Uebergang der Töne des einen Accords in die des nachfolgenden direct zu folgen, es ist so in der Harmonie etwas Dunkles, Undurchsichtiges, Ge- heimes, eine Weichheit ohne schärfere Umrisse, sie wirkt eben durch dieses unbestimmte romantische Wogen auf das Gemüth als solches, sie thut hie- durch zu der Einzelerregung, wie sie die Melodie vorzeichnet, eine über das Innere nach allen Seiten sich verbreitende Gesammterregung hinzu, sie gibt zur bestimmten Musik Musik überhaupt, sie hüllt die klar dahinschreitende Tonfolge in ein magisches Helldunkel von Klängen ein, die wie Geister in dunklem Hintergrunde sie umschweben, um ihre Bewegung in schönem, aber stillem Einklange zu begleiten. Wenn wir somit genöthigt sind, der Harmonie zwei scheinbar ganz entgegengesetzte Bedeutungen beizu- legen, die Bedeutung scharfer Charakteristik und weicher seelenvoller Innigkeit, so ergibt sich ganz Dasselbe auch noch von anderer Seite her; wie die Harmonie kräftige Tonmassen auf einzelne Puncte werfen und diese dadurch stark markiren und hervorheben, wie sie hiedurch in das Ganze einer Ton- bewegung besonders hervortretende Einschnitte bringen kann, so vermittelt sie umgekehrt auch die Stetigkeit, den Fluß, die Bindung und Ver- schmelzung der Theile, sie verwandelt das bloße Nacheinander der Töne in ein zusammenhängendes, zusammenfließendes Ineinander, innerhalb dessen Alles continuirlich zusammenhängt, Eines aus dem Andern sich entwickelt, Eines in's Andere hinüberführt, sie kann wohl wie die Melodie größere oder kleinere Intervalle überspringen, unruhig hin und her gehen, ja sogar selbst erst durch ihren bewegtern Rhythmus stärkere Lebendigkeit zur Melodie hinzubringen, aber sie kann ebenso auch für die lebhaftere discretere Be- wegung der Melodie eine in einfachem, ruhigem, gebundenem Hinundher- schreiten fortrückende Begleitung abgeben, sie kann einer größern oder kleinern Reihe von Tönen der Melodie einen oder wenige Accorde unterlegen, sie kann liegen bleiben oder sich nur wenig verschieben, während die Melodie auf verschiedenen Intervallen auf- und absteigt, so daß die mannigfaltige Beweglichkeit und Unruhe der Melodie an ihr eine einfache und verein- fachende, das Viele zusammenhaltende und bindende, das Mannigfaltige verschmelzende Unterlage erhält; die Melodie spaltet sich in der Regel wie eine mannigfaltigst gewundene und gebrochene Linie in ein Nacheinander einzelner einander ablösender kleinerer Puncte, die aus der Tonreihe auf- steigen, die Harmonie arbeitet mehr im Großen und Breiten, sie legt der kleintheiligen punctuellen Bewegung eine weniger getheilte, in größern Ab- sätzen, in längeren Windungen sich fortziehende Massenbewegung unter, die sich der erstern überall anschmiegt, aber doch ein Band der Einheit um sie herschlingt, durch welches Stetigkeit und Zusammenhang in das Ganze gebracht wird.
Uebergang der Töne des einen Accords in die des nachfolgenden direct zu folgen, es iſt ſo in der Harmonie etwas Dunkles, Undurchſichtiges, Ge- heimes, eine Weichheit ohne ſchärfere Umriſſe, ſie wirkt eben durch dieſes unbeſtimmte romantiſche Wogen auf das Gemüth als ſolches, ſie thut hie- durch zu der Einzelerregung, wie ſie die Melodie vorzeichnet, eine über das Innere nach allen Seiten ſich verbreitende Geſammterregung hinzu, ſie gibt zur beſtimmten Muſik Muſik überhaupt, ſie hüllt die klar dahinſchreitende Tonfolge in ein magiſches Helldunkel von Klängen ein, die wie Geiſter in dunklem Hintergrunde ſie umſchweben, um ihre Bewegung in ſchönem, aber ſtillem Einklange zu begleiten. Wenn wir ſomit genöthigt ſind, der Harmonie zwei ſcheinbar ganz entgegengeſetzte Bedeutungen beizu- legen, die Bedeutung ſcharfer Charakteriſtik und weicher ſeelenvoller Innigkeit, ſo ergibt ſich ganz Daſſelbe auch noch von anderer Seite her; wie die Harmonie kräftige Tonmaſſen auf einzelne Puncte werfen und dieſe dadurch ſtark markiren und hervorheben, wie ſie hiedurch in das Ganze einer Ton- bewegung beſonders hervortretende Einſchnitte bringen kann, ſo vermittelt ſie umgekehrt auch die Stetigkeit, den Fluß, die Bindung und Ver- ſchmelzung der Theile, ſie verwandelt das bloße Nacheinander der Töne in ein zuſammenhängendes, zuſammenfließendes Ineinander, innerhalb deſſen Alles continuirlich zuſammenhängt, Eines aus dem Andern ſich entwickelt, Eines in’s Andere hinüberführt, ſie kann wohl wie die Melodie größere oder kleinere Intervalle überſpringen, unruhig hin und her gehen, ja ſogar ſelbſt erſt durch ihren bewegtern Rhythmus ſtärkere Lebendigkeit zur Melodie hinzubringen, aber ſie kann ebenſo auch für die lebhaftere discretere Be- wegung der Melodie eine in einfachem, ruhigem, gebundenem Hinundher- ſchreiten fortrückende Begleitung abgeben, ſie kann einer größern oder kleinern Reihe von Tönen der Melodie einen oder wenige Accorde unterlegen, ſie kann liegen bleiben oder ſich nur wenig verſchieben, während die Melodie auf verſchiedenen Intervallen auf- und abſteigt, ſo daß die mannigfaltige Beweglichkeit und Unruhe der Melodie an ihr eine einfache und verein- fachende, das Viele zuſammenhaltende und bindende, das Mannigfaltige verſchmelzende Unterlage erhält; die Melodie ſpaltet ſich in der Regel wie eine mannigfaltigſt gewundene und gebrochene Linie in ein Nacheinander einzelner einander ablöſender kleinerer Puncte, die aus der Tonreihe auf- ſteigen, die Harmonie arbeitet mehr im Großen und Breiten, ſie legt der kleintheiligen punctuellen Bewegung eine weniger getheilte, in größern Ab- ſätzen, in längeren Windungen ſich fortziehende Maſſenbewegung unter, die ſich der erſtern überall anſchmiegt, aber doch ein Band der Einheit um ſie herſchlingt, durch welches Stetigkeit und Zuſammenhang in das Ganze gebracht wird.
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Uebergang der Töne des einen Accords in die des nachfolgenden direct zu
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heimes, eine Weichheit ohne ſchärfere Umriſſe, ſie wirkt eben durch dieſes
unbeſtimmte romantiſche Wogen auf das Gemüth als ſolches, ſie thut hie-
durch zu der Einzelerregung, wie ſie die Melodie vorzeichnet, eine über das
Innere nach allen Seiten ſich verbreitende Geſammterregung hinzu, ſie
gibt zur beſtimmten Muſik Muſik überhaupt, ſie hüllt die klar
dahinſchreitende Tonfolge in ein magiſches Helldunkel von Klängen ein, die
wie Geiſter in dunklem Hintergrunde ſie umſchweben, um ihre Bewegung
in ſchönem, aber ſtillem Einklange zu begleiten. Wenn wir ſomit genöthigt
ſind, der Harmonie zwei ſcheinbar ganz entgegengeſetzte Bedeutungen beizu-
legen, die Bedeutung ſcharfer Charakteriſtik und weicher ſeelenvoller Innigkeit,
ſo ergibt ſich ganz Daſſelbe auch noch von anderer Seite her; wie die
Harmonie kräftige Tonmaſſen auf einzelne Puncte werfen und dieſe dadurch
ſtark markiren und hervorheben, wie ſie hiedurch in das Ganze einer Ton-
bewegung beſonders hervortretende Einſchnitte bringen kann, ſo vermittelt
ſie umgekehrt auch die Stetigkeit, den Fluß, die Bindung und Ver-
ſchmelzung der Theile, ſie verwandelt das bloße Nacheinander der Töne
in ein zuſammenhängendes, zuſammenfließendes Ineinander, innerhalb deſſen
Alles continuirlich zuſammenhängt, Eines aus dem Andern ſich entwickelt,
Eines in’s Andere hinüberführt, ſie kann wohl wie die Melodie größere
oder kleinere Intervalle überſpringen, unruhig hin und her gehen, ja ſogar
ſelbſt erſt durch ihren bewegtern Rhythmus ſtärkere Lebendigkeit zur Melodie
hinzubringen, aber ſie kann ebenſo auch für die lebhaftere discretere Be-
wegung der Melodie eine in einfachem, ruhigem, gebundenem Hinundher-
ſchreiten fortrückende Begleitung abgeben, ſie kann einer größern oder kleinern
Reihe von Tönen der Melodie einen oder wenige Accorde unterlegen, ſie
kann liegen bleiben oder ſich nur wenig verſchieben, während die Melodie
auf verſchiedenen Intervallen auf- und abſteigt, ſo daß die mannigfaltige
Beweglichkeit und Unruhe der Melodie an ihr eine einfache und verein-
fachende, das Viele zuſammenhaltende und bindende, das Mannigfaltige
verſchmelzende Unterlage erhält; die Melodie ſpaltet ſich in der Regel wie
eine mannigfaltigſt gewundene und gebrochene Linie in ein Nacheinander
einzelner einander ablöſender kleinerer Puncte, die aus der Tonreihe auf-
ſteigen, die Harmonie arbeitet mehr im Großen und Breiten, ſie legt der
kleintheiligen punctuellen Bewegung eine weniger getheilte, in größern Ab-
ſätzen, in längeren Windungen ſich fortziehende Maſſenbewegung unter, die
ſich der erſtern überall anſchmiegt, aber doch ein Band der Einheit um ſie
herſchlingt, durch welches Stetigkeit und Zuſammenhang in das Ganze
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Vischer, Friedrich Theodor von: Ästhetik oder Wissenschaft des Schönen. Bd. 3,2,4. Stuttgart, 1857, S. 897. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/vischer_aesthetik030204_1857/135>, abgerufen am 24.11.2024.
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