Vischer, Friedrich Theodor von: Ästhetik oder Wissenschaft des Schönen. Bd. 3,2,3. Stuttgart, 1854.2.für sie der fruchtbare sein. Ihr entspricht vorzüglich der Augenblick der höch- 1. Daß die Malerei trotz der größeren Freiheit und Leichtigkeit ihrer 2.für ſie der fruchtbare ſein. Ihr entſpricht vorzüglich der Augenblick der höch- 1. Daß die Malerei trotz der größeren Freiheit und Leichtigkeit ihrer <TEI> <text> <body> <div n="1"> <div n="2"> <div n="3"> <div n="4"> <p> <pb facs="#f0110" n="602"/> <hi rendition="#fr"><note place="left">2.</note>für ſie der fruchtbare ſein. Ihr entſpricht vorzüglich der Augenblick der höch-<lb/> ſten Spannung und ſie iſt dadurch der wirkſamſten, gegenwärtige Handlung dar-<lb/> ſtellenden Form der dichtenden Phantaſie verwandt. Schon die mitdargeſtellte<lb/> Umgebung fordert ſie auf, von der einfachen zur bewegteren Situation und zur<lb/> vollen Handlung fortzugehen, und erleichtert zugleich die <hi rendition="#g">Verſtändlichkeit</hi><lb/> derſelben ohne die Hülfen, deren die Plaſtik bedarf. Doch hat ſie ſich hierin<lb/> zu mäßigen, denn ihre Ausführlichkeit in der Ausbreitung des Sichtbaren ge-<lb/> bietet ihr, den Gegenſtand, mag er auch durch Straffheit der Wirkung ſeine<lb/> Gegenwärtigkeit höchſt fühlbar machen, unter den Standpunct der ruhigen Ob-<lb/> jectivität zu ſtellen, welchen die ihren Stoff als ein Vergangenes erzählende<lb/><note place="left">3.</note>Form der Dichtung einnimmt. Die Vortheile dieſer Behandlung belohnen<lb/> reichlich für dieſe und alle andern, durch die Schranken der Kunſtgattung auf-<lb/> gelegten, Verzichtleiſtungen.</hi> </p><lb/> <p> <hi rendition="#et">1. Daß die Malerei trotz der größeren Freiheit und Leichtigkeit ihrer<lb/> ſämmtlichen Darſtellungsbedingungen doch unter demſelben Geſetze der<lb/> Bindung eines einzigen Zeitmoments an den Raum ſteht, wie die Bild-<lb/> nerkunſt, iſt ſchon in der allgemeinen Erörterung aufgeſtellt; was zu ſa-<lb/> gen übrig bleibt, findet ſeine Stelle im gegenwärtigen Zuſammenhang,<lb/> wo wir uns mit der Weite der Bewegung und des Ausdrucks, die der<lb/> Malerei geöffnet iſt, aber auch mit deren Schranken beſchäftigen. Die<lb/> Malerei hat nun zwar eine ſtärkere Verſuchung, als die Sculptur, dieſelbe<lb/> Perſon in einer Reihenfolge von Momenten auf Einem Bilde darzuſtellen;<lb/> dieſe Verſuchung liegt in den Abſtufungen der räumlichen Ferne, welche<lb/> durch einen naheliegenden Umtauſch der Begriffe als Zeitfernen ſich dar-<lb/> zubieten ſcheinen; doch iſt dieß nur für naive Zeiten eine Entſchuldigung<lb/> und was man einem Hans Memling nachſieht, darf ſich der Künſtler nicht<lb/> erlauben, den die Bildung ſeiner Zeit über die Grundgeſetze der Kunſt-<lb/> gattungen belehrt hat. Dagegen hat die Malerei ihre ideale Abbreviatur<lb/> der Zeit, wie die Sculptur: ſie kann verſchiedene Momente einer Hand-<lb/> lung in Einen zuſammenziehen, ſie kann Perſonen aus verſchiedenen Zei-<lb/> ten in Einer Compoſition zuſammenſtellen, und zwar nicht nur im mythi-<lb/> ſchen Gebiete, wo ſie natürlich mit der Sculptur in dieſer Beziehung gleich<lb/> geht (vergl. den Schluß der Anm. des §. 613), ſondern auch im rein<lb/> menſchlichen: denn die Phantaſie hat das Recht, auch ohne alle Anlehnung<lb/> an einen poſitiven Glauben eine Art von idealem Raum und Zeit aus-<lb/> zuſondern, wo Ein Moment mehrere Stadien einer Handlung vereinigt<lb/> und wo längſt Geſchiedene mit kürzlich Geſchiedenen, ja mit Lebenden in<lb/> Einem verklärten Kreis zuſammentreten und die ihrem Wirken gemein-<lb/> ſchaftliche Idee darſtellen; Raphaels Schule von Athen iſt ein ſolcher<lb/> himmliſcher Kreis ohne Mythus.</hi> </p><lb/> </div> </div> </div> </div> </body> </text> </TEI> [602/0110]
für ſie der fruchtbare ſein. Ihr entſpricht vorzüglich der Augenblick der höch-
ſten Spannung und ſie iſt dadurch der wirkſamſten, gegenwärtige Handlung dar-
ſtellenden Form der dichtenden Phantaſie verwandt. Schon die mitdargeſtellte
Umgebung fordert ſie auf, von der einfachen zur bewegteren Situation und zur
vollen Handlung fortzugehen, und erleichtert zugleich die Verſtändlichkeit
derſelben ohne die Hülfen, deren die Plaſtik bedarf. Doch hat ſie ſich hierin
zu mäßigen, denn ihre Ausführlichkeit in der Ausbreitung des Sichtbaren ge-
bietet ihr, den Gegenſtand, mag er auch durch Straffheit der Wirkung ſeine
Gegenwärtigkeit höchſt fühlbar machen, unter den Standpunct der ruhigen Ob-
jectivität zu ſtellen, welchen die ihren Stoff als ein Vergangenes erzählende
Form der Dichtung einnimmt. Die Vortheile dieſer Behandlung belohnen
reichlich für dieſe und alle andern, durch die Schranken der Kunſtgattung auf-
gelegten, Verzichtleiſtungen.
1. Daß die Malerei trotz der größeren Freiheit und Leichtigkeit ihrer
ſämmtlichen Darſtellungsbedingungen doch unter demſelben Geſetze der
Bindung eines einzigen Zeitmoments an den Raum ſteht, wie die Bild-
nerkunſt, iſt ſchon in der allgemeinen Erörterung aufgeſtellt; was zu ſa-
gen übrig bleibt, findet ſeine Stelle im gegenwärtigen Zuſammenhang,
wo wir uns mit der Weite der Bewegung und des Ausdrucks, die der
Malerei geöffnet iſt, aber auch mit deren Schranken beſchäftigen. Die
Malerei hat nun zwar eine ſtärkere Verſuchung, als die Sculptur, dieſelbe
Perſon in einer Reihenfolge von Momenten auf Einem Bilde darzuſtellen;
dieſe Verſuchung liegt in den Abſtufungen der räumlichen Ferne, welche
durch einen naheliegenden Umtauſch der Begriffe als Zeitfernen ſich dar-
zubieten ſcheinen; doch iſt dieß nur für naive Zeiten eine Entſchuldigung
und was man einem Hans Memling nachſieht, darf ſich der Künſtler nicht
erlauben, den die Bildung ſeiner Zeit über die Grundgeſetze der Kunſt-
gattungen belehrt hat. Dagegen hat die Malerei ihre ideale Abbreviatur
der Zeit, wie die Sculptur: ſie kann verſchiedene Momente einer Hand-
lung in Einen zuſammenziehen, ſie kann Perſonen aus verſchiedenen Zei-
ten in Einer Compoſition zuſammenſtellen, und zwar nicht nur im mythi-
ſchen Gebiete, wo ſie natürlich mit der Sculptur in dieſer Beziehung gleich
geht (vergl. den Schluß der Anm. des §. 613), ſondern auch im rein
menſchlichen: denn die Phantaſie hat das Recht, auch ohne alle Anlehnung
an einen poſitiven Glauben eine Art von idealem Raum und Zeit aus-
zuſondern, wo Ein Moment mehrere Stadien einer Handlung vereinigt
und wo längſt Geſchiedene mit kürzlich Geſchiedenen, ja mit Lebenden in
Einem verklärten Kreis zuſammentreten und die ihrem Wirken gemein-
ſchaftliche Idee darſtellen; Raphaels Schule von Athen iſt ein ſolcher
himmliſcher Kreis ohne Mythus.
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