tritt sie nun wieder hervor in der Kunstform der freien Gedankenentwicklung (auch die Form der Evolution könnte man sie nennen), welche jene Zwei- theiligkeit in großartigerem Maaßstab wieder anwendet, um innerhalb dieses Rahmens eine die Prinzipien des Rondo's und der Variation, sowie nach Umständen auch die der Polyphonie in sich verschmelzende höhere Com- positionsgattung hervorzubringen. Es fallen unter dieselbe sowohl Gesang- stücke von größerem Umfange, Arien, die nach dem ersten Theile zu con- creterer Verarbeitung der Hauptgedanken fortschreiten, als besonders Instru- mentalstücke, Sonaten- und Symphoniesätze, Ouvertüren u. s. w. Die Evolutionsform ist geradezu die höchste Form der Composition, sie ist die der Urform nächste und darum klarste und anschaulichste, bestgegliederte, und sie ist zugleich die concreteste, entwicklungsfähigste, zur Aufnahme aller andern Formprinzipien in sich geeignetste Musik. Sie ist ihrem ganzen Plane nach durchaus einfach übersichtliche zweitheilige Melodie, nur daß sie die Perioden der Theile zu größern Hauptsätzen erweitert, Neben- und Zwischensätze zwischen diese einschiebt und den zweiten Theil mit mannig- faltigen Umgestaltungen des ersten bereichert, die dem Ganzen mehr Be- wegungsrhythmus verleihen als die Melodie für sich es vermöchte; sie ist ebenso, im Einzelnen betrachtet, erweiternd wie das Rondo, entwickelnd wie die Variation, combinirend wie die Polyphonie, indem sie namentlich zum Behuf ihrer thematischen Ausführungen Stimmenverflechtung, Contrapunct, Nachahmung, Fugirung anwendet; sie hat ferner vor allen diesen Formen theils die Mannigfaltigkeit voraus, theils die Freiheit, sie wiederholt nicht einseitig wie das Rondo, stellt nicht wie dieses blos Nebensätze zum Haupt- satz hin, sondern hat eine wirkliche Mehrheit selbständiger und doch innerlich zusammengehöriger Sätze, sie hat eine in wirkliche Mannigfaltigkeit aus- einandergehende, nicht abstracte Einheit, sie gebraucht die Formen der Po- lyphonie ganz ungebunden, so lange und wie sie will, ohne an ein abstractes Formgesetz sich zu kehren und so das Formelle zur Hauptsache zu machen; endlich thut sie "in der Regel," d. h. da wo sie sich ganz vollständig in ihrer ganzen Eigenthümlichkeit und namentlich in ihrem spezifischen Unter- schied von der Rondoform entwickelt, zu dem allen noch Eines hinzu, die Ausweitung und Ausarbeitung kleinerer Perioden, Sätze und Satzglieder (Motive) zu größern Sätzen, was auch wieder nur eine spezielle Art von Evolution, Herausentwicklung größerer Gedanken aus kleinern ist. Das Genauere namentlich über diesen letztern Punct muß jedoch der Lehre von den Musikzweigen vorbehalten bleiben, weil diese Form so mannigfache, erst in den einzelnen Zweigen besonders der Instrumentalmusik spezifisch hervor- tretende Unterarten in sich schließt, daß eine schon hier genauer als der §. auf das Einzelne eingehende Besprechung dem später zu Sagenden unpassend vorgreifen würde.
tritt ſie nun wieder hervor in der Kunſtform der freien Gedankenentwicklung (auch die Form der Evolution könnte man ſie nennen), welche jene Zwei- theiligkeit in großartigerem Maaßſtab wieder anwendet, um innerhalb dieſes Rahmens eine die Prinzipien des Rondo’s und der Variation, ſowie nach Umſtänden auch die der Polyphonie in ſich verſchmelzende höhere Com- poſitionsgattung hervorzubringen. Es fallen unter dieſelbe ſowohl Geſang- ſtücke von größerem Umfange, Arien, die nach dem erſten Theile zu con- creterer Verarbeitung der Hauptgedanken fortſchreiten, als beſonders Inſtru- mentalſtücke, Sonaten- und Symphonieſätze, Ouvertüren u. ſ. w. Die Evolutionsform iſt geradezu die höchſte Form der Compoſition, ſie iſt die der Urform nächſte und darum klarſte und anſchaulichſte, beſtgegliederte, und ſie iſt zugleich die concreteſte, entwicklungsfähigſte, zur Aufnahme aller andern Formprinzipien in ſich geeignetſte Muſik. Sie iſt ihrem ganzen Plane nach durchaus einfach überſichtliche zweitheilige Melodie, nur daß ſie die Perioden der Theile zu größern Hauptſätzen erweitert, Neben- und Zwiſchenſätze zwiſchen dieſe einſchiebt und den zweiten Theil mit mannig- faltigen Umgeſtaltungen des erſten bereichert, die dem Ganzen mehr Be- wegungsrhythmus verleihen als die Melodie für ſich es vermöchte; ſie iſt ebenſo, im Einzelnen betrachtet, erweiternd wie das Rondo, entwickelnd wie die Variation, combinirend wie die Polyphonie, indem ſie namentlich zum Behuf ihrer thematiſchen Ausführungen Stimmenverflechtung, Contrapunct, Nachahmung, Fugirung anwendet; ſie hat ferner vor allen dieſen Formen theils die Mannigfaltigkeit voraus, theils die Freiheit, ſie wiederholt nicht einſeitig wie das Rondo, ſtellt nicht wie dieſes blos Nebenſätze zum Haupt- ſatz hin, ſondern hat eine wirkliche Mehrheit ſelbſtändiger und doch innerlich zuſammengehöriger Sätze, ſie hat eine in wirkliche Mannigfaltigkeit aus- einandergehende, nicht abſtracte Einheit, ſie gebraucht die Formen der Po- lyphonie ganz ungebunden, ſo lange und wie ſie will, ohne an ein abſtractes Formgeſetz ſich zu kehren und ſo das Formelle zur Hauptſache zu machen; endlich thut ſie „in der Regel,“ d. h. da wo ſie ſich ganz vollſtändig in ihrer ganzen Eigenthümlichkeit und namentlich in ihrem ſpezifiſchen Unter- ſchied von der Rondoform entwickelt, zu dem allen noch Eines hinzu, die Ausweitung und Ausarbeitung kleinerer Perioden, Sätze und Satzglieder (Motive) zu größern Sätzen, was auch wieder nur eine ſpezielle Art von Evolution, Herausentwicklung größerer Gedanken aus kleinern iſt. Das Genauere namentlich über dieſen letztern Punct muß jedoch der Lehre von den Muſikzweigen vorbehalten bleiben, weil dieſe Form ſo mannigfache, erſt in den einzelnen Zweigen beſonders der Inſtrumentalmuſik ſpezifiſch hervor- tretende Unterarten in ſich ſchließt, daß eine ſchon hier genauer als der §. auf das Einzelne eingehende Beſprechung dem ſpäter zu Sagenden unpaſſend vorgreifen würde.
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tritt ſie nun wieder hervor in der Kunſtform der freien Gedankenentwicklung
(auch die Form der Evolution könnte man ſie nennen), welche jene Zwei-
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Rahmens eine die Prinzipien des Rondo’s und der Variation, ſowie nach
Umſtänden auch die der Polyphonie in ſich verſchmelzende höhere Com-
poſitionsgattung hervorzubringen. Es fallen unter dieſelbe ſowohl Geſang-
ſtücke von größerem Umfange, Arien, die nach dem erſten Theile zu con-
creterer Verarbeitung der Hauptgedanken fortſchreiten, als beſonders Inſtru-
mentalſtücke, Sonaten- und Symphonieſätze, Ouvertüren u. ſ. w. Die
Evolutionsform iſt geradezu die höchſte Form der Compoſition, ſie iſt die
der Urform nächſte und darum klarſte und anſchaulichſte, beſtgegliederte, und
ſie iſt zugleich die concreteſte, entwicklungsfähigſte, zur Aufnahme aller
andern Formprinzipien in ſich geeignetſte Muſik. Sie iſt ihrem ganzen
Plane nach durchaus einfach überſichtliche zweitheilige Melodie, nur daß
ſie die Perioden der Theile zu größern Hauptſätzen erweitert, Neben- und
Zwiſchenſätze zwiſchen dieſe einſchiebt und den zweiten Theil mit mannig-
faltigen Umgeſtaltungen des erſten bereichert, die dem Ganzen mehr Be-
wegungsrhythmus verleihen als die Melodie für ſich es vermöchte; ſie iſt
ebenſo, im Einzelnen betrachtet, erweiternd wie das Rondo, entwickelnd wie
die Variation, combinirend wie die Polyphonie, indem ſie namentlich zum
Behuf ihrer thematiſchen Ausführungen Stimmenverflechtung, Contrapunct,
Nachahmung, Fugirung anwendet; ſie hat ferner vor allen dieſen Formen
theils die Mannigfaltigkeit voraus, theils die Freiheit, ſie wiederholt nicht
einſeitig wie das Rondo, ſtellt nicht wie dieſes blos Nebenſätze zum Haupt-
ſatz hin, ſondern hat eine wirkliche Mehrheit ſelbſtändiger und doch innerlich
zuſammengehöriger Sätze, ſie hat eine in wirkliche Mannigfaltigkeit aus-
einandergehende, nicht abſtracte Einheit, ſie gebraucht die Formen der Po-
lyphonie ganz ungebunden, ſo lange und wie ſie will, ohne an ein abſtractes
Formgeſetz ſich zu kehren und ſo das Formelle zur Hauptſache zu machen;
endlich thut ſie „in der Regel,“ d. h. da wo ſie ſich ganz vollſtändig in
ihrer ganzen Eigenthümlichkeit und namentlich in ihrem ſpezifiſchen Unter-
ſchied von der Rondoform entwickelt, zu dem allen noch Eines hinzu, die
Ausweitung und Ausarbeitung kleinerer Perioden, Sätze und Satzglieder
(Motive) zu größern Sätzen, was auch wieder nur eine ſpezielle Art von
Evolution, Herausentwicklung größerer Gedanken aus kleinern iſt. Das
Genauere namentlich über dieſen letztern Punct muß jedoch der Lehre von
den Muſikzweigen vorbehalten bleiben, weil dieſe Form ſo mannigfache, erſt
in den einzelnen Zweigen beſonders der Inſtrumentalmuſik ſpezifiſch hervor-
tretende Unterarten in ſich ſchließt, daß eine ſchon hier genauer als der §.
auf das Einzelne eingehende Beſprechung dem ſpäter zu Sagenden unpaſſend
vorgreifen würde.
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Vischer, Friedrich Theodor von: Ästhetik oder Wissenschaft des Schönen. Bd. 3,2,4. Stuttgart, 1857, S. 961. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/vischer_aesthetik030204_1857/199>, abgerufen am 05.12.2024.
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