ſelber, ſo
lange jene nicht zu rein unacuſtiſchem und ausdrucksloſem mathematiſchem
Calcul, dieſe nicht zu leerem Geklingel ausartet, während alle Sachen- und
Ideenmalerei, wo ſie nicht vorübergehend eine Begründung durch beſondere
Umſtände und Zwecke erhält, unmuſikaliſch froſtig und hölzern oder unkünſt-
leriſch nebelhaft und dunkel iſt. Der rhythmiſche Formeffect, der ſchon ſehr
nahe an den materialiſtiſchen Schalleffect ſtreift und mit dieſem gerne ſich
verbindet, iſt freilich auch unmuſikaliſch, indem auch mit ihm dem Gehör
und Gefühl nichts mehr geboten wird (S. 912). Das Gleichgewicht beider
Elemente mit leiſem Uebergewicht der Form als Hauptelementes der Muſik
iſt das eigentlich Muſikaliſche; intereſſanter, ſpannender, geiſtreicher und
geiſtvoller nimmt das Uebergewicht eines ideellen oder eines ſcharf charak-
teriſtiſchen, objectiven Inhalts ſich freilich aus, aber die Gefahr des Ueber-
ſchweifens über die Grenzen der Muſik liegt dabei außerordentlich nahe,
daher denn z. B. Beethoven nicht in Werken der letztern Art (wie in der
großen Ouvertüre zu Leonore), ſondern in denjenigen am bewundernswer-
theſten iſt, in welchen er das ſtarke Hervortreten des Inhalts nicht zum
Ueberwiegen werden läßt, ſondern es, wie namentlich in der Cmoll- und
Adur-Symphonie, aufwiegt durch ſtreng ſyſtematiſche Form, reiche Themen-
verarbeitung, fließende, anmuthige und friſche Melodie, kurz durch eine rein
muſikaliſche Haltung des Ganzen, die alle Mittel der Muſik erſchöpfend
gebraucht und doch innerhalb ihrer Schranken ſich bewegt.
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Die Entſchiedenheit, mit welcher das muſikaliſche Stylgeſetz möglichſtes Gleich-
gewicht des Inhalts und der Form verlangt, ſchließt ſolche Stylarten nicht
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Vischer, Friedrich Theodor von: Ästhetik oder Wissenschaft des Schönen. Bd. 3,2,4. Stuttgart, 1857, S. 971. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/vischer_aesthetik030204_1857/209>, abgerufen am 21.11.2024.
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