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Vischer, Friedrich Theodor von: Ästhetik oder Wissenschaft des Schönen. Bd. 3,2,3. Stuttgart, 1854.

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welt die nun eröffnete Möglichkeit die vom reineren Typus entfernteren
Racen, Völker, Stämme, die dürftigeren und unregelmäßigeren Formen
überhaupt darzustellen; dieß stellen wir nur schlechtweg auf, ohne es noch
weiter zu verfolgen, weil es andere, erst zu entwickelnde Momente sind,
welche nach dieser Seite hin als tieferer Grund der weiteren Ausdehnung
zur Sprache kommen, während bei der Thierwelt schon aus den verän-
derten technischen Mitteln die Möglichkeit derselben hervorgeht. Uebrigens
auch was diese betrifft, so wird die Erweiterung des Stoffs noch von
anderer Seite zu beleuchten sein. Das Wesentliche des Gewinns, in
Beziehung auf Darstellung der Thier- und Menschenwelt liegt nun aber
vor allem in der völlig freigegebenen Bewegung. Hier tritt das Er-
gebniß davon in Kraft, daß der Maler es mit gar keiner wirklichen
Schwere mehr zu thun hat. Flug, Sprung, Taumeln, jede Kühnheit
der Stellung: hindert den Künstler nur sonst keine ästhetische Rücksicht,
ein Nachwirken der Schwere des Materials in das Gefühl des Zuschauers
von den Schwere-Verhältnissen der nachgebildeten Figur hindert ihn nicht
an der freiesten Entfaltung in dieser Sphäre. Hiezu ist nun weiter die
Freigebung der Figuren-Menge, die geöffnete Tiefe, die freie Bestim-
mung des Künstlers über den Sehpunct, also über Art und Grad des
sich Deckens der Gestalten aus §. 648 zu nehmen: so erkennt man, daß
jede Art des Zusammenseins, Zusammenwirkens, Handelns durch die ge-
fallenen Schranken aufgethan ist. Kitten, Rudel, Heerden, reiche Men-
schengruppen, große Massen mögen auftreten in jedem Zustand, jeder
Form der Thätigkeit. Die Kunst hat sich in Besitz des ganzen Reichs
des Naturschönen gesetzt, die Welt ist offen, nur der Ton ist ausgenom-
men. Bei näherer Betrachtung werden wir freilich im Einzelnen wieder
Grenzen auftauchen sehen auch in Darstellung der sichtbaren Welt; hier,
wo es sich von ihren Gebieten erst im Großen handelt, mögen jene noch
verdeckt bleiben, denn diese im Ganzen und Allgemeinen sind geöffnet.
Es ist aber Zeit, daß wir von der weiten Aussicht zur Einsicht in die
veränderte innere Auffassung fortgehen.

§. 652.

Der Gewinn an Weite ist zugleich ein unendlicher Gewinn an Tiefe.
Durch die Uebersetzung des räumlichen Daseins in bloßen Schein überhaupt,
namentlich durch die Nachbildung des Lichts und Dunkels und am meisten durch
die Farbengebung, die als höchste Zusammenfassung aller Mittel dieser
Kunst ihr den Namen Malerei zutheilt, ist nun ein Uebergewicht des
Ausdrucks über die Form
begründet. Der Geist scheint als eine in sich
gesammelte Einheit und Unendlichkeit aus seinem Körper wie aus einer durch-

welt die nun eröffnete Möglichkeit die vom reineren Typus entfernteren
Racen, Völker, Stämme, die dürftigeren und unregelmäßigeren Formen
überhaupt darzuſtellen; dieß ſtellen wir nur ſchlechtweg auf, ohne es noch
weiter zu verfolgen, weil es andere, erſt zu entwickelnde Momente ſind,
welche nach dieſer Seite hin als tieferer Grund der weiteren Ausdehnung
zur Sprache kommen, während bei der Thierwelt ſchon aus den verän-
derten techniſchen Mitteln die Möglichkeit derſelben hervorgeht. Uebrigens
auch was dieſe betrifft, ſo wird die Erweiterung des Stoffs noch von
anderer Seite zu beleuchten ſein. Das Weſentliche des Gewinns, in
Beziehung auf Darſtellung der Thier- und Menſchenwelt liegt nun aber
vor allem in der völlig freigegebenen Bewegung. Hier tritt das Er-
gebniß davon in Kraft, daß der Maler es mit gar keiner wirklichen
Schwere mehr zu thun hat. Flug, Sprung, Taumeln, jede Kühnheit
der Stellung: hindert den Künſtler nur ſonſt keine äſthetiſche Rückſicht,
ein Nachwirken der Schwere des Materials in das Gefühl des Zuſchauers
von den Schwere-Verhältniſſen der nachgebildeten Figur hindert ihn nicht
an der freieſten Entfaltung in dieſer Sphäre. Hiezu iſt nun weiter die
Freigebung der Figuren-Menge, die geöffnete Tiefe, die freie Beſtim-
mung des Künſtlers über den Sehpunct, alſo über Art und Grad des
ſich Deckens der Geſtalten aus §. 648 zu nehmen: ſo erkennt man, daß
jede Art des Zuſammenſeins, Zuſammenwirkens, Handelns durch die ge-
fallenen Schranken aufgethan iſt. Kitten, Rudel, Heerden, reiche Men-
ſchengruppen, große Maſſen mögen auftreten in jedem Zuſtand, jeder
Form der Thätigkeit. Die Kunſt hat ſich in Beſitz des ganzen Reichs
des Naturſchönen geſetzt, die Welt iſt offen, nur der Ton iſt ausgenom-
men. Bei näherer Betrachtung werden wir freilich im Einzelnen wieder
Grenzen auftauchen ſehen auch in Darſtellung der ſichtbaren Welt; hier,
wo es ſich von ihren Gebieten erſt im Großen handelt, mögen jene noch
verdeckt bleiben, denn dieſe im Ganzen und Allgemeinen ſind geöffnet.
Es iſt aber Zeit, daß wir von der weiten Ausſicht zur Einſicht in die
veränderte innere Auffaſſung fortgehen.

§. 652.

Der Gewinn an Weite iſt zugleich ein unendlicher Gewinn an Tiefe.
Durch die Ueberſetzung des räumlichen Daſeins in bloßen Schein überhaupt,
namentlich durch die Nachbildung des Lichts und Dunkels und am meiſten durch
die Farbengebung, die als höchſte Zuſammenfaſſung aller Mittel dieſer
Kunſt ihr den Namen Malerei zutheilt, iſt nun ein Uebergewicht des
Ausdrucks über die Form
begründet. Der Geiſt ſcheint als eine in ſich
geſammelte Einheit und Unendlichkeit aus ſeinem Körper wie aus einer durch-

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[517/0025] welt die nun eröffnete Möglichkeit die vom reineren Typus entfernteren Racen, Völker, Stämme, die dürftigeren und unregelmäßigeren Formen überhaupt darzuſtellen; dieß ſtellen wir nur ſchlechtweg auf, ohne es noch weiter zu verfolgen, weil es andere, erſt zu entwickelnde Momente ſind, welche nach dieſer Seite hin als tieferer Grund der weiteren Ausdehnung zur Sprache kommen, während bei der Thierwelt ſchon aus den verän- derten techniſchen Mitteln die Möglichkeit derſelben hervorgeht. Uebrigens auch was dieſe betrifft, ſo wird die Erweiterung des Stoffs noch von anderer Seite zu beleuchten ſein. Das Weſentliche des Gewinns, in Beziehung auf Darſtellung der Thier- und Menſchenwelt liegt nun aber vor allem in der völlig freigegebenen Bewegung. Hier tritt das Er- gebniß davon in Kraft, daß der Maler es mit gar keiner wirklichen Schwere mehr zu thun hat. Flug, Sprung, Taumeln, jede Kühnheit der Stellung: hindert den Künſtler nur ſonſt keine äſthetiſche Rückſicht, ein Nachwirken der Schwere des Materials in das Gefühl des Zuſchauers von den Schwere-Verhältniſſen der nachgebildeten Figur hindert ihn nicht an der freieſten Entfaltung in dieſer Sphäre. Hiezu iſt nun weiter die Freigebung der Figuren-Menge, die geöffnete Tiefe, die freie Beſtim- mung des Künſtlers über den Sehpunct, alſo über Art und Grad des ſich Deckens der Geſtalten aus §. 648 zu nehmen: ſo erkennt man, daß jede Art des Zuſammenſeins, Zuſammenwirkens, Handelns durch die ge- fallenen Schranken aufgethan iſt. Kitten, Rudel, Heerden, reiche Men- ſchengruppen, große Maſſen mögen auftreten in jedem Zuſtand, jeder Form der Thätigkeit. Die Kunſt hat ſich in Beſitz des ganzen Reichs des Naturſchönen geſetzt, die Welt iſt offen, nur der Ton iſt ausgenom- men. Bei näherer Betrachtung werden wir freilich im Einzelnen wieder Grenzen auftauchen ſehen auch in Darſtellung der ſichtbaren Welt; hier, wo es ſich von ihren Gebieten erſt im Großen handelt, mögen jene noch verdeckt bleiben, denn dieſe im Ganzen und Allgemeinen ſind geöffnet. Es iſt aber Zeit, daß wir von der weiten Ausſicht zur Einſicht in die veränderte innere Auffaſſung fortgehen. §. 652. Der Gewinn an Weite iſt zugleich ein unendlicher Gewinn an Tiefe. Durch die Ueberſetzung des räumlichen Daſeins in bloßen Schein überhaupt, namentlich durch die Nachbildung des Lichts und Dunkels und am meiſten durch die Farbengebung, die als höchſte Zuſammenfaſſung aller Mittel dieſer Kunſt ihr den Namen Malerei zutheilt, iſt nun ein Uebergewicht des Ausdrucks über die Form begründet. Der Geiſt ſcheint als eine in ſich geſammelte Einheit und Unendlichkeit aus ſeinem Körper wie aus einer durch-

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Zitationshilfe: Vischer, Friedrich Theodor von: Ästhetik oder Wissenschaft des Schönen. Bd. 3,2,3. Stuttgart, 1854, S. 517. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/vischer_aesthetik030203_1854/25>, abgerufen am 28.03.2024.