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Vischer, Friedrich Theodor von: Ästhetik oder Wissenschaft des Schönen. Bd. 3,2,3. Stuttgart, 1854.

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zarten Sinn unter den Standpunct des Erhabenen oder Komischen, so
daß das Verhältniß wirklich ganz das umgekehrte vom plastischen ist, wo
der Standpunct des einfach Schönen auch auf das Erhabene und Komische
bestimmend wirkt. Der Zug der Trauer, den Mehrere im plastischen
Kunstwerke gefunden, liegt mehr im Zuschauer und hat gegenständlich nur
darin seinen Grund, daß die Sculptur durch ihre innern Schranken
geschichtlich auf eine vor dem aufgegangenen Geisteslicht verblaßte,
hinabgesunkene Götterwelt angewiesen ist und deren Entschlafen in der
steinernen Erstarrung unwillkührlich darstellt; in dem Hauche der Weh-
muth dagegen, der um die malerische Schönheit spielt, dem Zuge eines
fernher dämmernden tragischen Gefühls, den sie in den Blick und die
Lippen der jugendlichen Grazie legt, drückt der Künstler bestimmt das Ge-
fühl aus, daß jederzeit und abgesehen von einem bestimmten Kunst-Ideal
die Blüthe der reinen Form schnell hinwelkt, und er kündigt gleichsam an,
daß er eine beständigere Form des Schönen zu geben vermag in der
durchfurchten Gestalt, welche keine Jugendschönheit mehr einzubüßen, aber
aus ihrem Leibe das feste Haus des Charakters geschaffen hat. Er kann
aber der Blüthe der Schönheit auch ein Lächeln geben, als wisse sie um
ihre Naivetät, stehe mit halbem Bewußtsein helldunkel darüber, sage sich
selbst, daß das so zwar nicht dauern könne, gebe sich aber doch in heiterem
Widerspruch dem süßen Traume hin.

§. 657.

Dieß Alles faßt sich in dem Sätze zusammen, daß nunmehr das Gesetz
der directen Idealisirung, wonach die einzelne Gestalt schön sein muß, dem der
indirecten Idealisirung, gewichen ist, wonach das Schöne aus der Ge-
sammtwirkung einer Vielheit von Gestalten hervorgeht, die im Einzelnen nicht
schön sein müssen, deren Ausdruck vielmehr durch irgend einen Grad von Miß-
verhältniß der Form zu steigern im künstlerischen Interesse liegt. Das Gesetz
der directen Idealisirung ist aber nicht schlechthin unterdrückt, sondern besteht
in seiner Unterordnung noch fort.

Das Wesentliche dieser prinzipiell zusammenfassenden Bestimmung
bedarf keiner Erläuterung; es erhellt Alles aus der Vergleichung mit
§. 603. Durch den Zusatz: "deren Ausdruck vielmehr" u. s. w. ist in
diese Bestimmung auch das Moment aufgenommen, daß außer dem Zu-
sammenwirken und wechselseitigen sich-Ergänzen mehrerer Gestalten auch
in der einzelnen Gestalt die Gesammtwirkung des Ausdrucks mit dem
minder Schönen oder Unschönen auf der Seite der Vielheit, nämlich jetzt
der Formen dieser einzelnen Gestalt, versöhnt; Letzteres tritt vorzüglich dann

zarten Sinn unter den Standpunct des Erhabenen oder Komiſchen, ſo
daß das Verhältniß wirklich ganz das umgekehrte vom plaſtiſchen iſt, wo
der Standpunct des einfach Schönen auch auf das Erhabene und Komiſche
beſtimmend wirkt. Der Zug der Trauer, den Mehrere im plaſtiſchen
Kunſtwerke gefunden, liegt mehr im Zuſchauer und hat gegenſtändlich nur
darin ſeinen Grund, daß die Sculptur durch ihre innern Schranken
geſchichtlich auf eine vor dem aufgegangenen Geiſteslicht verblaßte,
hinabgeſunkene Götterwelt angewieſen iſt und deren Entſchlafen in der
ſteinernen Erſtarrung unwillkührlich darſtellt; in dem Hauche der Weh-
muth dagegen, der um die maleriſche Schönheit ſpielt, dem Zuge eines
fernher dämmernden tragiſchen Gefühls, den ſie in den Blick und die
Lippen der jugendlichen Grazie legt, drückt der Künſtler beſtimmt das Ge-
fühl aus, daß jederzeit und abgeſehen von einem beſtimmten Kunſt-Ideal
die Blüthe der reinen Form ſchnell hinwelkt, und er kündigt gleichſam an,
daß er eine beſtändigere Form des Schönen zu geben vermag in der
durchfurchten Geſtalt, welche keine Jugendſchönheit mehr einzubüßen, aber
aus ihrem Leibe das feſte Haus des Charakters geſchaffen hat. Er kann
aber der Blüthe der Schönheit auch ein Lächeln geben, als wiſſe ſie um
ihre Naivetät, ſtehe mit halbem Bewußtſein helldunkel darüber, ſage ſich
ſelbſt, daß das ſo zwar nicht dauern könne, gebe ſich aber doch in heiterem
Widerſpruch dem ſüßen Traume hin.

§. 657.

Dieß Alles faßt ſich in dem Sätze zuſammen, daß nunmehr das Geſetz
der directen Idealiſirung, wonach die einzelne Geſtalt ſchön ſein muß, dem der
indirecten Idealiſirung, gewichen iſt, wonach das Schöne aus der Ge-
ſammtwirkung einer Vielheit von Geſtalten hervorgeht, die im Einzelnen nicht
ſchön ſein müſſen, deren Ausdruck vielmehr durch irgend einen Grad von Miß-
verhältniß der Form zu ſteigern im künſtleriſchen Intereſſe liegt. Das Geſetz
der directen Idealiſirung iſt aber nicht ſchlechthin unterdrückt, ſondern beſteht
in ſeiner Unterordnung noch fort.

Das Weſentliche dieſer prinzipiell zuſammenfaſſenden Beſtimmung
bedarf keiner Erläuterung; es erhellt Alles aus der Vergleichung mit
§. 603. Durch den Zuſatz: „deren Ausdruck vielmehr“ u. ſ. w. iſt in
dieſe Beſtimmung auch das Moment aufgenommen, daß außer dem Zu-
ſammenwirken und wechſelſeitigen ſich-Ergänzen mehrerer Geſtalten auch
in der einzelnen Geſtalt die Geſammtwirkung des Ausdrucks mit dem
minder Schönen oder Unſchönen auf der Seite der Vielheit, nämlich jetzt
der Formen dieſer einzelnen Geſtalt, verſöhnt; Letzteres tritt vorzüglich dann

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[533/0041] zarten Sinn unter den Standpunct des Erhabenen oder Komiſchen, ſo daß das Verhältniß wirklich ganz das umgekehrte vom plaſtiſchen iſt, wo der Standpunct des einfach Schönen auch auf das Erhabene und Komiſche beſtimmend wirkt. Der Zug der Trauer, den Mehrere im plaſtiſchen Kunſtwerke gefunden, liegt mehr im Zuſchauer und hat gegenſtändlich nur darin ſeinen Grund, daß die Sculptur durch ihre innern Schranken geſchichtlich auf eine vor dem aufgegangenen Geiſteslicht verblaßte, hinabgeſunkene Götterwelt angewieſen iſt und deren Entſchlafen in der ſteinernen Erſtarrung unwillkührlich darſtellt; in dem Hauche der Weh- muth dagegen, der um die maleriſche Schönheit ſpielt, dem Zuge eines fernher dämmernden tragiſchen Gefühls, den ſie in den Blick und die Lippen der jugendlichen Grazie legt, drückt der Künſtler beſtimmt das Ge- fühl aus, daß jederzeit und abgeſehen von einem beſtimmten Kunſt-Ideal die Blüthe der reinen Form ſchnell hinwelkt, und er kündigt gleichſam an, daß er eine beſtändigere Form des Schönen zu geben vermag in der durchfurchten Geſtalt, welche keine Jugendſchönheit mehr einzubüßen, aber aus ihrem Leibe das feſte Haus des Charakters geſchaffen hat. Er kann aber der Blüthe der Schönheit auch ein Lächeln geben, als wiſſe ſie um ihre Naivetät, ſtehe mit halbem Bewußtſein helldunkel darüber, ſage ſich ſelbſt, daß das ſo zwar nicht dauern könne, gebe ſich aber doch in heiterem Widerſpruch dem ſüßen Traume hin. §. 657. Dieß Alles faßt ſich in dem Sätze zuſammen, daß nunmehr das Geſetz der directen Idealiſirung, wonach die einzelne Geſtalt ſchön ſein muß, dem der indirecten Idealiſirung, gewichen iſt, wonach das Schöne aus der Ge- ſammtwirkung einer Vielheit von Geſtalten hervorgeht, die im Einzelnen nicht ſchön ſein müſſen, deren Ausdruck vielmehr durch irgend einen Grad von Miß- verhältniß der Form zu ſteigern im künſtleriſchen Intereſſe liegt. Das Geſetz der directen Idealiſirung iſt aber nicht ſchlechthin unterdrückt, ſondern beſteht in ſeiner Unterordnung noch fort. Das Weſentliche dieſer prinzipiell zuſammenfaſſenden Beſtimmung bedarf keiner Erläuterung; es erhellt Alles aus der Vergleichung mit §. 603. Durch den Zuſatz: „deren Ausdruck vielmehr“ u. ſ. w. iſt in dieſe Beſtimmung auch das Moment aufgenommen, daß außer dem Zu- ſammenwirken und wechſelſeitigen ſich-Ergänzen mehrerer Geſtalten auch in der einzelnen Geſtalt die Geſammtwirkung des Ausdrucks mit dem minder Schönen oder Unſchönen auf der Seite der Vielheit, nämlich jetzt der Formen dieſer einzelnen Geſtalt, verſöhnt; Letzteres tritt vorzüglich dann

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Zitationshilfe: Vischer, Friedrich Theodor von: Ästhetik oder Wissenschaft des Schönen. Bd. 3,2,3. Stuttgart, 1854, S. 533. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/vischer_aesthetik030203_1854/41>, abgerufen am 29.03.2024.