doch ihr spezifisches Wesen genügend zur Reife ausgebildet hat, um zu jenem Bewußtsein zu gelangen, so müssen wir diese Form aus einem ganz andern Grund an die Spitze der Zweig-Eintheilung stellen, als dort in der Lehre von der Bildnerkunst: nämlich nicht, um ihr die erste Stelle einzuräumen, sondern um sie abzusondern, damit sie uns diese Eintheilung nicht verwirre. Dazu kommt jedoch noch ein anderer Grund: wir haben eine relative Berechtigung des Fortbestands einzuräumen und müssen gleich zu Anfang darüber in's Klare kommen, weil uns sonst für ein gewisses Gebiet, das der Schlußsatz des §. andeutet, die Prämisse fehlt. -- Unsere Ansicht über das Mythische ist inzwischen von E. Guhl (D. neuere geschichtl. Malerei u. d. Akad. S. 123 ff.) angegriffen worden. Gegen die Be- hauptung, daß göttliche Wesen, wenn sie nicht mehr geglaubt werden, in Allegorien versinken, wird gesagt: sie bleiben vielmehr Charaktere oder künstlerische, plastische, malerische Individualitäten, und wenn man im Allgemeinen der Kunst das Recht und den Beruf zur Darstellung poeti- scher Erzeugnisse des menschlichen Geistes nicht abspreche, warum gerade hier der grobmaterielle Maaßstab der wirklichen Existenz angelegt werde; es erscheine kleinlich, von der Kunst zu verlangen, sie solle nur darstellen, was in der That dagewesen sei und woran man mit gutem Gewissen als an ein wirklich existirendes oder doch existirt habendes Factum glauben könne. Hier ist vor Allem eine nothwendige Unterscheidung übersehen: näm- lich die zwischen dem Möglichen und dem Wirklichen. Wesen, welche zwar nicht wirklich, nicht als wirkliche geglaubt, nur von der Phantasie erzeugt, aber so beschaffen sind, daß sie unter den von uns schlechthin anerkannten Gesetzen der Erfahrung leben könnten, zählen wir nicht zum Mythischen. Die Helden der Sage, die Charaktere der Dichter, wenn auch reine Er- findung, sind solche Wesen und es wäre völlig grundlos, sie aus der Stoffwelt des Schönen ausschließen zu wollen. Anders verhält es sich aber mit den Gebilden, die der mythische Glaube schlechthin über und außer das Naturgesetz stellt, mit jenen Individuen, die in ganz anderem Sinn absolut sein sollen, als das ästhetische Individuum es immer ist, nämlich im Sinne der von ihnen wesentlich ausgesagten Zerreißung des Causalnexus: diese Gattung von Wesen ist nicht nur nicht wirklich, sondern auch nicht möglich und die Kunst, wenn sie dieselben anders, als in der Einschränkung, die wir nachher in's Licht setzen werden, zu ihrem Stoffe wählt, geräth mit dem Grundprinzip der modernen Bildung, wie es in sie selbst eingedrungen, in Widerspruch. Wir verwechseln nicht eine säch- liche Frage mit einer ästhetischen. Möglich oder unmöglich: das wäre gleichgültig, wenn der Künstler außer seiner Zeit stünde und sich gegen ihre herrschende Stimmung abschließen könnte. Woher nun soll er die Wärme bringen, ein Wesen der Phantasie zu dem Lebensbild eines exi-
doch ihr ſpezifiſches Weſen genügend zur Reife ausgebildet hat, um zu jenem Bewußtſein zu gelangen, ſo müſſen wir dieſe Form aus einem ganz andern Grund an die Spitze der Zweig-Eintheilung ſtellen, als dort in der Lehre von der Bildnerkunſt: nämlich nicht, um ihr die erſte Stelle einzuräumen, ſondern um ſie abzuſondern, damit ſie uns dieſe Eintheilung nicht verwirre. Dazu kommt jedoch noch ein anderer Grund: wir haben eine relative Berechtigung des Fortbeſtands einzuräumen und müſſen gleich zu Anfang darüber in’s Klare kommen, weil uns ſonſt für ein gewiſſes Gebiet, das der Schlußſatz des §. andeutet, die Prämiſſe fehlt. — Unſere Anſicht über das Mythiſche iſt inzwiſchen von E. Guhl (D. neuere geſchichtl. Malerei u. d. Akad. S. 123 ff.) angegriffen worden. Gegen die Be- hauptung, daß göttliche Weſen, wenn ſie nicht mehr geglaubt werden, in Allegorien verſinken, wird geſagt: ſie bleiben vielmehr Charaktere oder künſtleriſche, plaſtiſche, maleriſche Individualitäten, und wenn man im Allgemeinen der Kunſt das Recht und den Beruf zur Darſtellung poeti- ſcher Erzeugniſſe des menſchlichen Geiſtes nicht abſpreche, warum gerade hier der grobmaterielle Maaßſtab der wirklichen Exiſtenz angelegt werde; es erſcheine kleinlich, von der Kunſt zu verlangen, ſie ſolle nur darſtellen, was in der That dageweſen ſei und woran man mit gutem Gewiſſen als an ein wirklich exiſtirendes oder doch exiſtirt habendes Factum glauben könne. Hier iſt vor Allem eine nothwendige Unterſcheidung überſehen: näm- lich die zwiſchen dem Möglichen und dem Wirklichen. Weſen, welche zwar nicht wirklich, nicht als wirkliche geglaubt, nur von der Phantaſie erzeugt, aber ſo beſchaffen ſind, daß ſie unter den von uns ſchlechthin anerkannten Geſetzen der Erfahrung leben könnten, zählen wir nicht zum Mythiſchen. Die Helden der Sage, die Charaktere der Dichter, wenn auch reine Er- findung, ſind ſolche Weſen und es wäre völlig grundlos, ſie aus der Stoffwelt des Schönen ausſchließen zu wollen. Anders verhält es ſich aber mit den Gebilden, die der mythiſche Glaube ſchlechthin über und außer das Naturgeſetz ſtellt, mit jenen Individuen, die in ganz anderem Sinn abſolut ſein ſollen, als das äſthetiſche Individuum es immer iſt, nämlich im Sinne der von ihnen weſentlich ausgeſagten Zerreißung des Cauſalnexus: dieſe Gattung von Weſen iſt nicht nur nicht wirklich, ſondern auch nicht möglich und die Kunſt, wenn ſie dieſelben anders, als in der Einſchränkung, die wir nachher in’s Licht ſetzen werden, zu ihrem Stoffe wählt, geräth mit dem Grundprinzip der modernen Bildung, wie es in ſie ſelbſt eingedrungen, in Widerſpruch. Wir verwechſeln nicht eine ſäch- liche Frage mit einer äſthetiſchen. Möglich oder unmöglich: das wäre gleichgültig, wenn der Künſtler außer ſeiner Zeit ſtünde und ſich gegen ihre herrſchende Stimmung abſchließen könnte. Woher nun ſoll er die Wärme bringen, ein Weſen der Phantaſie zu dem Lebensbild eines exi-
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jenem Bewußtſein zu gelangen, ſo müſſen wir dieſe Form aus einem
ganz andern Grund an die Spitze der Zweig-Eintheilung ſtellen, als dort
in der Lehre von der Bildnerkunſt: nämlich nicht, um ihr die erſte Stelle
einzuräumen, ſondern um ſie abzuſondern, damit ſie uns dieſe Eintheilung
nicht verwirre. Dazu kommt jedoch noch ein anderer Grund: wir haben
eine relative Berechtigung des Fortbeſtands einzuräumen und müſſen gleich
zu Anfang darüber in’s Klare kommen, weil uns ſonſt für ein gewiſſes
Gebiet, das der Schlußſatz des §. andeutet, die Prämiſſe fehlt. — Unſere
Anſicht über das Mythiſche iſt inzwiſchen von E. Guhl (D. neuere geſchichtl.
Malerei u. d. Akad. S. 123 ff.) angegriffen worden. Gegen die Be-
hauptung, daß göttliche Weſen, wenn ſie nicht mehr geglaubt werden, in
Allegorien verſinken, wird geſagt: ſie bleiben vielmehr Charaktere oder
künſtleriſche, plaſtiſche, maleriſche Individualitäten, und wenn man im
Allgemeinen der Kunſt das Recht und den Beruf zur Darſtellung poeti-
ſcher Erzeugniſſe des menſchlichen Geiſtes nicht abſpreche, warum gerade
hier der grobmaterielle Maaßſtab der wirklichen Exiſtenz angelegt werde;
es erſcheine kleinlich, von der Kunſt zu verlangen, ſie ſolle nur darſtellen,
was in der That dageweſen ſei und woran man mit gutem Gewiſſen
als an ein wirklich exiſtirendes oder doch exiſtirt habendes Factum glauben
könne. Hier iſt vor Allem eine nothwendige Unterſcheidung überſehen: näm-
lich die zwiſchen dem Möglichen und dem Wirklichen. Weſen, welche zwar
nicht wirklich, nicht als wirkliche geglaubt, nur von der Phantaſie erzeugt,
aber ſo beſchaffen ſind, daß ſie unter den von uns ſchlechthin anerkannten
Geſetzen der Erfahrung leben könnten, zählen wir nicht zum Mythiſchen.
Die Helden der Sage, die Charaktere der Dichter, wenn auch reine Er-
findung, ſind ſolche Weſen und es wäre völlig grundlos, ſie aus der
Stoffwelt des Schönen ausſchließen zu wollen. Anders verhält es ſich
aber mit den Gebilden, die der mythiſche Glaube ſchlechthin über und
außer das Naturgeſetz ſtellt, mit jenen Individuen, die in ganz anderem
Sinn abſolut ſein ſollen, als das äſthetiſche Individuum es immer iſt,
nämlich im Sinne der von ihnen weſentlich ausgeſagten Zerreißung des
Cauſalnexus: dieſe Gattung von Weſen iſt nicht nur nicht wirklich, ſondern
auch nicht möglich und die Kunſt, wenn ſie dieſelben anders, als in der
Einſchränkung, die wir nachher in’s Licht ſetzen werden, zu ihrem Stoffe
wählt, geräth mit dem Grundprinzip der modernen Bildung, wie es in
ſie ſelbſt eingedrungen, in Widerſpruch. Wir verwechſeln nicht eine ſäch-
liche Frage mit einer äſthetiſchen. Möglich oder unmöglich: das wäre
gleichgültig, wenn der Künſtler außer ſeiner Zeit ſtünde und ſich gegen
ihre herrſchende Stimmung abſchließen könnte. Woher nun ſoll er die
Wärme bringen, ein Weſen der Phantaſie zu dem Lebensbild eines exi-
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Vischer, Friedrich Theodor von: Ästhetik oder Wissenschaft des Schönen. Bd. 3,2,3. Stuttgart, 1854, S. 638. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/vischer_aesthetik030203_1854/146>, abgerufen am 05.07.2024.
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