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Vischer, Friedrich Theodor von: Ästhetik oder Wissenschaft des Schönen. Bd. 3,2,3. Stuttgart, 1854.

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nen Vielheit von Individuen zusammen. Dieser Punct unter unendlich
vielen Puncten, der Einzelne, ist nun, weil die Unendlichkeit des Geistes
in ihm gezündet, weil sich in ihm das Ganze des Menschengeistes zu je-
nem aus dem Innern in's Aeußere scheinenden Strahl zusammenfaßt, zu
einer, der plastischen Anschauung in diesem Umfang völlig fremden Be-
rechtigung in der Kunst emporgehoben. Schon bei der vorhergehenden
Betrachtung ergab sich uns, daß Gestalt, Bewegung, innere Welt von
Neigungen und Kräften, Leidenschaft bis in das Unförmliche, Einseitige,
Zerrissene gehen mag; dabei ist die Vergleichung mit Andern eigentlich
bereits vorausgesetzt, aber erst, wenn wir diese nun ausdrücklich vorneh-
men, tritt die Sache in ihr volles Licht und erhellen die Resultate.
Man stelle nun einen Menschen von dürftiger oder unregelmäßiger Er-
scheinung, worin sich eine mehr oder minder harte Einseitigkeit des Vor-
wiegens gewisser Neigungen, Kräfte, eine schwere Hemmung, Verwicklung
ausspricht, die jedoch von einer tiefen, originellen Natur zeugt, neben eine
Gestalt von der Art, die man racemäßig nennt, rein in Formen, im Aus-
druck nicht geistlos, aber ohne das Salz einer besondern, nur dieser Per-
son eigenen Mischung der Kräfte, so wird man nicht anstehen, die erstere
mehr malerisch zu nennen. Versteht sich übrigens, daß die Unregelmäßig-
keit nicht bis zur auffallenden Störung der normalen Grundmaaße fort-
gehen muß, daß die Malerei den grelleren Absprung von diesem nicht
ohne besondern Anlaß sucht, sondern nur, wenn er sich ihr darbietet, zu
einem ästhetischen Motiv verarbeiten kann; im Gegensatze gegen das
plastische Ideal genügt zur malerischen Würze ein Absprung, der in dem
Reiche der möglichen Unregelmäßigkeiten selbst noch fein, anziehend er-
scheinen kann; wir reden immer von einer unbestimmbaren Scala, ohne
ihre Anfänge und ihre härteren Stufen zu unterscheiden. Eine unendliche
Mannigfaltigkeit der Brechungen des reinen Menschentypus ist nun also
mit der Geltung der persönlichen Monade in das ästhetische Recht einge-
setzt. Die Sonne der Malerei scheinet über Gerechte und Ungerechte,
d. h. Schöne und Unschöne, und wie der Stifter der christlichen Religion
ausrief: selig sind, die arm an Geist sind, denn ihrer ist das Himmel-
reich, so sind nun auch die Armen an Gestalt zur himmlischen Weihe der
Kunst eingelassen. -- Dieß neue Gesetz gilt nun auch der übrigen Natur.
Das Thier braucht, um malerisch zu erscheinen, nicht nur nicht zu einer
formenschönen Gattung zu gehören, sondern es muß nicht einmal noth-
wendig ein formenschönes Exemplar seiner eigenen Gattung sein, wenn es
nur in bestimmtem Zusammenhang einen schlagenden Ausdruck hat; der
Maler kann z. B. recht wohl den trägen, etwas herabgekommenen Kar-
rengaul zur Darstellung nehmen, vor dem der Bildner das Kreuz machen
müßte. Aber auch mit der Landschaft verhält es sich so; sie braucht nicht

nen Vielheit von Individuen zuſammen. Dieſer Punct unter unendlich
vielen Puncten, der Einzelne, iſt nun, weil die Unendlichkeit des Geiſtes
in ihm gezündet, weil ſich in ihm das Ganze des Menſchengeiſtes zu je-
nem aus dem Innern in’s Aeußere ſcheinenden Strahl zuſammenfaßt, zu
einer, der plaſtiſchen Anſchauung in dieſem Umfang völlig fremden Be-
rechtigung in der Kunſt emporgehoben. Schon bei der vorhergehenden
Betrachtung ergab ſich uns, daß Geſtalt, Bewegung, innere Welt von
Neigungen und Kräften, Leidenſchaft bis in das Unförmliche, Einſeitige,
Zerriſſene gehen mag; dabei iſt die Vergleichung mit Andern eigentlich
bereits vorausgeſetzt, aber erſt, wenn wir dieſe nun ausdrücklich vorneh-
men, tritt die Sache in ihr volles Licht und erhellen die Reſultate.
Man ſtelle nun einen Menſchen von dürftiger oder unregelmäßiger Er-
ſcheinung, worin ſich eine mehr oder minder harte Einſeitigkeit des Vor-
wiegens gewiſſer Neigungen, Kräfte, eine ſchwere Hemmung, Verwicklung
ausſpricht, die jedoch von einer tiefen, originellen Natur zeugt, neben eine
Geſtalt von der Art, die man racemäßig nennt, rein in Formen, im Aus-
druck nicht geiſtlos, aber ohne das Salz einer beſondern, nur dieſer Per-
ſon eigenen Miſchung der Kräfte, ſo wird man nicht anſtehen, die erſtere
mehr maleriſch zu nennen. Verſteht ſich übrigens, daß die Unregelmäßig-
keit nicht bis zur auffallenden Störung der normalen Grundmaaße fort-
gehen muß, daß die Malerei den grelleren Abſprung von dieſem nicht
ohne beſondern Anlaß ſucht, ſondern nur, wenn er ſich ihr darbietet, zu
einem äſthetiſchen Motiv verarbeiten kann; im Gegenſatze gegen das
plaſtiſche Ideal genügt zur maleriſchen Würze ein Abſprung, der in dem
Reiche der möglichen Unregelmäßigkeiten ſelbſt noch fein, anziehend er-
ſcheinen kann; wir reden immer von einer unbeſtimmbaren Scala, ohne
ihre Anfänge und ihre härteren Stufen zu unterſcheiden. Eine unendliche
Mannigfaltigkeit der Brechungen des reinen Menſchentypus iſt nun alſo
mit der Geltung der perſönlichen Monade in das äſthetiſche Recht einge-
ſetzt. Die Sonne der Malerei ſcheinet über Gerechte und Ungerechte,
d. h. Schöne und Unſchöne, und wie der Stifter der chriſtlichen Religion
ausrief: ſelig ſind, die arm an Geiſt ſind, denn ihrer iſt das Himmel-
reich, ſo ſind nun auch die Armen an Geſtalt zur himmliſchen Weihe der
Kunſt eingelaſſen. — Dieß neue Geſetz gilt nun auch der übrigen Natur.
Das Thier braucht, um maleriſch zu erſcheinen, nicht nur nicht zu einer
formenſchönen Gattung zu gehören, ſondern es muß nicht einmal noth-
wendig ein formenſchönes Exemplar ſeiner eigenen Gattung ſein, wenn es
nur in beſtimmtem Zuſammenhang einen ſchlagenden Ausdruck hat; der
Maler kann z. B. recht wohl den trägen, etwas herabgekommenen Kar-
rengaul zur Darſtellung nehmen, vor dem der Bildner das Kreuz machen
müßte. Aber auch mit der Landſchaft verhält es ſich ſo; ſie braucht nicht

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[529/0037] nen Vielheit von Individuen zuſammen. Dieſer Punct unter unendlich vielen Puncten, der Einzelne, iſt nun, weil die Unendlichkeit des Geiſtes in ihm gezündet, weil ſich in ihm das Ganze des Menſchengeiſtes zu je- nem aus dem Innern in’s Aeußere ſcheinenden Strahl zuſammenfaßt, zu einer, der plaſtiſchen Anſchauung in dieſem Umfang völlig fremden Be- rechtigung in der Kunſt emporgehoben. Schon bei der vorhergehenden Betrachtung ergab ſich uns, daß Geſtalt, Bewegung, innere Welt von Neigungen und Kräften, Leidenſchaft bis in das Unförmliche, Einſeitige, Zerriſſene gehen mag; dabei iſt die Vergleichung mit Andern eigentlich bereits vorausgeſetzt, aber erſt, wenn wir dieſe nun ausdrücklich vorneh- men, tritt die Sache in ihr volles Licht und erhellen die Reſultate. Man ſtelle nun einen Menſchen von dürftiger oder unregelmäßiger Er- ſcheinung, worin ſich eine mehr oder minder harte Einſeitigkeit des Vor- wiegens gewiſſer Neigungen, Kräfte, eine ſchwere Hemmung, Verwicklung ausſpricht, die jedoch von einer tiefen, originellen Natur zeugt, neben eine Geſtalt von der Art, die man racemäßig nennt, rein in Formen, im Aus- druck nicht geiſtlos, aber ohne das Salz einer beſondern, nur dieſer Per- ſon eigenen Miſchung der Kräfte, ſo wird man nicht anſtehen, die erſtere mehr maleriſch zu nennen. Verſteht ſich übrigens, daß die Unregelmäßig- keit nicht bis zur auffallenden Störung der normalen Grundmaaße fort- gehen muß, daß die Malerei den grelleren Abſprung von dieſem nicht ohne beſondern Anlaß ſucht, ſondern nur, wenn er ſich ihr darbietet, zu einem äſthetiſchen Motiv verarbeiten kann; im Gegenſatze gegen das plaſtiſche Ideal genügt zur maleriſchen Würze ein Abſprung, der in dem Reiche der möglichen Unregelmäßigkeiten ſelbſt noch fein, anziehend er- ſcheinen kann; wir reden immer von einer unbeſtimmbaren Scala, ohne ihre Anfänge und ihre härteren Stufen zu unterſcheiden. Eine unendliche Mannigfaltigkeit der Brechungen des reinen Menſchentypus iſt nun alſo mit der Geltung der perſönlichen Monade in das äſthetiſche Recht einge- ſetzt. Die Sonne der Malerei ſcheinet über Gerechte und Ungerechte, d. h. Schöne und Unſchöne, und wie der Stifter der chriſtlichen Religion ausrief: ſelig ſind, die arm an Geiſt ſind, denn ihrer iſt das Himmel- reich, ſo ſind nun auch die Armen an Geſtalt zur himmliſchen Weihe der Kunſt eingelaſſen. — Dieß neue Geſetz gilt nun auch der übrigen Natur. Das Thier braucht, um maleriſch zu erſcheinen, nicht nur nicht zu einer formenſchönen Gattung zu gehören, ſondern es muß nicht einmal noth- wendig ein formenſchönes Exemplar ſeiner eigenen Gattung ſein, wenn es nur in beſtimmtem Zuſammenhang einen ſchlagenden Ausdruck hat; der Maler kann z. B. recht wohl den trägen, etwas herabgekommenen Kar- rengaul zur Darſtellung nehmen, vor dem der Bildner das Kreuz machen müßte. Aber auch mit der Landſchaft verhält es ſich ſo; ſie braucht nicht

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Zitationshilfe: Vischer, Friedrich Theodor von: Ästhetik oder Wissenschaft des Schönen. Bd. 3,2,3. Stuttgart, 1854, S. 529. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/vischer_aesthetik030203_1854/37>, abgerufen am 28.03.2024.