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Vischer, Friedrich Theodor von: Ästhetik oder Wissenschaft des Schönen. Bd. 3,2,4. Stuttgart, 1857.

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eben mit ihr die Region der Prim schon verlassen zu haben und aus ihr in
die der Octave übergeschritten zu sein, sich von selbst einstellt. Es handelt
sich also genau gesprochen nicht mehr um Ausfüllung der Octavenreihe,
sondern um Ausfüllung dieser zwei Abschnitte vor und nach der Dominante.
Die Ausfüllung -- diese Bemerkung ist nothwendig voranzustellen -- ge-
schieht, weil nach §. 768, 2. die aufsteigende Bewegung die maßgebende
sein muß, von unten her, oder sie geschieht so, daß der den Gesetzen des
Gefühls und der Phantasie entsprechende Tonfortgang, durch den diese
Ausfüllung zu Stande kommen soll, von unten nach oben zu verwirklicht
wird. Dieser Fortgang ist nun zunächst mittelst Ganztönen zu machen, da
dieß einmal der natürliche, der einzig leichte, freie, klare Fortgang ist.
Aber Ganztöne allein können darin doch nicht vorkommen, da in diesem
Falle, wie eine einfache Rechnung mit den Intervallzahlen zeigt, weder von
der Prim aus die Dominante, noch von dieser aus die Octave zu erreichen
wäre; Halbtöne sind also nothwendig und zudem der Mannigfaltigkeit
wegen wünschenswerth; es fragt sich nur, wie sie gestellt werden, und es
ist für den ganzen Charakter der Tonfolge entscheidend, wie dieß geschieht.
Werden sie -- dieß ist das Erste, worauf es ankommt -- so gestellt, daß
in beiden Abschnitten der Tonreihe eine größere Periode von Ganztönen
erhalten bleibt, so herrscht natürlich in der ganzen Reihenfolge der Charakter
der Bewegung durch Ganztöne vor; werden sie aber so gestellt, daß die
Ganztonbewegung nach kurzer Dauer sogleich von der Halbtonbewegung
unterbrochen wird, so ist der Eindruck des Ganzen der einer durch die
Halbtonbewegung immer wieder aufgehobenen und durchbrochenen Ganz-
tonbewegung, also -- weil dieses den Normalverlauf durchbrechende Element
eben als solches vorzugsweise hervortritt -- eines Vorherrschens der Halb-
tonbewegung. Ferner: werden die Halbtöne so gestellt, daß sie erst am
Schluß der beiden Abschnitte der Octave stehen, so ordnen sie sich auch
hiemit den Ganztönen als bloße Uebergangs- oder Schlußtöne unter und
tragen andererseits auch zur Leichtigkeit, Klarheit, Gefälligkeit der ganzen
Leiter bei, weil gerade am Schlusse ein kleineres Intervall, ein stetigerer
Uebergang gefordert ist, damit das zu Ende Gehen, das nicht mehr weiter
Wollen der Bewegung klar hervortrete, die Bewegung gefällig sich abrunde
und ausklinge; werden die Halbtöne aber so gestellt, daß sie schon in der
Mitte oder gar am Anfang der Leiter, sowie ihrer einzelnen Abschnitte stehen,
so erhalten sie vorwiegende Bedeutung und geben zudem der ganzen Leiter-
bewegung einen schwerfälligern, dunklern, trübern Charakter, weil ihr
passende Schlüsse fehlen. Dieß sind die Momente, auf welchen die Unter-
schiede der Haupttonleitern und namentlich des Dur und Moll beruhen. Die
Durtonleiter ist diejenige, in welcher die Ganztonbewegung vorherrscht
und zugleich die befriedigendsten Schlußformen gegeben sind. Zu Anfang

eben mit ihr die Region der Prim ſchon verlaſſen zu haben und aus ihr in
die der Octave übergeſchritten zu ſein, ſich von ſelbſt einſtellt. Es handelt
ſich alſo genau geſprochen nicht mehr um Ausfüllung der Octavenreihe,
ſondern um Ausfüllung dieſer zwei Abſchnitte vor und nach der Dominante.
Die Ausfüllung — dieſe Bemerkung iſt nothwendig voranzuſtellen — ge-
ſchieht, weil nach §. 768, 2. die aufſteigende Bewegung die maßgebende
ſein muß, von unten her, oder ſie geſchieht ſo, daß der den Geſetzen des
Gefühls und der Phantaſie entſprechende Tonfortgang, durch den dieſe
Ausfüllung zu Stande kommen ſoll, von unten nach oben zu verwirklicht
wird. Dieſer Fortgang iſt nun zunächſt mittelſt Ganztönen zu machen, da
dieß einmal der natürliche, der einzig leichte, freie, klare Fortgang iſt.
Aber Ganztöne allein können darin doch nicht vorkommen, da in dieſem
Falle, wie eine einfache Rechnung mit den Intervallzahlen zeigt, weder von
der Prim aus die Dominante, noch von dieſer aus die Octave zu erreichen
wäre; Halbtöne ſind alſo nothwendig und zudem der Mannigfaltigkeit
wegen wünſchenswerth; es fragt ſich nur, wie ſie geſtellt werden, und es
iſt für den ganzen Charakter der Tonfolge entſcheidend, wie dieß geſchieht.
Werden ſie — dieß iſt das Erſte, worauf es ankommt — ſo geſtellt, daß
in beiden Abſchnitten der Tonreihe eine größere Periode von Ganztönen
erhalten bleibt, ſo herrſcht natürlich in der ganzen Reihenfolge der Charakter
der Bewegung durch Ganztöne vor; werden ſie aber ſo geſtellt, daß die
Ganztonbewegung nach kurzer Dauer ſogleich von der Halbtonbewegung
unterbrochen wird, ſo iſt der Eindruck des Ganzen der einer durch die
Halbtonbewegung immer wieder aufgehobenen und durchbrochenen Ganz-
tonbewegung, alſo — weil dieſes den Normalverlauf durchbrechende Element
eben als ſolches vorzugsweiſe hervortritt — eines Vorherrſchens der Halb-
tonbewegung. Ferner: werden die Halbtöne ſo geſtellt, daß ſie erſt am
Schluß der beiden Abſchnitte der Octave ſtehen, ſo ordnen ſie ſich auch
hiemit den Ganztönen als bloße Uebergangs- oder Schlußtöne unter und
tragen andererſeits auch zur Leichtigkeit, Klarheit, Gefälligkeit der ganzen
Leiter bei, weil gerade am Schluſſe ein kleineres Intervall, ein ſtetigerer
Uebergang gefordert iſt, damit das zu Ende Gehen, das nicht mehr weiter
Wollen der Bewegung klar hervortrete, die Bewegung gefällig ſich abrunde
und ausklinge; werden die Halbtöne aber ſo geſtellt, daß ſie ſchon in der
Mitte oder gar am Anfang der Leiter, ſowie ihrer einzelnen Abſchnitte ſtehen,
ſo erhalten ſie vorwiegende Bedeutung und geben zudem der ganzen Leiter-
bewegung einen ſchwerfälligern, dunklern, trübern Charakter, weil ihr
paſſende Schlüſſe fehlen. Dieß ſind die Momente, auf welchen die Unter-
ſchiede der Haupttonleitern und namentlich des Dur und Moll beruhen. Die
Durtonleiter iſt diejenige, in welcher die Ganztonbewegung vorherrſcht
und zugleich die befriedigendſten Schlußformen gegeben ſind. Zu Anfang

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[865/0103] eben mit ihr die Region der Prim ſchon verlaſſen zu haben und aus ihr in die der Octave übergeſchritten zu ſein, ſich von ſelbſt einſtellt. Es handelt ſich alſo genau geſprochen nicht mehr um Ausfüllung der Octavenreihe, ſondern um Ausfüllung dieſer zwei Abſchnitte vor und nach der Dominante. Die Ausfüllung — dieſe Bemerkung iſt nothwendig voranzuſtellen — ge- ſchieht, weil nach §. 768, 2. die aufſteigende Bewegung die maßgebende ſein muß, von unten her, oder ſie geſchieht ſo, daß der den Geſetzen des Gefühls und der Phantaſie entſprechende Tonfortgang, durch den dieſe Ausfüllung zu Stande kommen ſoll, von unten nach oben zu verwirklicht wird. Dieſer Fortgang iſt nun zunächſt mittelſt Ganztönen zu machen, da dieß einmal der natürliche, der einzig leichte, freie, klare Fortgang iſt. Aber Ganztöne allein können darin doch nicht vorkommen, da in dieſem Falle, wie eine einfache Rechnung mit den Intervallzahlen zeigt, weder von der Prim aus die Dominante, noch von dieſer aus die Octave zu erreichen wäre; Halbtöne ſind alſo nothwendig und zudem der Mannigfaltigkeit wegen wünſchenswerth; es fragt ſich nur, wie ſie geſtellt werden, und es iſt für den ganzen Charakter der Tonfolge entſcheidend, wie dieß geſchieht. Werden ſie — dieß iſt das Erſte, worauf es ankommt — ſo geſtellt, daß in beiden Abſchnitten der Tonreihe eine größere Periode von Ganztönen erhalten bleibt, ſo herrſcht natürlich in der ganzen Reihenfolge der Charakter der Bewegung durch Ganztöne vor; werden ſie aber ſo geſtellt, daß die Ganztonbewegung nach kurzer Dauer ſogleich von der Halbtonbewegung unterbrochen wird, ſo iſt der Eindruck des Ganzen der einer durch die Halbtonbewegung immer wieder aufgehobenen und durchbrochenen Ganz- tonbewegung, alſo — weil dieſes den Normalverlauf durchbrechende Element eben als ſolches vorzugsweiſe hervortritt — eines Vorherrſchens der Halb- tonbewegung. Ferner: werden die Halbtöne ſo geſtellt, daß ſie erſt am Schluß der beiden Abſchnitte der Octave ſtehen, ſo ordnen ſie ſich auch hiemit den Ganztönen als bloße Uebergangs- oder Schlußtöne unter und tragen andererſeits auch zur Leichtigkeit, Klarheit, Gefälligkeit der ganzen Leiter bei, weil gerade am Schluſſe ein kleineres Intervall, ein ſtetigerer Uebergang gefordert iſt, damit das zu Ende Gehen, das nicht mehr weiter Wollen der Bewegung klar hervortrete, die Bewegung gefällig ſich abrunde und ausklinge; werden die Halbtöne aber ſo geſtellt, daß ſie ſchon in der Mitte oder gar am Anfang der Leiter, ſowie ihrer einzelnen Abſchnitte ſtehen, ſo erhalten ſie vorwiegende Bedeutung und geben zudem der ganzen Leiter- bewegung einen ſchwerfälligern, dunklern, trübern Charakter, weil ihr paſſende Schlüſſe fehlen. Dieß ſind die Momente, auf welchen die Unter- ſchiede der Haupttonleitern und namentlich des Dur und Moll beruhen. Die Durtonleiter iſt diejenige, in welcher die Ganztonbewegung vorherrſcht und zugleich die befriedigendſten Schlußformen gegeben ſind. Zu Anfang

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Zitationshilfe: Vischer, Friedrich Theodor von: Ästhetik oder Wissenschaft des Schönen. Bd. 3,2,4. Stuttgart, 1857, S. 865. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/vischer_aesthetik030204_1857/103>, abgerufen am 23.11.2024.