Vischer, Friedrich Theodor von: Ästhetik oder Wissenschaft des Schönen. Bd. 3,2,3. Stuttgart, 1854.
zu vergessen, daß eine Zeit, in deren Bewußtsein die transcendente, mythische 2. Entstanden ist dieser Styl neben der Fülle anderer vorbereitender Vischer's Aesthetik. 3. Band. 47
zu vergeſſen, daß eine Zeit, in deren Bewußtſein die tranſcendente, mythiſche 2. Entſtanden iſt dieſer Styl neben der Fülle anderer vorbereitender Viſcher’s Aeſthetik. 3. Band. 47
<TEI> <text> <body> <div n="1"> <div n="2"> <div n="3"> <div n="4"> <div n="5"> <p> <hi rendition="#et"><pb facs="#f0221" n="713"/> zu vergeſſen, daß eine Zeit, in deren Bewußtſein die tranſcendente, mythiſche<lb/> Abbreviatur der Dinge nicht mehr lebt, nie dahin zurückkehren kann, den<lb/> ewig wahren Inhalt, den dieſe Bilder bergen, wieder in ſie zu legen;<lb/> es iſt in jener Abſtraction ein unverkennbarer Vorbehalt, ein „obwohl“<lb/> ein „trotz“ (z. B. trotz der craſſen Theologie im jüngſten Gerichte). Auch<lb/> im Künſtler kann ein Verhältniß des Gemüths, wie es einſt in dieſen<lb/> Stoffen wurzelte und doch frei äſthetiſch über ihnen ſchwebte, ſo nie wieder-<lb/> kehren, es iſt einzig. — Wie gewaltig nun allerdings die urſprüngliche<lb/> Stoffwelt aus der Tranſcendenz bereits herausringt, erkennt man an<lb/> jenen berühmten Schlacht-Compoſitionen des Leonardo da Vinci und<lb/> des M. Angelo, an jenen Porträt-Gruppen in Raphaels Diſputa und<lb/> Vertreibung des Heliodor, wo wir die Erſcheinung, die wir ſchon bei<lb/> Giotto und den Florentinern des fünfzehnten Jahrhunderts gefunden,<lb/> in der höchſten Potenz wieder auftreten ſehen, noch mehr aber an der Schule<lb/> von Athen, die ganz mythenlos iſt. Raphael genießt nun aber auch<lb/> jenen großen Vortheil, den geſchloſſenen Mythus der heiligen Geſchichte<lb/> in ſeine erſte Oeffnung, in die Ausſtrömung des Geiſtes auf die Apoſtel<lb/> und erſten Gemeinden verfolgen zu dürfen und ſomit den Boden der<lb/> wirklichen Geſchichte gleichſam auf ſeiner Schwelle, wo jener Geiſt ſchon<lb/> Männerthat wird, zu betreten (vergl. §. 695, Anm. <hi rendition="#sub">1.</hi>) Nach anderer<lb/> Seite bewährt ſich die freie Univerſalität und Gelöstheit des künſtleriſchen<lb/> Geiſtes durch die anmuthvolle, in edlem Sinnenfeuer und in energiſchem<lb/> Gefühl heroiſcher Mannesgröße erglühende Aufnahme des antiken Mythus.<lb/> Wir haben dieſe Erſcheinung in §. 703 bereits gewürdigt.</hi> </p><lb/> <p> <hi rendition="#et">2. Entſtanden iſt dieſer Styl neben der Fülle anderer vorbereitender<lb/> Momente durch die lebendige Frucht, die nun das ſchon in der vorher-<lb/> gehenden Epoche wieder erſtandene Gefühl und Studium der Antike trägt.<lb/> Er iſt ſo eine relative Einheit des Claſſiſchen und Romantiſchen: eine<lb/> relative, denn es bleibt noch eine ſchwerere Verſchmelzung zu vollziehen,<lb/> die nämlich, wo auch der in ſeine ganze Beſtimmtheit verfolgte maleriſche<lb/> Styl in dieſe große Schule der Form geht. So nun aber durchdrungen<lb/> von der Antike hat der plaſtiſche Styl der Malerei doch zugleich des<lb/> ächt Maleriſchen ſo viel, als immer in dieſer Richtung möglich iſt, in<lb/> ſich aufgenommen; wir werden dieß ſogleich als Hauptmoment in Raphaels<lb/> Bedeutung erkennen. Da kehrt denn in anderer Weiſe wieder, was von<lb/> der Antike gilt: wie dieſe von <hi rendition="#g">ihrer</hi> Weltanſchauung aus für die Plaſtik<lb/> genau das muſtergültig rechte, zarte Maaß des Naturtreuen und Individu-<lb/> ellen in die reine Form des Schönen aufgenommen hat und daher als<lb/> ewiges Muſter, ewige Vorlage und Bildungsquelle daſteht, ſo dieſer hohe<lb/> Styl der italieniſchen Malerei, indem er die abſolute Linie darſtellt, bis<lb/> zu welcher die plaſtiſche Richtung in <hi rendition="#g">dieſer</hi> Kunſt das ächt Maleriſche</hi><lb/> <fw place="bottom" type="sig"><hi rendition="#g">Viſcher’s</hi> Aeſthetik. 3. Band. 47</fw><lb/> </p> </div> </div> </div> </div> </div> </body> </text> </TEI> [713/0221]
zu vergeſſen, daß eine Zeit, in deren Bewußtſein die tranſcendente, mythiſche
Abbreviatur der Dinge nicht mehr lebt, nie dahin zurückkehren kann, den
ewig wahren Inhalt, den dieſe Bilder bergen, wieder in ſie zu legen;
es iſt in jener Abſtraction ein unverkennbarer Vorbehalt, ein „obwohl“
ein „trotz“ (z. B. trotz der craſſen Theologie im jüngſten Gerichte). Auch
im Künſtler kann ein Verhältniß des Gemüths, wie es einſt in dieſen
Stoffen wurzelte und doch frei äſthetiſch über ihnen ſchwebte, ſo nie wieder-
kehren, es iſt einzig. — Wie gewaltig nun allerdings die urſprüngliche
Stoffwelt aus der Tranſcendenz bereits herausringt, erkennt man an
jenen berühmten Schlacht-Compoſitionen des Leonardo da Vinci und
des M. Angelo, an jenen Porträt-Gruppen in Raphaels Diſputa und
Vertreibung des Heliodor, wo wir die Erſcheinung, die wir ſchon bei
Giotto und den Florentinern des fünfzehnten Jahrhunderts gefunden,
in der höchſten Potenz wieder auftreten ſehen, noch mehr aber an der Schule
von Athen, die ganz mythenlos iſt. Raphael genießt nun aber auch
jenen großen Vortheil, den geſchloſſenen Mythus der heiligen Geſchichte
in ſeine erſte Oeffnung, in die Ausſtrömung des Geiſtes auf die Apoſtel
und erſten Gemeinden verfolgen zu dürfen und ſomit den Boden der
wirklichen Geſchichte gleichſam auf ſeiner Schwelle, wo jener Geiſt ſchon
Männerthat wird, zu betreten (vergl. §. 695, Anm. 1.) Nach anderer
Seite bewährt ſich die freie Univerſalität und Gelöstheit des künſtleriſchen
Geiſtes durch die anmuthvolle, in edlem Sinnenfeuer und in energiſchem
Gefühl heroiſcher Mannesgröße erglühende Aufnahme des antiken Mythus.
Wir haben dieſe Erſcheinung in §. 703 bereits gewürdigt.
2. Entſtanden iſt dieſer Styl neben der Fülle anderer vorbereitender
Momente durch die lebendige Frucht, die nun das ſchon in der vorher-
gehenden Epoche wieder erſtandene Gefühl und Studium der Antike trägt.
Er iſt ſo eine relative Einheit des Claſſiſchen und Romantiſchen: eine
relative, denn es bleibt noch eine ſchwerere Verſchmelzung zu vollziehen,
die nämlich, wo auch der in ſeine ganze Beſtimmtheit verfolgte maleriſche
Styl in dieſe große Schule der Form geht. So nun aber durchdrungen
von der Antike hat der plaſtiſche Styl der Malerei doch zugleich des
ächt Maleriſchen ſo viel, als immer in dieſer Richtung möglich iſt, in
ſich aufgenommen; wir werden dieß ſogleich als Hauptmoment in Raphaels
Bedeutung erkennen. Da kehrt denn in anderer Weiſe wieder, was von
der Antike gilt: wie dieſe von ihrer Weltanſchauung aus für die Plaſtik
genau das muſtergültig rechte, zarte Maaß des Naturtreuen und Individu-
ellen in die reine Form des Schönen aufgenommen hat und daher als
ewiges Muſter, ewige Vorlage und Bildungsquelle daſteht, ſo dieſer hohe
Styl der italieniſchen Malerei, indem er die abſolute Linie darſtellt, bis
zu welcher die plaſtiſche Richtung in dieſer Kunſt das ächt Maleriſche
Viſcher’s Aeſthetik. 3. Band. 47
Suche im WerkInformationen zum Werk
Download dieses Werks
XML (TEI P5) ·
HTML ·
Text Metadaten zum WerkTEI-Header · CMDI · Dublin Core Ansichten dieser Seite
Voyant Tools ?Language Resource Switchboard?FeedbackSie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden. Kommentar zur DTA-AusgabeDieses Werk wurde gemäß den DTA-Transkriptionsrichtlinien im Double-Keying-Verfahren von Nicht-Muttersprachlern erfasst und in XML/TEI P5 nach DTA-Basisformat kodiert.
|
Insbesondere im Hinblick auf die §§ 86a StGB und 130 StGB wird festgestellt, dass die auf diesen Seiten abgebildeten Inhalte weder in irgendeiner Form propagandistischen Zwecken dienen, oder Werbung für verbotene Organisationen oder Vereinigungen darstellen, oder nationalsozialistische Verbrechen leugnen oder verharmlosen, noch zum Zwecke der Herabwürdigung der Menschenwürde gezeigt werden. Die auf diesen Seiten abgebildeten Inhalte (in Wort und Bild) dienen im Sinne des § 86 StGB Abs. 3 ausschließlich historischen, sozial- oder kulturwissenschaftlichen Forschungszwecken. Ihre Veröffentlichung erfolgt in der Absicht, Wissen zur Anregung der intellektuellen Selbstständigkeit und Verantwortungsbereitschaft des Staatsbürgers zu vermitteln und damit der Förderung seiner Mündigkeit zu dienen.
2007–2024 Deutsches Textarchiv, Berlin-Brandenburgische Akademie der Wissenschaften.
Kontakt: redaktion(at)deutschestextarchiv.de. |