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Vischer, Friedrich Theodor von: Ästhetik oder Wissenschaft des Schönen. Bd. 3,2,3. Stuttgart, 1854.

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feurig dramatischer Bewegung, ein Ueberschuß an Reflexion, an Bewußt-
heit, ein Mangel an Naivetät. Landschaft und Sittenbild entwickelten
sich frei und geistreich, unbeirrt von dem religiösen Kunst-Dogma, in der
geschichtlichen Sphäre ergriff die feine und starke Kraft Lessings mit
frei protestantischem Sinn die Stoffe der Reformation, gieng auch vom
bloßen Situationsbilde (vergl. §. 711 Anm.) zu bewegteren Scenen fort;
doch daß geschichtliche Stoffe von Zöglingen dieser Schule mit solcher
Frische und Schneide erfaßt werden, wie von Leutze in jenem Bilde
Washingtons, ist sehr neu. -- Hier mußte wieder romanisches Feuer
einwirken. Die Franzosen hatten sich aus dem Classicismus heraus-
gearbeitet, hatten sich an der Hand der großen Meister Italiens
wieder zum Leben und zur Farbe gewendet, und der natürliche frische
Griff, das geistreiche Packen der Dinge im schlagenden Momente, das
dieser Nation eigen ist, entwickelte eine Verbindung von kühnem, wirkungs-
vollem Naturalismus und energischer dramatischer Bewegtheit, in der
Ausführung von jener Sicherheit der Zeichnung unterstützt, die eine Frucht
der strengen akademischen Zucht war, jetzt aber von den geschilderten Ue-
beln dieses Ursprungs sich befreite und in ein volles und kräftiges Farben-
Element eintauchte. Alle Zweige wurden energisch erfaßt, Leopold
Robert
, der Schöpfer des höheren, plastisch malerischen Sittenbilds,
machte seine erste Schule in Paris; das Bedeutendste aber war der feu-
rige Geist, womit man die höchste moderne Aufgabe, das Geschichtliche,
ergriff. Wir nennen nur Horace Vernet und Delaroche. -- Von
anderer Seite brachen auch die Belgier mit dem David'schen Classicismus
und gedachten wieder ihres Rubens; als Führer gieng Wappers vor-
an; der alte Farbensinn erwachte in seiner Tiefe und Wärme. Sie
wandten sich aber zugleich zu den Franzosen und suchten sich nicht nur
ihre Zeichnung, sondern auch ihre Art des Effectes zu eigen zu machen.
Diese französisch belgische Kunst war es denn, welche vorzüglich durch
Gallaits Bild "die Abdankung Carls V" die Deutschen aus ihrer
mythisch-allegorischen Gedankenhaftigkeit und der neu eingedrungenen
plastischen Bevorzugung der Zeichnung, der linearen Composition auf-
schüttelte. Ueber diesen Moment, seine Folgen und deren Gefahren vergl.
namentlich die mehr angeführte Schrift von A. Teichlein. Es ist in
dieser französisch belgischen Kunst ein Ertränken der Idee in der Sächlichkeit
des Gegenstands, wogegen allerdings der deutsche Geist seine Gedanken-
tiefe behaupten muß, gewiß nicht, um in allegorischer Form den Gedanken
des Gegenstands neben den Gegenstand zu stellen, sondern um diesen
so zu behandeln, daß er aus ihm selbst schlagend herausleuchte; es ist,
während nach dieser Seite die Verzichtung nur zu weit getrieben wird,
nach der andern eine Absichtlichkeit des Effects darin, die selbst grasse

feurig dramatiſcher Bewegung, ein Ueberſchuß an Reflexion, an Bewußt-
heit, ein Mangel an Naivetät. Landſchaft und Sittenbild entwickelten
ſich frei und geiſtreich, unbeirrt von dem religiöſen Kunſt-Dogma, in der
geſchichtlichen Sphäre ergriff die feine und ſtarke Kraft Leſſings mit
frei proteſtantiſchem Sinn die Stoffe der Reformation, gieng auch vom
bloßen Situationsbilde (vergl. §. 711 Anm.) zu bewegteren Scenen fort;
doch daß geſchichtliche Stoffe von Zöglingen dieſer Schule mit ſolcher
Friſche und Schneide erfaßt werden, wie von Leutze in jenem Bilde
Washingtons, iſt ſehr neu. — Hier mußte wieder romaniſches Feuer
einwirken. Die Franzoſen hatten ſich aus dem Claſſiciſmus heraus-
gearbeitet, hatten ſich an der Hand der großen Meiſter Italiens
wieder zum Leben und zur Farbe gewendet, und der natürliche friſche
Griff, das geiſtreiche Packen der Dinge im ſchlagenden Momente, das
dieſer Nation eigen iſt, entwickelte eine Verbindung von kühnem, wirkungs-
vollem Naturaliſmus und energiſcher dramatiſcher Bewegtheit, in der
Ausführung von jener Sicherheit der Zeichnung unterſtützt, die eine Frucht
der ſtrengen akademiſchen Zucht war, jetzt aber von den geſchilderten Ue-
beln dieſes Urſprungs ſich befreite und in ein volles und kräftiges Farben-
Element eintauchte. Alle Zweige wurden energiſch erfaßt, Leopold
Robert
, der Schöpfer des höheren, plaſtiſch maleriſchen Sittenbilds,
machte ſeine erſte Schule in Paris; das Bedeutendſte aber war der feu-
rige Geiſt, womit man die höchſte moderne Aufgabe, das Geſchichtliche,
ergriff. Wir nennen nur Horace Vernet und Delaroche. — Von
anderer Seite brachen auch die Belgier mit dem David’ſchen Claſſiciſmus
und gedachten wieder ihres Rubens; als Führer gieng Wappers vor-
an; der alte Farbenſinn erwachte in ſeiner Tiefe und Wärme. Sie
wandten ſich aber zugleich zu den Franzoſen und ſuchten ſich nicht nur
ihre Zeichnung, ſondern auch ihre Art des Effectes zu eigen zu machen.
Dieſe franzöſiſch belgiſche Kunſt war es denn, welche vorzüglich durch
Gallaits Bild „die Abdankung Carls V“ die Deutſchen aus ihrer
mythiſch-allegoriſchen Gedankenhaftigkeit und der neu eingedrungenen
plaſtiſchen Bevorzugung der Zeichnung, der linearen Compoſition auf-
ſchüttelte. Ueber dieſen Moment, ſeine Folgen und deren Gefahren vergl.
namentlich die mehr angeführte Schrift von A. Teichlein. Es iſt in
dieſer franzöſiſch belgiſchen Kunſt ein Ertränken der Idee in der Sächlichkeit
des Gegenſtands, wogegen allerdings der deutſche Geiſt ſeine Gedanken-
tiefe behaupten muß, gewiß nicht, um in allegoriſcher Form den Gedanken
des Gegenſtands neben den Gegenſtand zu ſtellen, ſondern um dieſen
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während nach dieſer Seite die Verzichtung nur zu weit getrieben wird,
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[753/0261] feurig dramatiſcher Bewegung, ein Ueberſchuß an Reflexion, an Bewußt- heit, ein Mangel an Naivetät. Landſchaft und Sittenbild entwickelten ſich frei und geiſtreich, unbeirrt von dem religiöſen Kunſt-Dogma, in der geſchichtlichen Sphäre ergriff die feine und ſtarke Kraft Leſſings mit frei proteſtantiſchem Sinn die Stoffe der Reformation, gieng auch vom bloßen Situationsbilde (vergl. §. 711 Anm.) zu bewegteren Scenen fort; doch daß geſchichtliche Stoffe von Zöglingen dieſer Schule mit ſolcher Friſche und Schneide erfaßt werden, wie von Leutze in jenem Bilde Washingtons, iſt ſehr neu. — Hier mußte wieder romaniſches Feuer einwirken. Die Franzoſen hatten ſich aus dem Claſſiciſmus heraus- gearbeitet, hatten ſich an der Hand der großen Meiſter Italiens wieder zum Leben und zur Farbe gewendet, und der natürliche friſche Griff, das geiſtreiche Packen der Dinge im ſchlagenden Momente, das dieſer Nation eigen iſt, entwickelte eine Verbindung von kühnem, wirkungs- vollem Naturaliſmus und energiſcher dramatiſcher Bewegtheit, in der Ausführung von jener Sicherheit der Zeichnung unterſtützt, die eine Frucht der ſtrengen akademiſchen Zucht war, jetzt aber von den geſchilderten Ue- beln dieſes Urſprungs ſich befreite und in ein volles und kräftiges Farben- Element eintauchte. Alle Zweige wurden energiſch erfaßt, Leopold Robert, der Schöpfer des höheren, plaſtiſch maleriſchen Sittenbilds, machte ſeine erſte Schule in Paris; das Bedeutendſte aber war der feu- rige Geiſt, womit man die höchſte moderne Aufgabe, das Geſchichtliche, ergriff. Wir nennen nur Horace Vernet und Delaroche. — Von anderer Seite brachen auch die Belgier mit dem David’ſchen Claſſiciſmus und gedachten wieder ihres Rubens; als Führer gieng Wappers vor- an; der alte Farbenſinn erwachte in ſeiner Tiefe und Wärme. Sie wandten ſich aber zugleich zu den Franzoſen und ſuchten ſich nicht nur ihre Zeichnung, ſondern auch ihre Art des Effectes zu eigen zu machen. Dieſe franzöſiſch belgiſche Kunſt war es denn, welche vorzüglich durch Gallaits Bild „die Abdankung Carls V“ die Deutſchen aus ihrer mythiſch-allegoriſchen Gedankenhaftigkeit und der neu eingedrungenen plaſtiſchen Bevorzugung der Zeichnung, der linearen Compoſition auf- ſchüttelte. Ueber dieſen Moment, ſeine Folgen und deren Gefahren vergl. namentlich die mehr angeführte Schrift von A. Teichlein. Es iſt in dieſer franzöſiſch belgiſchen Kunſt ein Ertränken der Idee in der Sächlichkeit des Gegenſtands, wogegen allerdings der deutſche Geiſt ſeine Gedanken- tiefe behaupten muß, gewiß nicht, um in allegoriſcher Form den Gedanken des Gegenſtands neben den Gegenſtand zu ſtellen, ſondern um dieſen ſo zu behandeln, daß er aus ihm ſelbſt ſchlagend herausleuchte; es iſt, während nach dieſer Seite die Verzichtung nur zu weit getrieben wird, nach der andern eine Abſichtlichkeit des Effects darin, die ſelbſt graſſe

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Zitationshilfe: Vischer, Friedrich Theodor von: Ästhetik oder Wissenschaft des Schönen. Bd. 3,2,3. Stuttgart, 1854, S. 753. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/vischer_aesthetik030203_1854/261>, abgerufen am 28.04.2024.