Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Vischer, Friedrich Theodor von: Ästhetik oder Wissenschaft des Schönen. Bd. 3,2,4. Stuttgart, 1857.

Bild:
<< vorherige Seite

Tonstückes oder einzelner Theile desselben; die beiderseitigen Momente können
entweder zu Einem Zwecke, zu erhöhter Schnelligkeit oder (wie in einem
Chorgesange) zu absoluter, maaßvoller, schwerwiegender Langsamkeit zu-
sammenwirken, oder können sie in Gegensatz zu einander treten, indem
beschleunigterem Tempo langsamere, gehaltenerem Tempo schnellere Fort-
bewegung der Taktglieder gegenübertritt; im erstern dieser letztgenannten
Fälle hat die Geschwindigkeit doch zugleich einen Charakter der Ruhe, sie
ist eine muntere, rüstige, kräftige, nicht aber ungestüm eilende Schnelligkeit,
wogegen beim zweiten Falle die langsame Gesammtbewegung des Stücks
durch die in einzelnen Takten eintretende schnellere Theilbewegung kurz-
gliedriger gemacht oder "figurirt" und durch diese leicht dahingehenden
Figuren ihres ruhigen Ganges ungeachtet belebt wird, wie ein ruhig hin-
wallender Strom durch leichtes Wellengekräusel, das an seiner Oberfläche
spielt. In diesen Combinationen des Tempo und des Rhythmus das
Richtige zu treffen, namentlich in längern Tonstücken passend mit ihnen zu
wechseln, im Adagio nicht zu wenig und nicht zu viel zu figuriren, im
Allegro nicht durch einseitige Beschleunigung (besonders in Läufen) aus-
druckslos zu werden, überhaupt im Tonfall alles Mechanische, Charakter-
lose, Plumpe zu vermeiden und alle Schönheit zu benützen, die ihm ab-
gewonnen werden kann, ist eine Hauptaufgabe der Composition, an deren
befriedigender Lösung es sich namentlich erprobt, ob der Tonsetzer mit freiem
Blick das Tonmaterial zu beherrschen und ihm auch in diesen feinsten und
abstractesten Beziehungen eine von künstlerischem Geiste eingegebene Ge-
staltung zu verleihen vermag.

§. 777.

Die allgemeine Bedeutung des rhythmischen Elements für die Musik ist1.
eine dreifache: es gibt der Bewegung Ordnung und Klarheit; es bestimmt den
Bewegungscharakter des Tonwerks in eigenthümlicher Weise; und es verleiht
demselben eine in aller mathematischen Gesetzmäßigkeit höchst mannigfache und
kunstvolle Gliederung, die sich sowohl auf die Zeitdauer der Töne in ihrem
Racheinander, als auf die Zusammenordnung gleichzeitiger Töne bezieht. Eine2.
falsche Stellung erhält die Rhythmik, wenn sie zur Hauptsache gemacht wird,
indem hiedurch die abstract formelle Seite der Musik einseitig hervortritt und
so das eigentlich Musikalische verloren geht.

1. Der erste Satz des §. faßt die der Sache nach schon im Früheren
enthaltenen allgemeinen Momente in Eins zusammen, um daran die Er-
örterung der allgemeinen Bedeutung des Rhythmus für das Wesen der
Musik anzuknüpfen. Der geregelte Rhythmus ist kurz gesagt das archi-

Tonſtückes oder einzelner Theile deſſelben; die beiderſeitigen Momente können
entweder zu Einem Zwecke, zu erhöhter Schnelligkeit oder (wie in einem
Chorgeſange) zu abſoluter, maaßvoller, ſchwerwiegender Langſamkeit zu-
ſammenwirken, oder können ſie in Gegenſatz zu einander treten, indem
beſchleunigterem Tempo langſamere, gehaltenerem Tempo ſchnellere Fort-
bewegung der Taktglieder gegenübertritt; im erſtern dieſer letztgenannten
Fälle hat die Geſchwindigkeit doch zugleich einen Charakter der Ruhe, ſie
iſt eine muntere, rüſtige, kräftige, nicht aber ungeſtüm eilende Schnelligkeit,
wogegen beim zweiten Falle die langſame Geſammtbewegung des Stücks
durch die in einzelnen Takten eintretende ſchnellere Theilbewegung kurz-
gliedriger gemacht oder „figurirt“ und durch dieſe leicht dahingehenden
Figuren ihres ruhigen Ganges ungeachtet belebt wird, wie ein ruhig hin-
wallender Strom durch leichtes Wellengekräuſel, das an ſeiner Oberfläche
ſpielt. In dieſen Combinationen des Tempo und des Rhythmus das
Richtige zu treffen, namentlich in längern Tonſtücken paſſend mit ihnen zu
wechſeln, im Adagio nicht zu wenig und nicht zu viel zu figuriren, im
Allegro nicht durch einſeitige Beſchleunigung (beſonders in Läufen) aus-
druckslos zu werden, überhaupt im Tonfall alles Mechaniſche, Charakter-
loſe, Plumpe zu vermeiden und alle Schönheit zu benützen, die ihm ab-
gewonnen werden kann, iſt eine Hauptaufgabe der Compoſition, an deren
befriedigender Löſung es ſich namentlich erprobt, ob der Tonſetzer mit freiem
Blick das Tonmaterial zu beherrſchen und ihm auch in dieſen feinſten und
abſtracteſten Beziehungen eine von künſtleriſchem Geiſte eingegebene Ge-
ſtaltung zu verleihen vermag.

§. 777.

Die allgemeine Bedeutung des rhythmiſchen Elements für die Muſik iſt1.
eine dreifache: es gibt der Bewegung Ordnung und Klarheit; es beſtimmt den
Bewegungscharakter des Tonwerks in eigenthümlicher Weiſe; und es verleiht
demſelben eine in aller mathematiſchen Geſetzmäßigkeit höchſt mannigfache und
kunſtvolle Gliederung, die ſich ſowohl auf die Zeitdauer der Töne in ihrem
Racheinander, als auf die Zuſammenordnung gleichzeitiger Töne bezieht. Eine2.
falſche Stellung erhält die Rhythmik, wenn ſie zur Hauptſache gemacht wird,
indem hiedurch die abſtract formelle Seite der Muſik einſeitig hervortritt und
ſo das eigentlich Muſikaliſche verloren geht.

1. Der erſte Satz des §. faßt die der Sache nach ſchon im Früheren
enthaltenen allgemeinen Momente in Eins zuſammen, um daran die Er-
örterung der allgemeinen Bedeutung des Rhythmus für das Weſen der
Muſik anzuknüpfen. Der geregelte Rhythmus iſt kurz geſagt das archi-

<TEI>
  <text>
    <body>
      <div n="1">
        <div n="2">
          <div n="3">
            <div n="4">
              <p> <hi rendition="#et"><pb facs="#f0147" n="909"/>
Ton&#x017F;tückes oder einzelner Theile de&#x017F;&#x017F;elben; die beider&#x017F;eitigen Momente können<lb/>
entweder zu Einem Zwecke, zu erhöhter Schnelligkeit oder (wie in einem<lb/>
Chorge&#x017F;ange) zu ab&#x017F;oluter, maaßvoller, &#x017F;chwerwiegender Lang&#x017F;amkeit zu-<lb/>
&#x017F;ammenwirken, oder können &#x017F;ie in Gegen&#x017F;atz zu einander treten, indem<lb/>
be&#x017F;chleunigterem Tempo lang&#x017F;amere, gehaltenerem Tempo &#x017F;chnellere Fort-<lb/>
bewegung der Taktglieder gegenübertritt; im er&#x017F;tern die&#x017F;er letztgenannten<lb/>
Fälle hat die Ge&#x017F;chwindigkeit doch zugleich einen Charakter der Ruhe, &#x017F;ie<lb/>
i&#x017F;t eine muntere, rü&#x017F;tige, kräftige, nicht aber unge&#x017F;tüm eilende Schnelligkeit,<lb/>
wogegen beim zweiten Falle die lang&#x017F;ame Ge&#x017F;ammtbewegung des Stücks<lb/>
durch die in einzelnen Takten eintretende &#x017F;chnellere Theilbewegung kurz-<lb/>
gliedriger gemacht oder &#x201E;figurirt&#x201C; und durch die&#x017F;e leicht dahingehenden<lb/>
Figuren ihres ruhigen Ganges ungeachtet belebt wird, wie ein ruhig hin-<lb/>
wallender Strom durch leichtes Wellengekräu&#x017F;el, das an &#x017F;einer Oberfläche<lb/>
&#x017F;pielt. In die&#x017F;en Combinationen des Tempo und des Rhythmus das<lb/>
Richtige zu treffen, namentlich in längern Ton&#x017F;tücken pa&#x017F;&#x017F;end mit ihnen zu<lb/>
wech&#x017F;eln, im Adagio nicht zu wenig und nicht zu viel zu figuriren, im<lb/>
Allegro nicht durch ein&#x017F;eitige Be&#x017F;chleunigung (be&#x017F;onders in Läufen) aus-<lb/>
druckslos zu werden, überhaupt im Tonfall alles Mechani&#x017F;che, Charakter-<lb/>
lo&#x017F;e, Plumpe zu vermeiden und alle Schönheit zu benützen, die ihm ab-<lb/>
gewonnen werden kann, i&#x017F;t eine Hauptaufgabe der Compo&#x017F;ition, an deren<lb/>
befriedigender Lö&#x017F;ung es &#x017F;ich namentlich erprobt, ob der Ton&#x017F;etzer mit freiem<lb/>
Blick das Tonmaterial zu beherr&#x017F;chen und ihm auch in die&#x017F;en fein&#x017F;ten und<lb/>
ab&#x017F;tracte&#x017F;ten Beziehungen eine von kün&#x017F;tleri&#x017F;chem Gei&#x017F;te eingegebene Ge-<lb/>
&#x017F;taltung zu verleihen vermag.</hi> </p>
            </div><lb/>
            <div n="4">
              <head>§. 777.</head><lb/>
              <p> <hi rendition="#fr">Die allgemeine Bedeutung des rhythmi&#x017F;chen Elements für die Mu&#x017F;ik i&#x017F;t<note place="right">1.</note><lb/>
eine dreifache: es gibt der Bewegung Ordnung und Klarheit; es be&#x017F;timmt den<lb/>
Bewegungscharakter des Tonwerks in eigenthümlicher Wei&#x017F;e; und es verleiht<lb/>
dem&#x017F;elben eine in aller mathemati&#x017F;chen Ge&#x017F;etzmäßigkeit höch&#x017F;t mannigfache und<lb/>
kun&#x017F;tvolle Gliederung, die &#x017F;ich &#x017F;owohl auf die Zeitdauer der Töne in ihrem<lb/>
Racheinander, als auf die Zu&#x017F;ammenordnung gleichzeitiger Töne bezieht. Eine<note place="right">2.</note><lb/>
fal&#x017F;che Stellung erhält die Rhythmik, wenn &#x017F;ie zur Haupt&#x017F;ache gemacht wird,<lb/>
indem hiedurch die ab&#x017F;tract formelle Seite der Mu&#x017F;ik ein&#x017F;eitig hervortritt und<lb/>
&#x017F;o das eigentlich Mu&#x017F;ikali&#x017F;che verloren geht.</hi> </p><lb/>
              <p> <hi rendition="#et">1. Der er&#x017F;te Satz des §. faßt die der Sache nach &#x017F;chon im Früheren<lb/>
enthaltenen allgemeinen Momente in Eins zu&#x017F;ammen, um daran die Er-<lb/>
örterung der allgemeinen Bedeutung des Rhythmus für das We&#x017F;en der<lb/>
Mu&#x017F;ik anzuknüpfen. Der geregelte Rhythmus i&#x017F;t kurz ge&#x017F;agt das <hi rendition="#g">archi-<lb/></hi></hi> </p>
            </div>
          </div>
        </div>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[909/0147] Tonſtückes oder einzelner Theile deſſelben; die beiderſeitigen Momente können entweder zu Einem Zwecke, zu erhöhter Schnelligkeit oder (wie in einem Chorgeſange) zu abſoluter, maaßvoller, ſchwerwiegender Langſamkeit zu- ſammenwirken, oder können ſie in Gegenſatz zu einander treten, indem beſchleunigterem Tempo langſamere, gehaltenerem Tempo ſchnellere Fort- bewegung der Taktglieder gegenübertritt; im erſtern dieſer letztgenannten Fälle hat die Geſchwindigkeit doch zugleich einen Charakter der Ruhe, ſie iſt eine muntere, rüſtige, kräftige, nicht aber ungeſtüm eilende Schnelligkeit, wogegen beim zweiten Falle die langſame Geſammtbewegung des Stücks durch die in einzelnen Takten eintretende ſchnellere Theilbewegung kurz- gliedriger gemacht oder „figurirt“ und durch dieſe leicht dahingehenden Figuren ihres ruhigen Ganges ungeachtet belebt wird, wie ein ruhig hin- wallender Strom durch leichtes Wellengekräuſel, das an ſeiner Oberfläche ſpielt. In dieſen Combinationen des Tempo und des Rhythmus das Richtige zu treffen, namentlich in längern Tonſtücken paſſend mit ihnen zu wechſeln, im Adagio nicht zu wenig und nicht zu viel zu figuriren, im Allegro nicht durch einſeitige Beſchleunigung (beſonders in Läufen) aus- druckslos zu werden, überhaupt im Tonfall alles Mechaniſche, Charakter- loſe, Plumpe zu vermeiden und alle Schönheit zu benützen, die ihm ab- gewonnen werden kann, iſt eine Hauptaufgabe der Compoſition, an deren befriedigender Löſung es ſich namentlich erprobt, ob der Tonſetzer mit freiem Blick das Tonmaterial zu beherrſchen und ihm auch in dieſen feinſten und abſtracteſten Beziehungen eine von künſtleriſchem Geiſte eingegebene Ge- ſtaltung zu verleihen vermag. §. 777. Die allgemeine Bedeutung des rhythmiſchen Elements für die Muſik iſt eine dreifache: es gibt der Bewegung Ordnung und Klarheit; es beſtimmt den Bewegungscharakter des Tonwerks in eigenthümlicher Weiſe; und es verleiht demſelben eine in aller mathematiſchen Geſetzmäßigkeit höchſt mannigfache und kunſtvolle Gliederung, die ſich ſowohl auf die Zeitdauer der Töne in ihrem Racheinander, als auf die Zuſammenordnung gleichzeitiger Töne bezieht. Eine falſche Stellung erhält die Rhythmik, wenn ſie zur Hauptſache gemacht wird, indem hiedurch die abſtract formelle Seite der Muſik einſeitig hervortritt und ſo das eigentlich Muſikaliſche verloren geht. 1. Der erſte Satz des §. faßt die der Sache nach ſchon im Früheren enthaltenen allgemeinen Momente in Eins zuſammen, um daran die Er- örterung der allgemeinen Bedeutung des Rhythmus für das Weſen der Muſik anzuknüpfen. Der geregelte Rhythmus iſt kurz geſagt das archi-

Suche im Werk

Hilfe

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)
XML (TEI P5 inkl. att.linguistic)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Voyant Tools ?

Language Resource Switchboard?

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde gemäß den DTA-Transkriptionsrichtlinien im Double-Keying-Verfahren von Nicht-Muttersprachlern erfasst und in XML/TEI P5 nach DTA-Basisformat kodiert.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/vischer_aesthetik030204_1857
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/vischer_aesthetik030204_1857/147
Zitationshilfe: Vischer, Friedrich Theodor von: Ästhetik oder Wissenschaft des Schönen. Bd. 3,2,4. Stuttgart, 1857, S. 909. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/vischer_aesthetik030204_1857/147>, abgerufen am 25.11.2024.