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Vischer, Friedrich Theodor von: Ästhetik oder Wissenschaft des Schönen. Bd. 3,2,4. Stuttgart, 1857.

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belebend, reizend u. s. w. wirkt. Allein es ist eine weitere Frage, ob nicht
jede Tonart auch eine positive Charaktereigenthümlichkeit habe, welche sie
für den Ausdruck einzelner Stimmungen, Empfindungen spezifisch geeignet
mache, so daß das Verhältniß der Tonarten nicht allein jenes negative des
Unterschiedes wäre, der blos in und mit ihrer contrastirenden Gegenüber-
stellung hervortritt, sondern auch ein inneres Verhältniß qualitativer Ver-
wandtschaft und Differenz unter ihnen stattfände, etwa wie unter den Farben,
worüber §. 249 gehandelt ist. Die musikalischen Theoretiker neuester Zeit
verweisen den Glauben an besondere Charaktere der Tonarten in das Gebiet
der Täuschung und des Vorurtheils, während ältere Aesthetiker, z. B. Hand,
ihn unbedenklich festhielten; man wendet gegen ihn hauptsächlich dieß ein,
daß seit Einführung der gleichschwebenden Temperatur sich über jedem Tone
unseres Tonsystems eine absolut gleiche Stufenfolge erhebe und folglich von
einem Klangunterschied zwischen den Tonarten, entsprechend dem zwischen
den Tongeschlechtern, absolut keine Rede sein, sondern blos die verschiedene
Höhe der Lage des Grundtons und damit der Tonart überhaupt von
Einfluß auf ihren Klangcharakter sein könne; alle übrigen Unterschiede, die
man wahrzunehmen glaube, kommen darauf zurück, daß das Ohr durch die
herrschende Orchesterstimmung und Klaviereinrichtung C dur als Grundtonart
und damit als den Ausdruck des Einfachen und entschieden Klaren und
Kräftigen zu betrachten sich gewöhnt habe und nun von hier aus jede andere
Tonart um so mehr sich von jenem Charakter zu entfernen und vielmehr
dem Ausdruck aller gegentheiligen Empfindungen sich darzubieten scheine,
je fremder ihre harmonischen Verhältnisse denjenigen der Cdur-Harmonieen
sind (so Zamminer, die Musik in ihrer Beziehung zur Acustik S. 153).
Andererseits wird durch den seit Jahrhunderten constanten Gebrauch einzelner
Tonarten für gewisse musikalische Stimmungs- und Ausdrucksweisen der
Gedanke doch immer nahe gelegt, ob nicht an der Lehre von den Tonarten-
charakteren irgend etwas wahr sein möge, wenn auch natürlich nicht in der
Weise, daß eine Tonart heiter, eine zweite traurig, eine dritte ausgelassen,
eine vierte verzweiflungsvoll sei -- denn bei solchen Behauptungen trägt
man die Charaktere gewisser Tonstücke auf ihre Tonarten über und ist mit-
hin allerdings in völliger Selbsttäuschung befangen, -- wohl aber etwa so,
daß die Annahme einer Grundtonart und ebendamit die Vorstellung von
bestimmten Klangcharakteren der ihr ferner stehenden Tonarten keineswegs
Zufall sei, sondern wirkliche objective Gründe habe.

Als selbstverständlich ist von Allen zugegeben, daß es für ein Tonstück
nicht gleichgültig sein kann, auf welchem Tone der Scala es aufgebaut wird.
Jedes Stück durchläuft sowohl mit seinen Melodieen als mit den begleiten-
den Harmonieen eine Reihe von Stufen, Intervallen, Regionen des Ton-
systems, seine melodischen und harmonischen Fortgänge kommen je nach

belebend, reizend u. ſ. w. wirkt. Allein es iſt eine weitere Frage, ob nicht
jede Tonart auch eine poſitive Charaktereigenthümlichkeit habe, welche ſie
für den Ausdruck einzelner Stimmungen, Empfindungen ſpezifiſch geeignet
mache, ſo daß das Verhältniß der Tonarten nicht allein jenes negative des
Unterſchiedes wäre, der blos in und mit ihrer contraſtirenden Gegenüber-
ſtellung hervortritt, ſondern auch ein inneres Verhältniß qualitativer Ver-
wandtſchaft und Differenz unter ihnen ſtattfände, etwa wie unter den Farben,
worüber §. 249 gehandelt iſt. Die muſikaliſchen Theoretiker neueſter Zeit
verweiſen den Glauben an beſondere Charaktere der Tonarten in das Gebiet
der Täuſchung und des Vorurtheils, während ältere Aeſthetiker, z. B. Hand,
ihn unbedenklich feſthielten; man wendet gegen ihn hauptſächlich dieß ein,
daß ſeit Einführung der gleichſchwebenden Temperatur ſich über jedem Tone
unſeres Tonſyſtems eine abſolut gleiche Stufenfolge erhebe und folglich von
einem Klangunterſchied zwiſchen den Tonarten, entſprechend dem zwiſchen
den Tongeſchlechtern, abſolut keine Rede ſein, ſondern blos die verſchiedene
Höhe der Lage des Grundtons und damit der Tonart überhaupt von
Einfluß auf ihren Klangcharakter ſein könne; alle übrigen Unterſchiede, die
man wahrzunehmen glaube, kommen darauf zurück, daß das Ohr durch die
herrſchende Orcheſterſtimmung und Klaviereinrichtung C dur als Grundtonart
und damit als den Ausdruck des Einfachen und entſchieden Klaren und
Kräftigen zu betrachten ſich gewöhnt habe und nun von hier aus jede andere
Tonart um ſo mehr ſich von jenem Charakter zu entfernen und vielmehr
dem Ausdruck aller gegentheiligen Empfindungen ſich darzubieten ſcheine,
je fremder ihre harmoniſchen Verhältniſſe denjenigen der Cdur-Harmonieen
ſind (ſo Zamminer, die Muſik in ihrer Beziehung zur Acuſtik S. 153).
Andererſeits wird durch den ſeit Jahrhunderten conſtanten Gebrauch einzelner
Tonarten für gewiſſe muſikaliſche Stimmungs- und Ausdrucksweiſen der
Gedanke doch immer nahe gelegt, ob nicht an der Lehre von den Tonarten-
charakteren irgend etwas wahr ſein möge, wenn auch natürlich nicht in der
Weiſe, daß eine Tonart heiter, eine zweite traurig, eine dritte ausgelaſſen,
eine vierte verzweiflungsvoll ſei — denn bei ſolchen Behauptungen trägt
man die Charaktere gewiſſer Tonſtücke auf ihre Tonarten über und iſt mit-
hin allerdings in völliger Selbſttäuſchung befangen, — wohl aber etwa ſo,
daß die Annahme einer Grundtonart und ebendamit die Vorſtellung von
beſtimmten Klangcharakteren der ihr ferner ſtehenden Tonarten keineswegs
Zufall ſei, ſondern wirkliche objective Gründe habe.

Als ſelbſtverſtändlich iſt von Allen zugegeben, daß es für ein Tonſtück
nicht gleichgültig ſein kann, auf welchem Tone der Scala es aufgebaut wird.
Jedes Stück durchläuft ſowohl mit ſeinen Melodieen als mit den begleiten-
den Harmonieen eine Reihe von Stufen, Intervallen, Regionen des Ton-
ſyſtems, ſeine melodiſchen und harmoniſchen Fortgänge kommen je nach

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[877/0115] belebend, reizend u. ſ. w. wirkt. Allein es iſt eine weitere Frage, ob nicht jede Tonart auch eine poſitive Charaktereigenthümlichkeit habe, welche ſie für den Ausdruck einzelner Stimmungen, Empfindungen ſpezifiſch geeignet mache, ſo daß das Verhältniß der Tonarten nicht allein jenes negative des Unterſchiedes wäre, der blos in und mit ihrer contraſtirenden Gegenüber- ſtellung hervortritt, ſondern auch ein inneres Verhältniß qualitativer Ver- wandtſchaft und Differenz unter ihnen ſtattfände, etwa wie unter den Farben, worüber §. 249 gehandelt iſt. Die muſikaliſchen Theoretiker neueſter Zeit verweiſen den Glauben an beſondere Charaktere der Tonarten in das Gebiet der Täuſchung und des Vorurtheils, während ältere Aeſthetiker, z. B. Hand, ihn unbedenklich feſthielten; man wendet gegen ihn hauptſächlich dieß ein, daß ſeit Einführung der gleichſchwebenden Temperatur ſich über jedem Tone unſeres Tonſyſtems eine abſolut gleiche Stufenfolge erhebe und folglich von einem Klangunterſchied zwiſchen den Tonarten, entſprechend dem zwiſchen den Tongeſchlechtern, abſolut keine Rede ſein, ſondern blos die verſchiedene Höhe der Lage des Grundtons und damit der Tonart überhaupt von Einfluß auf ihren Klangcharakter ſein könne; alle übrigen Unterſchiede, die man wahrzunehmen glaube, kommen darauf zurück, daß das Ohr durch die herrſchende Orcheſterſtimmung und Klaviereinrichtung C dur als Grundtonart und damit als den Ausdruck des Einfachen und entſchieden Klaren und Kräftigen zu betrachten ſich gewöhnt habe und nun von hier aus jede andere Tonart um ſo mehr ſich von jenem Charakter zu entfernen und vielmehr dem Ausdruck aller gegentheiligen Empfindungen ſich darzubieten ſcheine, je fremder ihre harmoniſchen Verhältniſſe denjenigen der Cdur-Harmonieen ſind (ſo Zamminer, die Muſik in ihrer Beziehung zur Acuſtik S. 153). Andererſeits wird durch den ſeit Jahrhunderten conſtanten Gebrauch einzelner Tonarten für gewiſſe muſikaliſche Stimmungs- und Ausdrucksweiſen der Gedanke doch immer nahe gelegt, ob nicht an der Lehre von den Tonarten- charakteren irgend etwas wahr ſein möge, wenn auch natürlich nicht in der Weiſe, daß eine Tonart heiter, eine zweite traurig, eine dritte ausgelaſſen, eine vierte verzweiflungsvoll ſei — denn bei ſolchen Behauptungen trägt man die Charaktere gewiſſer Tonſtücke auf ihre Tonarten über und iſt mit- hin allerdings in völliger Selbſttäuſchung befangen, — wohl aber etwa ſo, daß die Annahme einer Grundtonart und ebendamit die Vorſtellung von beſtimmten Klangcharakteren der ihr ferner ſtehenden Tonarten keineswegs Zufall ſei, ſondern wirkliche objective Gründe habe. Als ſelbſtverſtändlich iſt von Allen zugegeben, daß es für ein Tonſtück nicht gleichgültig ſein kann, auf welchem Tone der Scala es aufgebaut wird. Jedes Stück durchläuft ſowohl mit ſeinen Melodieen als mit den begleiten- den Harmonieen eine Reihe von Stufen, Intervallen, Regionen des Ton- ſyſtems, ſeine melodiſchen und harmoniſchen Fortgänge kommen je nach

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Zitationshilfe: Vischer, Friedrich Theodor von: Ästhetik oder Wissenschaft des Schönen. Bd. 3,2,4. Stuttgart, 1857, S. 877. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/vischer_aesthetik030204_1857/115>, abgerufen am 08.05.2024.