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Vischer, Friedrich Theodor von: Ästhetik oder Wissenschaft des Schönen. Bd. 3,2,4. Stuttgart, 1857.

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zum Uebergang nach g c e drängt, weil die zu hoch hinauf geschobene
Septime zur Sext herabdrückt, obwohl von ihm z. B. auch direct oder
mittelst Umwandlung zum verminderten Septimenaccord (gis h d f) in
Amoll oder dur übergegangen, oder zunächst ein anderer nächstliegender
Septimenaccord, nach diesem wieder ein dritter u. s. f. gesetzt werden kann,
so daß die Auflösung sich verzögert und erst nach einer Reihe von Septimen-
accorden erfolgt. Um der in ihm liegenden Unaufgelöstheit und Spannung
willen kann weder dieser noch ein anderer Septimenaccord ein Tonstück
schließen, in der Regel es auch nicht anfangen, obwohl in einzelnen Fällen,
wie in Beethoven's Prometheusouvertüre, ein eigenthümlicher Effect des
Unerwarteten, heftig Aufprallenden damit erreicht wird; wohl aber kann
inmitten eines Tonwerks länger auf ihm, namentlich in seiner ursprüng-
lichen Lage, verweilt werden, um eine rasche, heftige pathetische Bewegung
ihren Höhe- und Endpunct in diesem Accord finden zu lassen, der gerade
vermöge seines gespannten, Lösung verlangenden Charakters sich ebenso dazu
eignet, ein mächtiges sich zur Höhe Ringen, ein höchstes Durchdrungensein
von Schmerz, Sehnsucht, Liebe auszudrücken, als dazu, einen Passus, in
welchem solche Empfindungen sich lebendig aussprechen, zu beschließen und
den Uebergang zu einer wieder ruhigern Bewegung anzubahnen. Kaum
weniger bedeutend ist der auf der großen Septime oder dem Leitton der
Mollscala errichtete, blos aus kleinen Terzen bestehende Vierklang, der sogen.
verminderte Septimenaccord (h d f as); er klingt seiner Zusammen-
setzung gemäß etwas enger, beklemmter, pathetischer, wollüstiger als der
Dominantseptimenaccord, wiewohl auch noch gefällig; in Dur dagegen,
mit großer oberer Terz (h d f a) hat er etwas weniger gleichförmig Ab-
gerundetes, etwas Uebergreifendes, Ueberschwellendkräftiges, jedoch nicht
das Einleuchtende und Natürliche des gleichmäßiger gebauten verminderten
Septimenaccords. Verwandt mit dem Durseptimenaccord auf dem Leitton,
wiewohl weniger ungewöhnlichen Klangs, weil er nicht wie jener einen
verengten, "verminderten" Dreiklang (h d f) hat, ist der Septimenaccord
auf zweiter, dritter und sechster Stufe der Durleiter (d f a c u. s. f.) oder
auf erster, vierter und fünfter Stufe der (absteigenden) Mollleiter (auch
weicher Septimenaccord genannt); die Spannung ist bei diesem Accord sehr
groß, der Charakter des Unaufgelösten tritt in ihm weit entschiedener hervor,
als beim gewöhnlichen oder verminderten Septimenaccord, es fehlt durch-
aus der diesen beiden eigene Reiz des Unentschiedenen und des durch die
Dissonanz hindurchklingenden hellen Wohlklangs. Absolut dissonirend und
daher nur als Uebergangsaccorde zu gebrauchen sind Accorde, in denen
Tonica und große Septim zusammen kommen (c e g h, c es g h u. s. w.),
wogegen unter den Nonenaccorden der große (der Duraccord g h d f a)
einen ähnlichen nur noch kräftigern Eindruck zu großer Ueberfülle, zu weiten

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zum Uebergang nach g c e drängt, weil die zu hoch hinauf geſchobene
Septime zur Sext herabdrückt, obwohl von ihm z. B. auch direct oder
mittelſt Umwandlung zum verminderten Septimenaccord (gis h d f) in
Amoll oder dur übergegangen, oder zunächſt ein anderer nächſtliegender
Septimenaccord, nach dieſem wieder ein dritter u. ſ. f. geſetzt werden kann,
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accorden erfolgt. Um der in ihm liegenden Unaufgelöstheit und Spannung
willen kann weder dieſer noch ein anderer Septimenaccord ein Tonſtück
ſchließen, in der Regel es auch nicht anfangen, obwohl in einzelnen Fällen,
wie in Beethoven’s Prometheusouvertüre, ein eigenthümlicher Effect des
Unerwarteten, heftig Aufprallenden damit erreicht wird; wohl aber kann
inmitten eines Tonwerks länger auf ihm, namentlich in ſeiner urſprüng-
lichen Lage, verweilt werden, um eine raſche, heftige pathetiſche Bewegung
ihren Höhe- und Endpunct in dieſem Accord finden zu laſſen, der gerade
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von Schmerz, Sehnſucht, Liebe auszudrücken, als dazu, einen Paſſus, in
welchem ſolche Empfindungen ſich lebendig ausſprechen, zu beſchließen und
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weniger bedeutend iſt der auf der großen Septime oder dem Leitton der
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verminderte Septimenaccord (h d f as); er klingt ſeiner Zuſammen-
ſetzung gemäß etwas enger, beklemmter, pathetiſcher, wollüſtiger als der
Dominantſeptimenaccord, wiewohl auch noch gefällig; in Dur dagegen,
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gerundetes, etwas Uebergreifendes, Ueberſchwellendkräftiges, jedoch nicht
das Einleuchtende und Natürliche des gleichmäßiger gebauten verminderten
Septimenaccords. Verwandt mit dem Durſeptimenaccord auf dem Leitton,
wiewohl weniger ungewöhnlichen Klangs, weil er nicht wie jener einen
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auf zweiter, dritter und ſechster Stufe der Durleiter (d f a c u. ſ. f.) oder
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weicher Septimenaccord genannt); die Spannung iſt bei dieſem Accord ſehr
groß, der Charakter des Unaufgelösten tritt in ihm weit entſchiedener hervor,
als beim gewöhnlichen oder verminderten Septimenaccord, es fehlt durch-
aus der dieſen beiden eigene Reiz des Unentſchiedenen und des durch die
Diſſonanz hindurchklingenden hellen Wohlklangs. Abſolut diſſonirend und
daher nur als Uebergangsaccorde zu gebrauchen ſind Accorde, in denen
Tonica und große Septim zuſammen kommen (c e g h, c es g h u. ſ. w.),
wogegen unter den Nonenaccorden der große (der Duraccord g h d f a)
einen ähnlichen nur noch kräftigern Eindruck zu großer Ueberfülle, zu weiten

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[889/0127] zum Uebergang nach g c e drängt, weil die zu hoch hinauf geſchobene Septime zur Sext herabdrückt, obwohl von ihm z. B. auch direct oder mittelſt Umwandlung zum verminderten Septimenaccord (gis h d f) in Amoll oder dur übergegangen, oder zunächſt ein anderer nächſtliegender Septimenaccord, nach dieſem wieder ein dritter u. ſ. f. geſetzt werden kann, ſo daß die Auflöſung ſich verzögert und erſt nach einer Reihe von Septimen- accorden erfolgt. Um der in ihm liegenden Unaufgelöstheit und Spannung willen kann weder dieſer noch ein anderer Septimenaccord ein Tonſtück ſchließen, in der Regel es auch nicht anfangen, obwohl in einzelnen Fällen, wie in Beethoven’s Prometheusouvertüre, ein eigenthümlicher Effect des Unerwarteten, heftig Aufprallenden damit erreicht wird; wohl aber kann inmitten eines Tonwerks länger auf ihm, namentlich in ſeiner urſprüng- lichen Lage, verweilt werden, um eine raſche, heftige pathetiſche Bewegung ihren Höhe- und Endpunct in dieſem Accord finden zu laſſen, der gerade vermöge ſeines geſpannten, Löſung verlangenden Charakters ſich ebenſo dazu eignet, ein mächtiges ſich zur Höhe Ringen, ein höchſtes Durchdrungenſein von Schmerz, Sehnſucht, Liebe auszudrücken, als dazu, einen Paſſus, in welchem ſolche Empfindungen ſich lebendig ausſprechen, zu beſchließen und den Uebergang zu einer wieder ruhigern Bewegung anzubahnen. Kaum weniger bedeutend iſt der auf der großen Septime oder dem Leitton der Mollſcala errichtete, blos aus kleinen Terzen beſtehende Vierklang, der ſogen. verminderte Septimenaccord (h d f as); er klingt ſeiner Zuſammen- ſetzung gemäß etwas enger, beklemmter, pathetiſcher, wollüſtiger als der Dominantſeptimenaccord, wiewohl auch noch gefällig; in Dur dagegen, mit großer oberer Terz (h d f a) hat er etwas weniger gleichförmig Ab- gerundetes, etwas Uebergreifendes, Ueberſchwellendkräftiges, jedoch nicht das Einleuchtende und Natürliche des gleichmäßiger gebauten verminderten Septimenaccords. Verwandt mit dem Durſeptimenaccord auf dem Leitton, wiewohl weniger ungewöhnlichen Klangs, weil er nicht wie jener einen verengten, „verminderten“ Dreiklang (h d f) hat, iſt der Septimenaccord auf zweiter, dritter und ſechster Stufe der Durleiter (d f a c u. ſ. f.) oder auf erſter, vierter und fünfter Stufe der (abſteigenden) Mollleiter (auch weicher Septimenaccord genannt); die Spannung iſt bei dieſem Accord ſehr groß, der Charakter des Unaufgelösten tritt in ihm weit entſchiedener hervor, als beim gewöhnlichen oder verminderten Septimenaccord, es fehlt durch- aus der dieſen beiden eigene Reiz des Unentſchiedenen und des durch die Diſſonanz hindurchklingenden hellen Wohlklangs. Abſolut diſſonirend und daher nur als Uebergangsaccorde zu gebrauchen ſind Accorde, in denen Tonica und große Septim zuſammen kommen (c e g h, c es g h u. ſ. w.), wogegen unter den Nonenaccorden der große (der Duraccord g h d f a) einen ähnlichen nur noch kräftigern Eindruck zu großer Ueberfülle, zu weiten 58*

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Zitationshilfe: Vischer, Friedrich Theodor von: Ästhetik oder Wissenschaft des Schönen. Bd. 3,2,4. Stuttgart, 1857, S. 889. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/vischer_aesthetik030204_1857/127>, abgerufen am 08.05.2024.