der sich bewegen sieht, und sie darf ihn für's Zweite nur so mitmalen, daß die malenden Töne, Figuren doch zugleich, auch abgesehen von Dem was sie nachbilden, musikalisch, melodisch, harmonisch, rhythmisch, klar und schön sind. Was aber Charaktermalerei betrifft, so kann die Musik hier eher objectiv darstellen, weil die bestimmte Haltung eines Charakters sowie seine eigenthümlichen Stimmungen, Gefühle, Affecte, Leidenschaften nichts An- deres sind als Bewegungen, Erregungen, Spannungen, welche die Musik ausdrücken kann und welche gerade ihr eigenthümliches Gebiet ausmachen; aber sie darf sie nicht unmittelbar abformen und sie darf namentlich nicht etwa einzelne Tonfiguren bilden wollen, welche direct Zorn, Schmerz, Niedergedrückt- heit, Stolz und dergleichen wieder geben sollen, sondern sie muß immer in den ganzen Verlauf einer kürzern oder längern Tonbewegung eine Beschaffenheit, eine eigenthümliche Bewegtheit legen, welche jene Stimmungen veranschau- licht; einzelne Stiche, Stöße, Risse, Hebungen sind noch keine musikalische Schilderung von Empfindungen, Stimmungen, Aufwallungen, sie bilden dieselben, wie z. B. stechenden Schmerz, zerreißende Eifersucht, unmittelbar physisch, momentan mimisch nach, statt sie musikalisch, d. h. in der Form der Expansion in eine Zeitbewegung, die der Entwicklung der musikalischen Mittel (Melodie, Harmoniefolge, Contraste und Wechsel der Rhythmen und Tonstärken) Raum läßt, wiederzugeben. Der einfache Kanon für das musikalische Verfahren ist der: drückt die Musik unmittelbar ein Object aus, so daß wir es wiedererkennen, wie wenn wir es sähen oder hörten, so ist das falsche Tonmalerei, namentlich wenn gar keine spezifisch musikalische Wirkung mehr dabei ist; deutet sie ein Object blos an, so daß es ohne beglei- tendes Wort nicht klar ist, was gemeint sei, so ist die Malerei recht; ver- anschaulicht sie eine Stimmung, Empfindung, Leidenschaft blos durch einzelne Tonfiguren oder Klänge, so ist es wiederum verfehlt; gibt sie aber Ton- reihen und Tonstücken eine die Gemüthsbewegung nachbildende Bewegungs- eigenthümlichkeit (z. B. Schnelligkeit und Langsamkeit, An- und Abschwellen, intensive Spannung oder frohe Leichtigkeit, Vorwärtsgehen, -drängen, -stürmen u. s. w. vgl. S. 919), so ist das Verfahren das rechte. Es ist wenigstens in Zeiten, in welchen die allgemeinern Stoffe, Liebe, Sehnsucht u. dgl., schon erschöpft sind, sogar gut, wenn der Componist von bestimm- ten, durch Ereignisse, Naturanschauungen, Reflexionen über Glück und Un- glück u. s. w. hervorgerufenen Empfindungen ausgeht, um seine Phantasie durch solche bestimmte Empfindungen recht concret anzuregen, sie auf einen Empfindungskreis recht entschieden zu concentriren; aber in der Ausführung muß das Materielle zurücktreten und nur im Charakter der Empfindung selbst (z. B. in der Wehmuth) auch die Veranlassung (verlorenes Glück) mittelbar sich abspiegeln. Zugleich ist der obige Kanon noch durch eine weitere Regel zu ergänzen: mit Ausnahme einzelner Fälle, in welchen, wie
der ſich bewegen ſieht, und ſie darf ihn für’s Zweite nur ſo mitmalen, daß die malenden Töne, Figuren doch zugleich, auch abgeſehen von Dem was ſie nachbilden, muſikaliſch, melodiſch, harmoniſch, rhythmiſch, klar und ſchön ſind. Was aber Charaktermalerei betrifft, ſo kann die Muſik hier eher objectiv darſtellen, weil die beſtimmte Haltung eines Charakters ſowie ſeine eigenthümlichen Stimmungen, Gefühle, Affecte, Leidenſchaften nichts An- deres ſind als Bewegungen, Erregungen, Spannungen, welche die Muſik ausdrücken kann und welche gerade ihr eigenthümliches Gebiet ausmachen; aber ſie darf ſie nicht unmittelbar abformen und ſie darf namentlich nicht etwa einzelne Tonfiguren bilden wollen, welche direct Zorn, Schmerz, Niedergedrückt- heit, Stolz und dergleichen wieder geben ſollen, ſondern ſie muß immer in den ganzen Verlauf einer kürzern oder längern Tonbewegung eine Beſchaffenheit, eine eigenthümliche Bewegtheit legen, welche jene Stimmungen veranſchau- licht; einzelne Stiche, Stöße, Riſſe, Hebungen ſind noch keine muſikaliſche Schilderung von Empfindungen, Stimmungen, Aufwallungen, ſie bilden dieſelben, wie z. B. ſtechenden Schmerz, zerreißende Eiferſucht, unmittelbar phyſiſch, momentan mimiſch nach, ſtatt ſie muſikaliſch, d. h. in der Form der Expanſion in eine Zeitbewegung, die der Entwicklung der muſikaliſchen Mittel (Melodie, Harmoniefolge, Contraſte und Wechſel der Rhythmen und Tonſtärken) Raum läßt, wiederzugeben. Der einfache Kanon für das muſikaliſche Verfahren iſt der: drückt die Muſik unmittelbar ein Object aus, ſo daß wir es wiedererkennen, wie wenn wir es ſähen oder hörten, ſo iſt das falſche Tonmalerei, namentlich wenn gar keine ſpezifiſch muſikaliſche Wirkung mehr dabei iſt; deutet ſie ein Object blos an, ſo daß es ohne beglei- tendes Wort nicht klar iſt, was gemeint ſei, ſo iſt die Malerei recht; ver- anſchaulicht ſie eine Stimmung, Empfindung, Leidenſchaft blos durch einzelne Tonfiguren oder Klänge, ſo iſt es wiederum verfehlt; gibt ſie aber Ton- reihen und Tonſtücken eine die Gemüthsbewegung nachbildende Bewegungs- eigenthümlichkeit (z. B. Schnelligkeit und Langſamkeit, An- und Abſchwellen, intenſive Spannung oder frohe Leichtigkeit, Vorwärtsgehen, -drängen, -ſtürmen u. ſ. w. vgl. S. 919), ſo iſt das Verfahren das rechte. Es iſt wenigſtens in Zeiten, in welchen die allgemeinern Stoffe, Liebe, Sehnſucht u. dgl., ſchon erſchöpft ſind, ſogar gut, wenn der Componiſt von beſtimm- ten, durch Ereigniſſe, Naturanſchauungen, Reflexionen über Glück und Un- glück u. ſ. w. hervorgerufenen Empfindungen ausgeht, um ſeine Phantaſie durch ſolche beſtimmte Empfindungen recht concret anzuregen, ſie auf einen Empfindungskreis recht entſchieden zu concentriren; aber in der Ausführung muß das Materielle zurücktreten und nur im Charakter der Empfindung ſelbſt (z. B. in der Wehmuth) auch die Veranlaſſung (verlorenes Glück) mittelbar ſich abſpiegeln. Zugleich iſt der obige Kanon noch durch eine weitere Regel zu ergänzen: mit Ausnahme einzelner Fälle, in welchen, wie
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[968/0206]
der ſich bewegen ſieht, und ſie darf ihn für’s Zweite nur ſo mitmalen, daß
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ſie nachbilden, muſikaliſch, melodiſch, harmoniſch, rhythmiſch, klar und ſchön
ſind. Was aber Charaktermalerei betrifft, ſo kann die Muſik hier eher
objectiv darſtellen, weil die beſtimmte Haltung eines Charakters ſowie ſeine
eigenthümlichen Stimmungen, Gefühle, Affecte, Leidenſchaften nichts An-
deres ſind als Bewegungen, Erregungen, Spannungen, welche die Muſik
ausdrücken kann und welche gerade ihr eigenthümliches Gebiet ausmachen;
aber ſie darf ſie nicht unmittelbar abformen und ſie darf namentlich nicht etwa
einzelne Tonfiguren bilden wollen, welche direct Zorn, Schmerz, Niedergedrückt-
heit, Stolz und dergleichen wieder geben ſollen, ſondern ſie muß immer in den
ganzen Verlauf einer kürzern oder längern Tonbewegung eine Beſchaffenheit,
eine eigenthümliche Bewegtheit legen, welche jene Stimmungen veranſchau-
licht; einzelne Stiche, Stöße, Riſſe, Hebungen ſind noch keine muſikaliſche
Schilderung von Empfindungen, Stimmungen, Aufwallungen, ſie bilden
dieſelben, wie z. B. ſtechenden Schmerz, zerreißende Eiferſucht, unmittelbar
phyſiſch, momentan mimiſch nach, ſtatt ſie muſikaliſch, d. h. in der Form
der Expanſion in eine Zeitbewegung, die der Entwicklung der muſikaliſchen
Mittel (Melodie, Harmoniefolge, Contraſte und Wechſel der Rhythmen und
Tonſtärken) Raum läßt, wiederzugeben. Der einfache Kanon für das
muſikaliſche Verfahren iſt der: drückt die Muſik unmittelbar ein Object aus,
ſo daß wir es wiedererkennen, wie wenn wir es ſähen oder hörten, ſo iſt
das falſche Tonmalerei, namentlich wenn gar keine ſpezifiſch muſikaliſche
Wirkung mehr dabei iſt; deutet ſie ein Object blos an, ſo daß es ohne beglei-
tendes Wort nicht klar iſt, was gemeint ſei, ſo iſt die Malerei recht; ver-
anſchaulicht ſie eine Stimmung, Empfindung, Leidenſchaft blos durch einzelne
Tonfiguren oder Klänge, ſo iſt es wiederum verfehlt; gibt ſie aber Ton-
reihen und Tonſtücken eine die Gemüthsbewegung nachbildende Bewegungs-
eigenthümlichkeit (z. B. Schnelligkeit und Langſamkeit, An- und Abſchwellen,
intenſive Spannung oder frohe Leichtigkeit, Vorwärtsgehen, -drängen,
-ſtürmen u. ſ. w. vgl. S. 919), ſo iſt das Verfahren das rechte. Es iſt
wenigſtens in Zeiten, in welchen die allgemeinern Stoffe, Liebe, Sehnſucht
u. dgl., ſchon erſchöpft ſind, ſogar gut, wenn der Componiſt von beſtimm-
ten, durch Ereigniſſe, Naturanſchauungen, Reflexionen über Glück und Un-
glück u. ſ. w. hervorgerufenen Empfindungen ausgeht, um ſeine Phantaſie
durch ſolche beſtimmte Empfindungen recht concret anzuregen, ſie auf einen
Empfindungskreis recht entſchieden zu concentriren; aber in der Ausführung
muß das Materielle zurücktreten und nur im Charakter der Empfindung
ſelbſt (z. B. in der Wehmuth) auch die Veranlaſſung (verlorenes Glück)
mittelbar ſich abſpiegeln. Zugleich iſt der obige Kanon noch durch eine
weitere Regel zu ergänzen: mit Ausnahme einzelner Fälle, in welchen, wie
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Vischer, Friedrich Theodor von: Ästhetik oder Wissenschaft des Schönen. Bd. 3,2,4. Stuttgart, 1857, S. 968. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/vischer_aesthetik030204_1857/206>, abgerufen am 05.12.2024.
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