Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Vischer, Friedrich Theodor von: Ästhetik oder Wissenschaft des Schönen. Bd. 3,2,3. Stuttgart, 1854.

Bild:
<< vorherige Seite

bloßen Vorstudie herabgesetzt zu werden bestimmt war, dießmal aber nicht
nur durch die harmonische Lebenswelle der vollendeten Zeichnung selbst,
sondern auch durch die volle Wirkung der Farbe. Das Interessante aber
ist dieß, daß die Venetianer zwar die Frucht dieser Zeichnungsstudien
pflücken, dagegen eine andere Seite, nach welcher dieselben in Padua sich
gelenkt hatten, nach kurzer Aufnahme völlig ausstoßen. Die Paduaner
nämlich geriethen durch ihre Detailschärfe in die härteste Charakteristik,
in unschönen Naturalismus, Nachahmung gemeiner, aus der Wirklichkeit
wahllos aufgegriffener Charakterformen. Davon war selbst Mantegna
nicht frei, der übrigens diese Verzweigung der italienischen Malerei zu
einer gewissen selbständigen Blüthe, einer Art von spezifischer Seitenblüthe
trieb, indem er durch vollendete Bestimmtheit der Modellirung, Perspective,
Schärfe der Lichter ein bis zur völligen Illusion wahres Lebensbild hin-
stellte, das zudem durch die zwar harte, aber treffende, genreartig fein be-
lauschende Charakteristik merkwürdig nach dem Geiste nordischer Malerei
hinüberweist. Die paduanische Herbe nun stößt, zwar nicht unmittelbar,
sondern unter Rückfällen in unedlere Form, schon Giovanni Bellini
aus und behält nur die Sicherheit der Hand, um sie zur harmonisch ausrun-
denden, schönen Zeichnung zu verwenden. Er ist es auch, der bereits die
Farbe, im Incarnat besonders, zu der Lebenswärme fortbildet, in der
alle Härten sich auflösen. Uebrigens dient dieses Element auf der Ueber-
gangsstufe, die der Meister des Titian einnimmt, vorherrschend noch der
innigen reliösen Empfindung, nur daß diese den mystischen Dämmerungs-
schleier des Pietro Perugino abgeworfen hat und taghell, klar aus den frei
geöffneten Augen blickt. Diese Tageshelle hat auch der übrigens jenem
umbrischen Meister so verwandte, unter Einflüssen von seiner Schule, von Pa-
dua und Venedig ausgebildete Francesco Francia in sich aufgenommen.

Bei dieser Verwendung des Farbenprinzips, welche übrigens schon
die älteren Meister, wie namentlich Giov. Bellini selbst, auch zu classischen
Stoffen, zu genre-artigen Darstellungen öffentlicher religiöser Auftritte
leitet, konnten nun die großen Meister der reifen Zeit, eine Giorgione,
ein Titian, Paolo Veronese nicht stehen bleiben, aber hier eben ist
es, wo noch einmal und in seiner ganzen Schärfe der oft dargestellte
Widerspruch zu Tage tritt: sie bewegen sich in dem größten Theil ihrer
Werke noch in den christlichen Stoffen, in welchen doch ihre wahre
Stärke nicht zu suchen ist, da die innere fromme Wunderwelt des roman-
tischen Gemüths nicht ihr Element sein kann. Nur nach zwei Richtungen
können sie ihre Größe auf diesem Gebiet entwickeln. Die eine besteht in
jener rein menschlich rationellen Auffassung der mythischen Stoffe, von
der wir zu §. 695 gesprochen haben. Dieß ist eine höchst interessante
Seite der Venetianer, es liegt etwas vom Geiste der Reformation darin,

bloßen Vorſtudie herabgeſetzt zu werden beſtimmt war, dießmal aber nicht
nur durch die harmoniſche Lebenswelle der vollendeten Zeichnung ſelbſt,
ſondern auch durch die volle Wirkung der Farbe. Das Intereſſante aber
iſt dieß, daß die Venetianer zwar die Frucht dieſer Zeichnungsſtudien
pflücken, dagegen eine andere Seite, nach welcher dieſelben in Padua ſich
gelenkt hatten, nach kurzer Aufnahme völlig ausſtoßen. Die Paduaner
nämlich geriethen durch ihre Detailſchärfe in die härteſte Charakteriſtik,
in unſchönen Naturaliſmus, Nachahmung gemeiner, aus der Wirklichkeit
wahllos aufgegriffener Charakterformen. Davon war ſelbſt Mantegna
nicht frei, der übrigens dieſe Verzweigung der italieniſchen Malerei zu
einer gewiſſen ſelbſtändigen Blüthe, einer Art von ſpezifiſcher Seitenblüthe
trieb, indem er durch vollendete Beſtimmtheit der Modellirung, Perſpective,
Schärfe der Lichter ein bis zur völligen Illuſion wahres Lebensbild hin-
ſtellte, das zudem durch die zwar harte, aber treffende, genreartig fein be-
lauſchende Charakteriſtik merkwürdig nach dem Geiſte nordiſcher Malerei
hinüberweist. Die paduaniſche Herbe nun ſtößt, zwar nicht unmittelbar,
ſondern unter Rückfällen in unedlere Form, ſchon Giovanni Bellini
aus und behält nur die Sicherheit der Hand, um ſie zur harmoniſch ausrun-
denden, ſchönen Zeichnung zu verwenden. Er iſt es auch, der bereits die
Farbe, im Incarnat beſonders, zu der Lebenswärme fortbildet, in der
alle Härten ſich auflöſen. Uebrigens dient dieſes Element auf der Ueber-
gangsſtufe, die der Meiſter des Titian einnimmt, vorherrſchend noch der
innigen reliöſen Empfindung, nur daß dieſe den myſtiſchen Dämmerungs-
ſchleier des Pietro Perugino abgeworfen hat und taghell, klar aus den frei
geöffneten Augen blickt. Dieſe Tageshelle hat auch der übrigens jenem
umbriſchen Meiſter ſo verwandte, unter Einflüſſen von ſeiner Schule, von Pa-
dua und Venedig ausgebildete Francesco Francia in ſich aufgenommen.

Bei dieſer Verwendung des Farbenprinzips, welche übrigens ſchon
die älteren Meiſter, wie namentlich Giov. Bellini ſelbſt, auch zu claſſiſchen
Stoffen, zu genre-artigen Darſtellungen öffentlicher religiöſer Auftritte
leitet, konnten nun die großen Meiſter der reifen Zeit, eine Giorgione,
ein Titian, Paolo Veroneſe nicht ſtehen bleiben, aber hier eben iſt
es, wo noch einmal und in ſeiner ganzen Schärfe der oft dargeſtellte
Widerſpruch zu Tage tritt: ſie bewegen ſich in dem größten Theil ihrer
Werke noch in den chriſtlichen Stoffen, in welchen doch ihre wahre
Stärke nicht zu ſuchen iſt, da die innere fromme Wunderwelt des roman-
tiſchen Gemüths nicht ihr Element ſein kann. Nur nach zwei Richtungen
können ſie ihre Größe auf dieſem Gebiet entwickeln. Die eine beſteht in
jener rein menſchlich rationellen Auffaſſung der mythiſchen Stoffe, von
der wir zu §. 695 geſprochen haben. Dieß iſt eine höchſt intereſſante
Seite der Venetianer, es liegt etwas vom Geiſte der Reformation darin,

<TEI>
  <text>
    <body>
      <div n="1">
        <div n="2">
          <div n="3">
            <div n="4">
              <div n="5">
                <p> <hi rendition="#et"><pb facs="#f0229" n="721"/>
bloßen Vor&#x017F;tudie herabge&#x017F;etzt zu werden be&#x017F;timmt war, dießmal aber nicht<lb/>
nur durch die harmoni&#x017F;che Lebenswelle der vollendeten Zeichnung &#x017F;elb&#x017F;t,<lb/>
&#x017F;ondern auch durch die volle Wirkung der Farbe. Das Intere&#x017F;&#x017F;ante aber<lb/>
i&#x017F;t dieß, daß die Venetianer zwar die Frucht die&#x017F;er Zeichnungs&#x017F;tudien<lb/>
pflücken, dagegen eine andere Seite, nach welcher die&#x017F;elben in Padua &#x017F;ich<lb/>
gelenkt hatten, nach kurzer Aufnahme völlig aus&#x017F;toßen. Die Paduaner<lb/>
nämlich geriethen durch ihre Detail&#x017F;chärfe in die härte&#x017F;te Charakteri&#x017F;tik,<lb/>
in un&#x017F;chönen Naturali&#x017F;mus, Nachahmung gemeiner, aus der Wirklichkeit<lb/>
wahllos aufgegriffener Charakterformen. Davon war &#x017F;elb&#x017F;t <hi rendition="#g">Mantegna</hi><lb/>
nicht frei, der übrigens die&#x017F;e Verzweigung der italieni&#x017F;chen Malerei zu<lb/>
einer gewi&#x017F;&#x017F;en &#x017F;elb&#x017F;tändigen Blüthe, einer Art von &#x017F;pezifi&#x017F;cher Seitenblüthe<lb/>
trieb, indem er durch vollendete Be&#x017F;timmtheit der Modellirung, Per&#x017F;pective,<lb/>
Schärfe der Lichter ein bis zur völligen Illu&#x017F;ion wahres Lebensbild hin-<lb/>
&#x017F;tellte, das zudem durch die zwar harte, aber treffende, genreartig fein be-<lb/>
lau&#x017F;chende Charakteri&#x017F;tik merkwürdig nach dem Gei&#x017F;te nordi&#x017F;cher Malerei<lb/>
hinüberweist. Die paduani&#x017F;che Herbe nun &#x017F;tößt, zwar nicht unmittelbar,<lb/>
&#x017F;ondern unter Rückfällen in unedlere Form, &#x017F;chon <hi rendition="#g">Giovanni Bellini</hi><lb/>
aus und behält nur die Sicherheit der Hand, um &#x017F;ie zur harmoni&#x017F;ch ausrun-<lb/>
denden, <hi rendition="#g">&#x017F;chönen</hi> Zeichnung zu verwenden. Er i&#x017F;t es auch, der bereits die<lb/>
Farbe, im Incarnat be&#x017F;onders, zu der Lebenswärme fortbildet, in der<lb/>
alle Härten &#x017F;ich auflö&#x017F;en. Uebrigens dient die&#x017F;es Element auf der Ueber-<lb/>
gangs&#x017F;tufe, die der Mei&#x017F;ter des Titian einnimmt, vorherr&#x017F;chend noch der<lb/>
innigen reliö&#x017F;en Empfindung, nur daß die&#x017F;e den my&#x017F;ti&#x017F;chen Dämmerungs-<lb/>
&#x017F;chleier des Pietro Perugino abgeworfen hat und taghell, klar aus den frei<lb/>
geöffneten Augen blickt. Die&#x017F;e Tageshelle hat auch der übrigens jenem<lb/>
umbri&#x017F;chen Mei&#x017F;ter &#x017F;o verwandte, unter Einflü&#x017F;&#x017F;en von &#x017F;einer Schule, von Pa-<lb/>
dua und Venedig ausgebildete <hi rendition="#g">Francesco Francia</hi> in &#x017F;ich aufgenommen.</hi> </p><lb/>
                <p> <hi rendition="#et">Bei die&#x017F;er Verwendung des Farbenprinzips, welche übrigens &#x017F;chon<lb/>
die älteren Mei&#x017F;ter, wie namentlich Giov. Bellini &#x017F;elb&#x017F;t, auch zu cla&#x017F;&#x017F;i&#x017F;chen<lb/>
Stoffen, zu genre-artigen Dar&#x017F;tellungen öffentlicher religiö&#x017F;er Auftritte<lb/>
leitet, konnten nun die großen Mei&#x017F;ter der reifen Zeit, eine <hi rendition="#g">Giorgione</hi>,<lb/>
ein <hi rendition="#g">Titian, Paolo Verone&#x017F;e</hi> nicht &#x017F;tehen bleiben, aber hier eben i&#x017F;t<lb/>
es, wo noch einmal und in &#x017F;einer ganzen Schärfe der oft darge&#x017F;tellte<lb/>
Wider&#x017F;pruch zu Tage tritt: &#x017F;ie bewegen &#x017F;ich in dem größten Theil ihrer<lb/>
Werke noch in den chri&#x017F;tlichen Stoffen, in welchen doch ihre wahre<lb/>
Stärke nicht zu &#x017F;uchen i&#x017F;t, da die innere fromme Wunderwelt des roman-<lb/>
ti&#x017F;chen Gemüths nicht ihr Element &#x017F;ein kann. Nur nach zwei Richtungen<lb/>
können &#x017F;ie ihre Größe auf die&#x017F;em Gebiet entwickeln. Die eine be&#x017F;teht in<lb/>
jener rein men&#x017F;chlich rationellen Auffa&#x017F;&#x017F;ung der mythi&#x017F;chen Stoffe, von<lb/>
der wir zu §. 695 ge&#x017F;prochen haben. Dieß i&#x017F;t eine höch&#x017F;t intere&#x017F;&#x017F;ante<lb/>
Seite der Venetianer, es liegt etwas vom Gei&#x017F;te der Reformation darin,<lb/></hi> </p>
              </div>
            </div>
          </div>
        </div>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[721/0229] bloßen Vorſtudie herabgeſetzt zu werden beſtimmt war, dießmal aber nicht nur durch die harmoniſche Lebenswelle der vollendeten Zeichnung ſelbſt, ſondern auch durch die volle Wirkung der Farbe. Das Intereſſante aber iſt dieß, daß die Venetianer zwar die Frucht dieſer Zeichnungsſtudien pflücken, dagegen eine andere Seite, nach welcher dieſelben in Padua ſich gelenkt hatten, nach kurzer Aufnahme völlig ausſtoßen. Die Paduaner nämlich geriethen durch ihre Detailſchärfe in die härteſte Charakteriſtik, in unſchönen Naturaliſmus, Nachahmung gemeiner, aus der Wirklichkeit wahllos aufgegriffener Charakterformen. Davon war ſelbſt Mantegna nicht frei, der übrigens dieſe Verzweigung der italieniſchen Malerei zu einer gewiſſen ſelbſtändigen Blüthe, einer Art von ſpezifiſcher Seitenblüthe trieb, indem er durch vollendete Beſtimmtheit der Modellirung, Perſpective, Schärfe der Lichter ein bis zur völligen Illuſion wahres Lebensbild hin- ſtellte, das zudem durch die zwar harte, aber treffende, genreartig fein be- lauſchende Charakteriſtik merkwürdig nach dem Geiſte nordiſcher Malerei hinüberweist. Die paduaniſche Herbe nun ſtößt, zwar nicht unmittelbar, ſondern unter Rückfällen in unedlere Form, ſchon Giovanni Bellini aus und behält nur die Sicherheit der Hand, um ſie zur harmoniſch ausrun- denden, ſchönen Zeichnung zu verwenden. Er iſt es auch, der bereits die Farbe, im Incarnat beſonders, zu der Lebenswärme fortbildet, in der alle Härten ſich auflöſen. Uebrigens dient dieſes Element auf der Ueber- gangsſtufe, die der Meiſter des Titian einnimmt, vorherrſchend noch der innigen reliöſen Empfindung, nur daß dieſe den myſtiſchen Dämmerungs- ſchleier des Pietro Perugino abgeworfen hat und taghell, klar aus den frei geöffneten Augen blickt. Dieſe Tageshelle hat auch der übrigens jenem umbriſchen Meiſter ſo verwandte, unter Einflüſſen von ſeiner Schule, von Pa- dua und Venedig ausgebildete Francesco Francia in ſich aufgenommen. Bei dieſer Verwendung des Farbenprinzips, welche übrigens ſchon die älteren Meiſter, wie namentlich Giov. Bellini ſelbſt, auch zu claſſiſchen Stoffen, zu genre-artigen Darſtellungen öffentlicher religiöſer Auftritte leitet, konnten nun die großen Meiſter der reifen Zeit, eine Giorgione, ein Titian, Paolo Veroneſe nicht ſtehen bleiben, aber hier eben iſt es, wo noch einmal und in ſeiner ganzen Schärfe der oft dargeſtellte Widerſpruch zu Tage tritt: ſie bewegen ſich in dem größten Theil ihrer Werke noch in den chriſtlichen Stoffen, in welchen doch ihre wahre Stärke nicht zu ſuchen iſt, da die innere fromme Wunderwelt des roman- tiſchen Gemüths nicht ihr Element ſein kann. Nur nach zwei Richtungen können ſie ihre Größe auf dieſem Gebiet entwickeln. Die eine beſteht in jener rein menſchlich rationellen Auffaſſung der mythiſchen Stoffe, von der wir zu §. 695 geſprochen haben. Dieß iſt eine höchſt intereſſante Seite der Venetianer, es liegt etwas vom Geiſte der Reformation darin,

Suche im Werk

Hilfe

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)
XML (TEI P5 inkl. att.linguistic)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Voyant Tools ?

Language Resource Switchboard?

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde gemäß den DTA-Transkriptionsrichtlinien im Double-Keying-Verfahren von Nicht-Muttersprachlern erfasst und in XML/TEI P5 nach DTA-Basisformat kodiert.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/vischer_aesthetik030203_1854
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/vischer_aesthetik030203_1854/229
Zitationshilfe: Vischer, Friedrich Theodor von: Ästhetik oder Wissenschaft des Schönen. Bd. 3,2,3. Stuttgart, 1854, S. 721. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/vischer_aesthetik030203_1854/229>, abgerufen am 24.11.2024.