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Vischer, Friedrich Theodor von: Ästhetik oder Wissenschaft des Schönen. Bd. 3,2,4. Stuttgart, 1857.

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unmittelbar loswickelt, aufgedrückt wird. Zugleich hat die Durleiter
namentlich den Vorzug der großen Terz, des natürlichen, wohlklingenden
Mittelglieds zwischen der Prim und den höhern Intervallen. -- Ganz
anders die Molltonleiter. In ihr wird gerade das Intervall der
großen Terz und ebenso das der großen Sext aufgehoben; der hier schon
nach der zweiten Stufe und dem entsprechend nach der Dominante (die
bleiben muß) eintretende Halbton wirkt hemmend, erschwerend, von der
geradlinigen Bewegung ablenkend; nach oben zu fehlt es der Mollbewegung,
sofern sie auf die kleine Sext eigentlich die kleine Septime folgen lassen muß,
an dem Moment der Zuspitzung und des leichten Schlusses durch die große
Septime, sie schließt eigentlich ohne Schluß und damit in so unerträglicher
Weise, daß man für die aufsteigende Mollleiter aus der Durleiter die große
Septime entweder allein (as h) oder zu ihr noch die große Sext (a h)
entlehnen und so entweder das Prinzip des sprunglosen Fortgangs durch
einfache Ganztöne oder den Mollcharakter preisgeben muß, jedenfalls aber
nur im Absteigen eine reine Mollleiter zu Tage kommt. Sehr abweichend
ist auch die Gestaltung der Octave, die durch die Stellung der Halbtöne
in der Molleiter hervorgebracht wird. Die klare, ebenmäßige Gliederung,
die scharfe Zweitheilung der Durscala ist verschwunden; die Halbtöne stehen
nicht mehr an den natürlichen Halt- und Endpuncten, sie kommen zu früh,
sie bilden keine Schlußcäsuren wie in Dur, sie sind nicht mehr Schluß-,
sondern blos Bindetöne, welche durch die Bedeutung, mit der sie in der
Mollleiter hervortreten, allerdings dieser Scala den Charakter eines weniger
scharf gegliederten, stetigern, schleifendern und damit "weichern," ebendamit
aber etwas vom Verschwommenen und Schleppenden an sich tragenden
Fortgangs aufdrücken. Nicht zu verkennen ist übrigens, daß in absteigender
Bewegung die Mollleiter doch natürlicher erscheint als in aufsteigender; die
absteigende Bewegung fordert weniger Schwung und Fortschritt, daher hier
die Mollbewegung weniger fremdartig für unser Gefühl ist, und zudem hat
die absteigende Mollleiter den großen Vorzug vor der aufsteigenden, daß der
unnatürliche Schluß der letztern nach oben und die ebenso unnatürliche Cor-
rection desselben durch Durtöne wegfällt.

Neben Dur und Moll lassen sich natürlich auch noch weitere Ton-
leitern denken, dergleichen wir im Alterthum und Mittelalter wirklich im
Gebrauche finden. Während die sog. ionische mittelalterliche Tonart unser
Dur ist, weicht die sog. lydische (F) dadurch von ihm ab, daß der erste
Halbton der Scala erst vor die Quint fällt (f g a h c); diese Stellung
hebt die schöne Gliederung der Octave auf, sie gibt zwar der aufsteigenden
Leiter den nicht ungefälligen Charakter unaufhaltsam ohne Ruhepunct auf-
strebenden Fortschritts, aber sie verunstaltet die absteigende Leiter, macht sie
irrationell, indem in dem Halbton zwischen c und h durch die enge Ver-

unmittelbar loswickelt, aufgedrückt wird. Zugleich hat die Durleiter
namentlich den Vorzug der großen Terz, des natürlichen, wohlklingenden
Mittelglieds zwiſchen der Prim und den höhern Intervallen. — Ganz
anders die Molltonleiter. In ihr wird gerade das Intervall der
großen Terz und ebenſo das der großen Sext aufgehoben; der hier ſchon
nach der zweiten Stufe und dem entſprechend nach der Dominante (die
bleiben muß) eintretende Halbton wirkt hemmend, erſchwerend, von der
geradlinigen Bewegung ablenkend; nach oben zu fehlt es der Mollbewegung,
ſofern ſie auf die kleine Sext eigentlich die kleine Septime folgen laſſen muß,
an dem Moment der Zuſpitzung und des leichten Schluſſes durch die große
Septime, ſie ſchließt eigentlich ohne Schluß und damit in ſo unerträglicher
Weiſe, daß man für die aufſteigende Mollleiter aus der Durleiter die große
Septime entweder allein (as h) oder zu ihr noch die große Sext (a h)
entlehnen und ſo entweder das Prinzip des ſprungloſen Fortgangs durch
einfache Ganztöne oder den Mollcharakter preisgeben muß, jedenfalls aber
nur im Abſteigen eine reine Mollleiter zu Tage kommt. Sehr abweichend
iſt auch die Geſtaltung der Octave, die durch die Stellung der Halbtöne
in der Molleiter hervorgebracht wird. Die klare, ebenmäßige Gliederung,
die ſcharfe Zweitheilung der Durſcala iſt verſchwunden; die Halbtöne ſtehen
nicht mehr an den natürlichen Halt- und Endpuncten, ſie kommen zu früh,
ſie bilden keine Schlußcäſuren wie in Dur, ſie ſind nicht mehr Schluß-,
ſondern blos Bindetöne, welche durch die Bedeutung, mit der ſie in der
Mollleiter hervortreten, allerdings dieſer Scala den Charakter eines weniger
ſcharf gegliederten, ſtetigern, ſchleifendern und damit „weichern,“ ebendamit
aber etwas vom Verſchwommenen und Schleppenden an ſich tragenden
Fortgangs aufdrücken. Nicht zu verkennen iſt übrigens, daß in abſteigender
Bewegung die Mollleiter doch natürlicher erſcheint als in aufſteigender; die
abſteigende Bewegung fordert weniger Schwung und Fortſchritt, daher hier
die Mollbewegung weniger fremdartig für unſer Gefühl iſt, und zudem hat
die abſteigende Mollleiter den großen Vorzug vor der aufſteigenden, daß der
unnatürliche Schluß der letztern nach oben und die ebenſo unnatürliche Cor-
rection deſſelben durch Durtöne wegfällt.

Neben Dur und Moll laſſen ſich natürlich auch noch weitere Ton-
leitern denken, dergleichen wir im Alterthum und Mittelalter wirklich im
Gebrauche finden. Während die ſog. ioniſche mittelalterliche Tonart unſer
Dur iſt, weicht die ſog. lydiſche (F) dadurch von ihm ab, daß der erſte
Halbton der Scala erſt vor die Quint fällt (f g a h c); dieſe Stellung
hebt die ſchöne Gliederung der Octave auf, ſie gibt zwar der aufſteigenden
Leiter den nicht ungefälligen Charakter unaufhaltſam ohne Ruhepunct auf-
ſtrebenden Fortſchritts, aber ſie verunſtaltet die abſteigende Leiter, macht ſie
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[867/0105] unmittelbar loswickelt, aufgedrückt wird. Zugleich hat die Durleiter namentlich den Vorzug der großen Terz, des natürlichen, wohlklingenden Mittelglieds zwiſchen der Prim und den höhern Intervallen. — Ganz anders die Molltonleiter. In ihr wird gerade das Intervall der großen Terz und ebenſo das der großen Sext aufgehoben; der hier ſchon nach der zweiten Stufe und dem entſprechend nach der Dominante (die bleiben muß) eintretende Halbton wirkt hemmend, erſchwerend, von der geradlinigen Bewegung ablenkend; nach oben zu fehlt es der Mollbewegung, ſofern ſie auf die kleine Sext eigentlich die kleine Septime folgen laſſen muß, an dem Moment der Zuſpitzung und des leichten Schluſſes durch die große Septime, ſie ſchließt eigentlich ohne Schluß und damit in ſo unerträglicher Weiſe, daß man für die aufſteigende Mollleiter aus der Durleiter die große Septime entweder allein (as h) oder zu ihr noch die große Sext (a h) entlehnen und ſo entweder das Prinzip des ſprungloſen Fortgangs durch einfache Ganztöne oder den Mollcharakter preisgeben muß, jedenfalls aber nur im Abſteigen eine reine Mollleiter zu Tage kommt. Sehr abweichend iſt auch die Geſtaltung der Octave, die durch die Stellung der Halbtöne in der Molleiter hervorgebracht wird. Die klare, ebenmäßige Gliederung, die ſcharfe Zweitheilung der Durſcala iſt verſchwunden; die Halbtöne ſtehen nicht mehr an den natürlichen Halt- und Endpuncten, ſie kommen zu früh, ſie bilden keine Schlußcäſuren wie in Dur, ſie ſind nicht mehr Schluß-, ſondern blos Bindetöne, welche durch die Bedeutung, mit der ſie in der Mollleiter hervortreten, allerdings dieſer Scala den Charakter eines weniger ſcharf gegliederten, ſtetigern, ſchleifendern und damit „weichern,“ ebendamit aber etwas vom Verſchwommenen und Schleppenden an ſich tragenden Fortgangs aufdrücken. Nicht zu verkennen iſt übrigens, daß in abſteigender Bewegung die Mollleiter doch natürlicher erſcheint als in aufſteigender; die abſteigende Bewegung fordert weniger Schwung und Fortſchritt, daher hier die Mollbewegung weniger fremdartig für unſer Gefühl iſt, und zudem hat die abſteigende Mollleiter den großen Vorzug vor der aufſteigenden, daß der unnatürliche Schluß der letztern nach oben und die ebenſo unnatürliche Cor- rection deſſelben durch Durtöne wegfällt. Neben Dur und Moll laſſen ſich natürlich auch noch weitere Ton- leitern denken, dergleichen wir im Alterthum und Mittelalter wirklich im Gebrauche finden. Während die ſog. ioniſche mittelalterliche Tonart unſer Dur iſt, weicht die ſog. lydiſche (F) dadurch von ihm ab, daß der erſte Halbton der Scala erſt vor die Quint fällt (f g a h c); dieſe Stellung hebt die ſchöne Gliederung der Octave auf, ſie gibt zwar der aufſteigenden Leiter den nicht ungefälligen Charakter unaufhaltſam ohne Ruhepunct auf- ſtrebenden Fortſchritts, aber ſie verunſtaltet die abſteigende Leiter, macht ſie irrationell, indem in dem Halbton zwiſchen c und h durch die enge Ver-

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Zitationshilfe: Vischer, Friedrich Theodor von: Ästhetik oder Wissenschaft des Schönen. Bd. 3,2,4. Stuttgart, 1857, S. 867. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/vischer_aesthetik030204_1857/105>, abgerufen am 22.11.2024.