gesicht in einen Schlangenknäuel von Einzelfalten zusammenzieht, aus dem Auge wie ein Bündel von Pfeilspitzen oder ein gebrochner, dünner Strahl unendlichen Flehens blickt. Im Besitze dieser vielfältigen Mittel wird die Malerei jedem Affecte, so stark er sein mag, die Gestalt der Einfachheit nehmen und ihn in ein volles Concert von Tönen verwandeln, sie wird aber auch wirklich die Erscheinung jener Affecte aufsuchen, in welcher sich nicht nur Verschiedenes, sondern selbst Entgegengesetztes durchdringt: sie wird die Widersprüche der psychischen Verwicklung suchen, die Momente, wo Bescheidenheit und Stolz, Angst und Zorn, Zweifel und Entschlossen- heit, kurz jedes scheinbar unvereinbare Paar, begleitet von einer Welt ver- wandter Empfindungen sich im Gemüthe begegnet. Die Kreuzungen sind hier im Ausdruck ebenso zu Hause, wie im Colorit. -- Der Gegensatz der Style spielt nun seine Rolle natürlich in voller Stärke auch auf diesem Gebiete. In dem Bilde einer naiveren, ungetheilteren, harmloseren Menschheit, wie es uns aus der Behandlung des Ausdrucks im plastisch malerischen Styl entgegentritt, wird jene Kleinwelt der Mimik und Phy- siognomik, die der streng malerische so wirksam anwendet, gegen die we- sentlichen Grundzüge zurückstehen, in engerem Maaße ausgebildet sein. Er wird eine Stelle einnehmen nicht ganz in der Mitte zwischen der an- tiken Schauspielkunst in der Maske und der modernen, die jeden Zug der wirklichen Persönlichkeit mit allen seinen Einzelheiten in Bewegung setzt, sondern um ein Weniges der ersteren näher. Man wird den Eindruck von seinen Gestalten und Köpfen empfangen, daß, verglichen mit dem Werke der Plastik, doch der Ausdruck der augenblicklichen Möglichkeit eines Bruchs der ruhigen, auch in der Leidenschaft unverlorenen Harmonie da sei, den aber die natürliche Anmuth und die einfach gediegene Würde auf der Schwelle stetig zurückhalte. Diese Anmuth und Würde wird sculptur- ähnlich und doch verglichen mit der wirklichen Sculptur ungleich inner- licher sein. Die Anmuth wird auf ein tieferes, innigeres Wohlwollen, auf eine universalere Menschenliebe hinweisen, denn der Blitz des Geistes kommt in der malerischen Darstellung immer aus Tiefen, die weit über die Besonderheit vereinzelter Kreise des Weltganzen hinausreichen; selbst im Gebiete des harmlosen Lebens, im Glück der Natur wird aus den Augen einer sinnenfrohen Menschheit eine Erwärmung des tiefsten See- lenlebens, eine Seelenfreude leuchten, die uns doch ankündigt, daß es hier auch eine Sehnsucht und einen Schmerz gebe, die einer Aphrodite, einer Bacchantin fremd sind; die männliche Würde aber wird uns durch ihr Sinnen und ihre Falten von andern Kämpfen erzählen, als die Feldherrn, Staatsmänner, Redner der plastischen Welt; und entfesselt der plastisch auffassende Maler den Sturm der Leidenschaft, so wird er wohl einfacher sein, die gemischten, scheinbar widersprechenden Affecte lieber meiden,
geſicht in einen Schlangenknäuel von Einzelfalten zuſammenzieht, aus dem Auge wie ein Bündel von Pfeilſpitzen oder ein gebrochner, dünner Strahl unendlichen Flehens blickt. Im Beſitze dieſer vielfältigen Mittel wird die Malerei jedem Affecte, ſo ſtark er ſein mag, die Geſtalt der Einfachheit nehmen und ihn in ein volles Concert von Tönen verwandeln, ſie wird aber auch wirklich die Erſcheinung jener Affecte aufſuchen, in welcher ſich nicht nur Verſchiedenes, ſondern ſelbſt Entgegengeſetztes durchdringt: ſie wird die Widerſprüche der pſychiſchen Verwicklung ſuchen, die Momente, wo Beſcheidenheit und Stolz, Angſt und Zorn, Zweifel und Entſchloſſen- heit, kurz jedes ſcheinbar unvereinbare Paar, begleitet von einer Welt ver- wandter Empfindungen ſich im Gemüthe begegnet. Die Kreuzungen ſind hier im Ausdruck ebenſo zu Hauſe, wie im Colorit. — Der Gegenſatz der Style ſpielt nun ſeine Rolle natürlich in voller Stärke auch auf dieſem Gebiete. In dem Bilde einer naiveren, ungetheilteren, harmloſeren Menſchheit, wie es uns aus der Behandlung des Ausdrucks im plaſtiſch maleriſchen Styl entgegentritt, wird jene Kleinwelt der Mimik und Phy- ſiognomik, die der ſtreng maleriſche ſo wirkſam anwendet, gegen die we- ſentlichen Grundzüge zurückſtehen, in engerem Maaße ausgebildet ſein. Er wird eine Stelle einnehmen nicht ganz in der Mitte zwiſchen der an- tiken Schauſpielkunſt in der Maske und der modernen, die jeden Zug der wirklichen Perſönlichkeit mit allen ſeinen Einzelheiten in Bewegung ſetzt, ſondern um ein Weniges der erſteren näher. Man wird den Eindruck von ſeinen Geſtalten und Köpfen empfangen, daß, verglichen mit dem Werke der Plaſtik, doch der Ausdruck der augenblicklichen Möglichkeit eines Bruchs der ruhigen, auch in der Leidenſchaft unverlorenen Harmonie da ſei, den aber die natürliche Anmuth und die einfach gediegene Würde auf der Schwelle ſtetig zurückhalte. Dieſe Anmuth und Würde wird ſculptur- ähnlich und doch verglichen mit der wirklichen Sculptur ungleich inner- licher ſein. Die Anmuth wird auf ein tieferes, innigeres Wohlwollen, auf eine univerſalere Menſchenliebe hinweiſen, denn der Blitz des Geiſtes kommt in der maleriſchen Darſtellung immer aus Tiefen, die weit über die Beſonderheit vereinzelter Kreiſe des Weltganzen hinausreichen; ſelbſt im Gebiete des harmloſen Lebens, im Glück der Natur wird aus den Augen einer ſinnenfrohen Menſchheit eine Erwärmung des tiefſten See- lenlebens, eine Seelenfreude leuchten, die uns doch ankündigt, daß es hier auch eine Sehnſucht und einen Schmerz gebe, die einer Aphrodite, einer Bacchantin fremd ſind; die männliche Würde aber wird uns durch ihr Sinnen und ihre Falten von andern Kämpfen erzählen, als die Feldherrn, Staatsmänner, Redner der plaſtiſchen Welt; und entfeſſelt der plaſtiſch auffaſſende Maler den Sturm der Leidenſchaft, ſo wird er wohl einfacher ſein, die gemiſchten, ſcheinbar widerſprechenden Affecte lieber meiden,
<TEI><text><body><divn="1"><divn="2"><divn="3"><divn="4"><p><hirendition="#et"><pbfacs="#f0104"n="596"/>
geſicht in einen Schlangenknäuel von Einzelfalten zuſammenzieht, aus dem<lb/>
Auge wie ein Bündel von Pfeilſpitzen oder ein gebrochner, dünner Strahl<lb/>
unendlichen Flehens blickt. Im Beſitze dieſer vielfältigen Mittel wird die<lb/>
Malerei jedem Affecte, ſo ſtark er ſein mag, die Geſtalt der Einfachheit<lb/>
nehmen und ihn in ein volles Concert von Tönen verwandeln, ſie wird<lb/>
aber auch wirklich die Erſcheinung jener Affecte aufſuchen, in welcher ſich<lb/>
nicht nur Verſchiedenes, ſondern ſelbſt Entgegengeſetztes durchdringt: ſie<lb/>
wird die Widerſprüche der pſychiſchen Verwicklung ſuchen, die Momente,<lb/>
wo Beſcheidenheit und Stolz, Angſt und Zorn, Zweifel und Entſchloſſen-<lb/>
heit, kurz jedes ſcheinbar unvereinbare Paar, begleitet von einer Welt ver-<lb/>
wandter Empfindungen ſich im Gemüthe begegnet. Die Kreuzungen ſind<lb/>
hier im Ausdruck ebenſo zu Hauſe, wie im Colorit. — Der Gegenſatz der<lb/>
Style ſpielt nun ſeine Rolle natürlich in voller Stärke auch auf dieſem<lb/>
Gebiete. In dem Bilde einer naiveren, ungetheilteren, harmloſeren<lb/>
Menſchheit, wie es uns aus der Behandlung des Ausdrucks im plaſtiſch<lb/>
maleriſchen Styl entgegentritt, wird jene Kleinwelt der Mimik und Phy-<lb/>ſiognomik, die der ſtreng maleriſche ſo wirkſam anwendet, gegen die we-<lb/>ſentlichen Grundzüge zurückſtehen, in engerem Maaße ausgebildet ſein.<lb/>
Er wird eine Stelle einnehmen nicht ganz in der Mitte zwiſchen der an-<lb/>
tiken Schauſpielkunſt in der Maske und der modernen, die jeden Zug der<lb/>
wirklichen Perſönlichkeit mit allen ſeinen Einzelheiten in Bewegung ſetzt,<lb/>ſondern um ein Weniges der erſteren näher. Man wird den Eindruck<lb/>
von ſeinen Geſtalten und Köpfen empfangen, daß, verglichen mit dem<lb/>
Werke der Plaſtik, doch der Ausdruck der augenblicklichen Möglichkeit eines<lb/>
Bruchs der ruhigen, auch in der Leidenſchaft unverlorenen Harmonie da ſei,<lb/>
den aber die natürliche Anmuth und die einfach gediegene Würde auf<lb/>
der Schwelle ſtetig zurückhalte. Dieſe Anmuth und Würde wird ſculptur-<lb/>
ähnlich und doch verglichen mit der wirklichen Sculptur ungleich inner-<lb/>
licher ſein. Die Anmuth wird auf ein tieferes, innigeres Wohlwollen,<lb/>
auf eine univerſalere Menſchenliebe hinweiſen, denn der Blitz des Geiſtes<lb/>
kommt in der maleriſchen Darſtellung immer aus Tiefen, die weit über<lb/>
die Beſonderheit vereinzelter Kreiſe des Weltganzen hinausreichen; ſelbſt<lb/>
im Gebiete des harmloſen Lebens, im Glück der Natur wird aus den<lb/>
Augen einer ſinnenfrohen Menſchheit eine Erwärmung des tiefſten See-<lb/>
lenlebens, eine Seelenfreude leuchten, die uns doch ankündigt, daß es hier<lb/>
auch eine Sehnſucht und einen Schmerz gebe, die einer Aphrodite, einer<lb/>
Bacchantin fremd ſind; die männliche Würde aber wird uns durch ihr<lb/>
Sinnen und ihre Falten von andern Kämpfen erzählen, als die Feldherrn,<lb/>
Staatsmänner, Redner der plaſtiſchen Welt; und entfeſſelt der plaſtiſch<lb/>
auffaſſende Maler den Sturm der Leidenſchaft, ſo wird er wohl einfacher<lb/>ſein, die gemiſchten, ſcheinbar widerſprechenden Affecte lieber meiden,<lb/></hi></p></div></div></div></div></body></text></TEI>
[596/0104]
geſicht in einen Schlangenknäuel von Einzelfalten zuſammenzieht, aus dem
Auge wie ein Bündel von Pfeilſpitzen oder ein gebrochner, dünner Strahl
unendlichen Flehens blickt. Im Beſitze dieſer vielfältigen Mittel wird die
Malerei jedem Affecte, ſo ſtark er ſein mag, die Geſtalt der Einfachheit
nehmen und ihn in ein volles Concert von Tönen verwandeln, ſie wird
aber auch wirklich die Erſcheinung jener Affecte aufſuchen, in welcher ſich
nicht nur Verſchiedenes, ſondern ſelbſt Entgegengeſetztes durchdringt: ſie
wird die Widerſprüche der pſychiſchen Verwicklung ſuchen, die Momente,
wo Beſcheidenheit und Stolz, Angſt und Zorn, Zweifel und Entſchloſſen-
heit, kurz jedes ſcheinbar unvereinbare Paar, begleitet von einer Welt ver-
wandter Empfindungen ſich im Gemüthe begegnet. Die Kreuzungen ſind
hier im Ausdruck ebenſo zu Hauſe, wie im Colorit. — Der Gegenſatz der
Style ſpielt nun ſeine Rolle natürlich in voller Stärke auch auf dieſem
Gebiete. In dem Bilde einer naiveren, ungetheilteren, harmloſeren
Menſchheit, wie es uns aus der Behandlung des Ausdrucks im plaſtiſch
maleriſchen Styl entgegentritt, wird jene Kleinwelt der Mimik und Phy-
ſiognomik, die der ſtreng maleriſche ſo wirkſam anwendet, gegen die we-
ſentlichen Grundzüge zurückſtehen, in engerem Maaße ausgebildet ſein.
Er wird eine Stelle einnehmen nicht ganz in der Mitte zwiſchen der an-
tiken Schauſpielkunſt in der Maske und der modernen, die jeden Zug der
wirklichen Perſönlichkeit mit allen ſeinen Einzelheiten in Bewegung ſetzt,
ſondern um ein Weniges der erſteren näher. Man wird den Eindruck
von ſeinen Geſtalten und Köpfen empfangen, daß, verglichen mit dem
Werke der Plaſtik, doch der Ausdruck der augenblicklichen Möglichkeit eines
Bruchs der ruhigen, auch in der Leidenſchaft unverlorenen Harmonie da ſei,
den aber die natürliche Anmuth und die einfach gediegene Würde auf
der Schwelle ſtetig zurückhalte. Dieſe Anmuth und Würde wird ſculptur-
ähnlich und doch verglichen mit der wirklichen Sculptur ungleich inner-
licher ſein. Die Anmuth wird auf ein tieferes, innigeres Wohlwollen,
auf eine univerſalere Menſchenliebe hinweiſen, denn der Blitz des Geiſtes
kommt in der maleriſchen Darſtellung immer aus Tiefen, die weit über
die Beſonderheit vereinzelter Kreiſe des Weltganzen hinausreichen; ſelbſt
im Gebiete des harmloſen Lebens, im Glück der Natur wird aus den
Augen einer ſinnenfrohen Menſchheit eine Erwärmung des tiefſten See-
lenlebens, eine Seelenfreude leuchten, die uns doch ankündigt, daß es hier
auch eine Sehnſucht und einen Schmerz gebe, die einer Aphrodite, einer
Bacchantin fremd ſind; die männliche Würde aber wird uns durch ihr
Sinnen und ihre Falten von andern Kämpfen erzählen, als die Feldherrn,
Staatsmänner, Redner der plaſtiſchen Welt; und entfeſſelt der plaſtiſch
auffaſſende Maler den Sturm der Leidenſchaft, ſo wird er wohl einfacher
ſein, die gemiſchten, ſcheinbar widerſprechenden Affecte lieber meiden,
Informationen zur CAB-Ansicht
Diese Ansicht bietet Ihnen die Darstellung des Textes in normalisierter Orthographie.
Diese Textvariante wird vollautomatisch erstellt und kann aufgrund dessen auch Fehler enthalten.
Alle veränderten Wortformen sind grau hinterlegt. Als fremdsprachliches Material erkannte
Textteile sind ausgegraut dargestellt.
Vischer, Friedrich Theodor von: Ästhetik oder Wissenschaft des Schönen. Bd. 3,2,3. Stuttgart, 1854, S. 596. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/vischer_aesthetik030203_1854/104>, abgerufen am 16.02.2025.
Alle Inhalte dieser Seite unterstehen, soweit nicht anders gekennzeichnet, einer
Creative-Commons-Lizenz.
Die Rechte an den angezeigten Bilddigitalisaten, soweit nicht anders gekennzeichnet, liegen bei den besitzenden Bibliotheken.
Weitere Informationen finden Sie in den DTA-Nutzungsbedingungen.
Insbesondere im Hinblick auf die §§ 86a StGB und 130 StGB wird festgestellt, dass die auf
diesen Seiten abgebildeten Inhalte weder in irgendeiner Form propagandistischen Zwecken
dienen, oder Werbung für verbotene Organisationen oder Vereinigungen darstellen, oder
nationalsozialistische Verbrechen leugnen oder verharmlosen, noch zum Zwecke der
Herabwürdigung der Menschenwürde gezeigt werden.
Die auf diesen Seiten abgebildeten Inhalte (in Wort und Bild) dienen im Sinne des
§ 86 StGB Abs. 3 ausschließlich historischen, sozial- oder kulturwissenschaftlichen
Forschungszwecken. Ihre Veröffentlichung erfolgt in der Absicht, Wissen zur Anregung
der intellektuellen Selbstständigkeit und Verantwortungsbereitschaft des Staatsbürgers zu
vermitteln und damit der Förderung seiner Mündigkeit zu dienen.
2007–2025 Deutsches Textarchiv, Berlin-Brandenburgische Akademie der Wissenschaften
(Kontakt).
Zitierempfehlung: Deutsches Textarchiv. Grundlage für ein Referenzkorpus der neuhochdeutschen Sprache. Herausgegeben von der Berlin-Brandenburgischen Akademie der Wissenschaften, Berlin 2025. URL: https://www.deutschestextarchiv.de/.