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Vischer, Friedrich Theodor von: Ästhetik oder Wissenschaft des Schönen. Bd. 3,2,4. Stuttgart, 1857.

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sind sehr verschiedene Dinge, -- sondern sie ist begründet durch das innigere
und tiefere deutsche Gemüth, das weicher, voller, umfassender angeregt sein
will als durch bloße Melodie. Die Melodie ist freilich Anfang und Ende
aller Musik, mit ihr steht und fällt die Musik, was von der Harmonie
nicht gesagt werden kann, aber sie ist eben nur der Anfang, das primitiv
Einfache, das eine Erfüllung durch Harmonie fordert, und nur das Ende,
nur das Resultat, das nur dann festen Halt, klaren und motivirten Gang
gewinnen kann, wenn es aus der Harmonie und ihrer Folge wie die
Blüthe aus Stamm und Zweigen emporwächst und von ihr getragen wird.
Harmonische Musik ist ein Bild der ideedurchdrungenen Welt, des ganzen
großartig nach allen Dimensionen sich ausbreitenden, nach allen Richtungen
fest und schön in sich zusammenhängenden und geordneten, überall concrete
Einzelgestaltungen aus seinem Schooße an die Oberfläche hervortreibenden
Universums; die Melodie ist die Einzelgestalt, die Harmonie das Ganze,
auf dem sie ruht und dessen Theil und Glied sie ist; nur der vom Ganzen
losgerissene, einsam in sich selbst zurückgezogene, und damit doch zugleich
des wahren individuellen Lebens, der unendlich empfänglichen, sich im
Ganzen und das Ganze in sich fühlenden Gemüthstiefe verlustig gegangene
Geist war im Stande, in der Melodie, in der frei in Lüften schwebenden,
die einzig wahre Musik erkennen zu wollen.

§. 776.

1.

Die Musik als Bewegung in der Zeit bedarf für ihre einzelnen Töne
eine bestimmte, größere oder kleinere Zeitdauer, zwischen deren Maximum und
Minimum eine Reihe der verschiedensten Tonzeitmaaße liegt. Das Zeitmaaß der
einzelnen Töne ist innerhalb eines Tonganzen entweder ein durchgehends iden-
tisches, oder müssen, wenn das Tonganze Töne von verschiedener Zeitdauer
(entweder nacheinander oder gleichzeitig) enthält, die Zeitmaaße seiner Töne
wenigstens gleichartige, proportionale Zeitmaaße sein, die sich durch numerische
Theilung auf ein gleiches Grundmaaß zurückführen lassen. Die aus diesem
Verhältniß der Identität oder Proportionalität der Tonzeitmaaße resultirende
geregelte Bewegung der Tonreihe und ihrer einzelnen Glieder ist ihr Rhythmus.
Die Regelmäßigkeit des Rhythmus wird vollendet und damit feste Ordnung und
klare Gliederung in die Gesammtbewegung der Tonreihe gebracht durch den
Takt, durch den Aufbau des Ganzen in stetig auf einander folgenden kleinen
Zeitabschnitten von durchaus gleicher Dauer und von durchaus gleichem Zeitmaaß
ihrer einzelnen Glieder, welchem als beherrschendem Grundmaaß die verschie-
denen Zeitlängen der einzelnen Töne des Abschnitts entweder direct entsprechen
2. oder indirect proportional sich unterordnen. Richt minder wesentlich als geregeltes
Zeitmaaß ist für die musikalisch rhythmische Bewegung die Belebtheit, die in sie

ſind ſehr verſchiedene Dinge, — ſondern ſie iſt begründet durch das innigere
und tiefere deutſche Gemüth, das weicher, voller, umfaſſender angeregt ſein
will als durch bloße Melodie. Die Melodie iſt freilich Anfang und Ende
aller Muſik, mit ihr ſteht und fällt die Muſik, was von der Harmonie
nicht geſagt werden kann, aber ſie iſt eben nur der Anfang, das primitiv
Einfache, das eine Erfüllung durch Harmonie fordert, und nur das Ende,
nur das Reſultat, das nur dann feſten Halt, klaren und motivirten Gang
gewinnen kann, wenn es aus der Harmonie und ihrer Folge wie die
Blüthe aus Stamm und Zweigen emporwächst und von ihr getragen wird.
Harmoniſche Muſik iſt ein Bild der ideedurchdrungenen Welt, des ganzen
großartig nach allen Dimenſionen ſich ausbreitenden, nach allen Richtungen
feſt und ſchön in ſich zuſammenhängenden und geordneten, überall concrete
Einzelgeſtaltungen aus ſeinem Schooße an die Oberfläche hervortreibenden
Univerſums; die Melodie iſt die Einzelgeſtalt, die Harmonie das Ganze,
auf dem ſie ruht und deſſen Theil und Glied ſie iſt; nur der vom Ganzen
losgeriſſene, einſam in ſich ſelbſt zurückgezogene, und damit doch zugleich
des wahren individuellen Lebens, der unendlich empfänglichen, ſich im
Ganzen und das Ganze in ſich fühlenden Gemüthstiefe verluſtig gegangene
Geiſt war im Stande, in der Melodie, in der frei in Lüften ſchwebenden,
die einzig wahre Muſik erkennen zu wollen.

§. 776.

1.

Die Muſik als Bewegung in der Zeit bedarf für ihre einzelnen Töne
eine beſtimmte, größere oder kleinere Zeitdauer, zwiſchen deren Maximum und
Minimum eine Reihe der verſchiedenſten Tonzeitmaaße liegt. Das Zeitmaaß der
einzelnen Töne iſt innerhalb eines Tonganzen entweder ein durchgehends iden-
tiſches, oder müſſen, wenn das Tonganze Töne von verſchiedener Zeitdauer
(entweder nacheinander oder gleichzeitig) enthält, die Zeitmaaße ſeiner Töne
wenigſtens gleichartige, proportionale Zeitmaaße ſein, die ſich durch numeriſche
Theilung auf ein gleiches Grundmaaß zurückführen laſſen. Die aus dieſem
Verhältniß der Identität oder Proportionalität der Tonzeitmaaße reſultirende
geregelte Bewegung der Tonreihe und ihrer einzelnen Glieder iſt ihr Rhythmus.
Die Regelmäßigkeit des Rhythmus wird vollendet und damit feſte Ordnung und
klare Gliederung in die Geſammtbewegung der Tonreihe gebracht durch den
Takt, durch den Aufbau des Ganzen in ſtetig auf einander folgenden kleinen
Zeitabſchnitten von durchaus gleicher Dauer und von durchaus gleichem Zeitmaaß
ihrer einzelnen Glieder, welchem als beherrſchendem Grundmaaß die verſchie-
denen Zeitlängen der einzelnen Töne des Abſchnitts entweder direct entſprechen
2. oder indirect proportional ſich unterordnen. Richt minder weſentlich als geregeltes
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[900/0138] ſind ſehr verſchiedene Dinge, — ſondern ſie iſt begründet durch das innigere und tiefere deutſche Gemüth, das weicher, voller, umfaſſender angeregt ſein will als durch bloße Melodie. Die Melodie iſt freilich Anfang und Ende aller Muſik, mit ihr ſteht und fällt die Muſik, was von der Harmonie nicht geſagt werden kann, aber ſie iſt eben nur der Anfang, das primitiv Einfache, das eine Erfüllung durch Harmonie fordert, und nur das Ende, nur das Reſultat, das nur dann feſten Halt, klaren und motivirten Gang gewinnen kann, wenn es aus der Harmonie und ihrer Folge wie die Blüthe aus Stamm und Zweigen emporwächst und von ihr getragen wird. Harmoniſche Muſik iſt ein Bild der ideedurchdrungenen Welt, des ganzen großartig nach allen Dimenſionen ſich ausbreitenden, nach allen Richtungen feſt und ſchön in ſich zuſammenhängenden und geordneten, überall concrete Einzelgeſtaltungen aus ſeinem Schooße an die Oberfläche hervortreibenden Univerſums; die Melodie iſt die Einzelgeſtalt, die Harmonie das Ganze, auf dem ſie ruht und deſſen Theil und Glied ſie iſt; nur der vom Ganzen losgeriſſene, einſam in ſich ſelbſt zurückgezogene, und damit doch zugleich des wahren individuellen Lebens, der unendlich empfänglichen, ſich im Ganzen und das Ganze in ſich fühlenden Gemüthstiefe verluſtig gegangene Geiſt war im Stande, in der Melodie, in der frei in Lüften ſchwebenden, die einzig wahre Muſik erkennen zu wollen. §. 776. Die Muſik als Bewegung in der Zeit bedarf für ihre einzelnen Töne eine beſtimmte, größere oder kleinere Zeitdauer, zwiſchen deren Maximum und Minimum eine Reihe der verſchiedenſten Tonzeitmaaße liegt. Das Zeitmaaß der einzelnen Töne iſt innerhalb eines Tonganzen entweder ein durchgehends iden- tiſches, oder müſſen, wenn das Tonganze Töne von verſchiedener Zeitdauer (entweder nacheinander oder gleichzeitig) enthält, die Zeitmaaße ſeiner Töne wenigſtens gleichartige, proportionale Zeitmaaße ſein, die ſich durch numeriſche Theilung auf ein gleiches Grundmaaß zurückführen laſſen. Die aus dieſem Verhältniß der Identität oder Proportionalität der Tonzeitmaaße reſultirende geregelte Bewegung der Tonreihe und ihrer einzelnen Glieder iſt ihr Rhythmus. Die Regelmäßigkeit des Rhythmus wird vollendet und damit feſte Ordnung und klare Gliederung in die Geſammtbewegung der Tonreihe gebracht durch den Takt, durch den Aufbau des Ganzen in ſtetig auf einander folgenden kleinen Zeitabſchnitten von durchaus gleicher Dauer und von durchaus gleichem Zeitmaaß ihrer einzelnen Glieder, welchem als beherrſchendem Grundmaaß die verſchie- denen Zeitlängen der einzelnen Töne des Abſchnitts entweder direct entſprechen oder indirect proportional ſich unterordnen. Richt minder weſentlich als geregeltes Zeitmaaß iſt für die muſikaliſch rhythmiſche Bewegung die Belebtheit, die in ſie

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Zitationshilfe: Vischer, Friedrich Theodor von: Ästhetik oder Wissenschaft des Schönen. Bd. 3,2,4. Stuttgart, 1857, S. 900. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/vischer_aesthetik030204_1857/138>, abgerufen am 25.11.2024.