Vischer, Friedrich Theodor von: Ästhetik oder Wissenschaft des Schönen. Bd. 3,2,2. Stuttgart, 1853.sie sind von kräftiger und doch zarter Fülle, und um auch den entfernten ſie ſind von kräftiger und doch zarter Fülle, und um auch den entfernten <TEI> <text> <body> <div n="1"> <div n="2"> <div n="3"> <div n="4"> <div n="5"> <div n="6"> <div n="7"> <p> <pb facs="#f0094" n="420"/> <hi rendition="#et">ſie ſind von kräftiger und doch zarter Fülle, und um auch den entfernten<lb/> Schein des Anſatzes zur Thierſchnauze, der in überhängender Oberlippe<lb/> liegt, zu vermeiden, wird die Unterlippe etwas voller gebildet. Das<lb/> nordiſch moderne Auge iſt durch die Gewohnheit, vielgetheilte Formen in<lb/> der Geſichtsbildung zu ſehen, überſättigt wie der Gaumen, der, an ſtärkere<lb/> Reize gewöhnt, das Waſſer, ſelbſt den reinen Wein verſchmäht; daher<lb/> überſieht es leicht das unendliche Feld der Mannigfaltigkeit in Charakter<lb/> und Ausdruck, das durch die zarteſten Modificationen in dieſem rein ab-<lb/> gezirkten Lande einfacher Hebungen und Senkungen hervorgebracht wird.<lb/> Es iſt übrigens durch die Enge des Spielraums der Individualiſirung<lb/> doch auch härtere, hügelichere, durchgearbeitetere Form nicht völlig abge-<lb/> wieſen; ſelbſt Jupiter hat jene Wolke über der Naſenwurzel; im idealen<lb/> Gebiete ſelbſt gibt es realer gefärbte Naturen und die Griechen geben<lb/> dem komiſchen Kreiſe des σιμόν. Der Unterſchied der beſonderen Formen<lb/> im Menſchenleben (Genre-Gebiet), noch mehr die Darſtellung der empi-<lb/> riſchen Individualität, bedingt nun aber bedeutendere Abweichungen von der<lb/> reinen Linie. Hier iſt denn die Hauptſtelle, wo die Gegenſätze des §. 616<lb/> in Kraft treten; die Behandlung des Angeſichts iſt die eigentliche Wahlſtätte<lb/> des Kampfes zwiſchen Individualiſmus, Naturaliſmus auf der einen,<lb/> idealem und ſtrengem Styl auf der andern Seite. Wo glückliche und edle<lb/> Bildung in einem gegebenen Stoffe es zuließ, löſten die Alten die ſchwierige<lb/> Aufgabe gerne durch Annäherung an das Ideal einer beſtimmten Gottheit;<lb/> ſo wird der Kopf Alexanders des Gr. dem des Jupiter ähnlich gebildet,<lb/> namentlich auch in der Löwen-Mähneartigen Behandlung des <hi rendition="#g">Haares</hi>.<lb/> Von dieſem iſt noch zu ſagen, daß hier, wo eine unbeſtimmte Vielheit der<lb/> dünnſten Einzelbildungen vorliegt, die Nothwendigkeit des Styliſirens im<lb/> Gegenſatz gegen eine mit ganz andern Mitteln nachbildende Kunſt be-<lb/> ſonders deutlich einleuchtet. Schon im Naturvorbilde muß daher der<lb/> Bildner Haare vorziehen, die ſich in Gruppen von einiger Völligkeit<lb/> ſammeln; dieß iſt bei gelockten Haaren der Fall, deren Wellen überdieß<lb/> ein viel freieres, naturfriſcheres, lebendiger bewegtes Bild geben, als die<lb/> ſtraffen, die bei nordiſchen Völkern ſo häufig ſind und bald zu dünn und<lb/> fein, bald ſtrohartig hart und ſtruppig erſcheinen. Der Bildner muß<lb/> aber das Haar noch beſtimmter in Maſſen ſammeln, als die Natur es<lb/> thut, und durch ſcharfe Ränder, tiefe Kehlen Einſchattungen hervorbringen,<lb/> welche dieſen pflanzenartigen Wald theilend beleben und maleriſche Mittel<lb/> erſetzen (vergl. §. 608 Anm.). Daſſelbe gilt vom Barte; der des Jupiter<lb/> von Otricoli iſt von beſonders herrlicher Modellirung. Das Haar des<lb/> Weibes mag in weniger volle Maſſen geſammelt und welliger bewegt<lb/> ſchlangenartig dahinwallen. Straffe, ſtruppige, dünne, mangelhafte<lb/> Haare bis zur Kahlheit läßt ſich der individualiſirende und naturaliſtiſche<lb/></hi> </p> </div> </div> </div> </div> </div> </div> </div> </body> </text> </TEI> [420/0094]
ſie ſind von kräftiger und doch zarter Fülle, und um auch den entfernten
Schein des Anſatzes zur Thierſchnauze, der in überhängender Oberlippe
liegt, zu vermeiden, wird die Unterlippe etwas voller gebildet. Das
nordiſch moderne Auge iſt durch die Gewohnheit, vielgetheilte Formen in
der Geſichtsbildung zu ſehen, überſättigt wie der Gaumen, der, an ſtärkere
Reize gewöhnt, das Waſſer, ſelbſt den reinen Wein verſchmäht; daher
überſieht es leicht das unendliche Feld der Mannigfaltigkeit in Charakter
und Ausdruck, das durch die zarteſten Modificationen in dieſem rein ab-
gezirkten Lande einfacher Hebungen und Senkungen hervorgebracht wird.
Es iſt übrigens durch die Enge des Spielraums der Individualiſirung
doch auch härtere, hügelichere, durchgearbeitetere Form nicht völlig abge-
wieſen; ſelbſt Jupiter hat jene Wolke über der Naſenwurzel; im idealen
Gebiete ſelbſt gibt es realer gefärbte Naturen und die Griechen geben
dem komiſchen Kreiſe des σιμόν. Der Unterſchied der beſonderen Formen
im Menſchenleben (Genre-Gebiet), noch mehr die Darſtellung der empi-
riſchen Individualität, bedingt nun aber bedeutendere Abweichungen von der
reinen Linie. Hier iſt denn die Hauptſtelle, wo die Gegenſätze des §. 616
in Kraft treten; die Behandlung des Angeſichts iſt die eigentliche Wahlſtätte
des Kampfes zwiſchen Individualiſmus, Naturaliſmus auf der einen,
idealem und ſtrengem Styl auf der andern Seite. Wo glückliche und edle
Bildung in einem gegebenen Stoffe es zuließ, löſten die Alten die ſchwierige
Aufgabe gerne durch Annäherung an das Ideal einer beſtimmten Gottheit;
ſo wird der Kopf Alexanders des Gr. dem des Jupiter ähnlich gebildet,
namentlich auch in der Löwen-Mähneartigen Behandlung des Haares.
Von dieſem iſt noch zu ſagen, daß hier, wo eine unbeſtimmte Vielheit der
dünnſten Einzelbildungen vorliegt, die Nothwendigkeit des Styliſirens im
Gegenſatz gegen eine mit ganz andern Mitteln nachbildende Kunſt be-
ſonders deutlich einleuchtet. Schon im Naturvorbilde muß daher der
Bildner Haare vorziehen, die ſich in Gruppen von einiger Völligkeit
ſammeln; dieß iſt bei gelockten Haaren der Fall, deren Wellen überdieß
ein viel freieres, naturfriſcheres, lebendiger bewegtes Bild geben, als die
ſtraffen, die bei nordiſchen Völkern ſo häufig ſind und bald zu dünn und
fein, bald ſtrohartig hart und ſtruppig erſcheinen. Der Bildner muß
aber das Haar noch beſtimmter in Maſſen ſammeln, als die Natur es
thut, und durch ſcharfe Ränder, tiefe Kehlen Einſchattungen hervorbringen,
welche dieſen pflanzenartigen Wald theilend beleben und maleriſche Mittel
erſetzen (vergl. §. 608 Anm.). Daſſelbe gilt vom Barte; der des Jupiter
von Otricoli iſt von beſonders herrlicher Modellirung. Das Haar des
Weibes mag in weniger volle Maſſen geſammelt und welliger bewegt
ſchlangenartig dahinwallen. Straffe, ſtruppige, dünne, mangelhafte
Haare bis zur Kahlheit läßt ſich der individualiſirende und naturaliſtiſche
Suche im WerkInformationen zum Werk
Download dieses Werks
XML (TEI P5) ·
HTML ·
Text Metadaten zum WerkTEI-Header · CMDI · Dublin Core Ansichten dieser Seite
Voyant Tools ?Language Resource Switchboard?FeedbackSie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden. Kommentar zur DTA-AusgabeDieses Werk wurde gemäß den DTA-Transkriptionsrichtlinien im Double-Keying-Verfahren von Nicht-Muttersprachlern erfasst und in XML/TEI P5 nach DTA-Basisformat kodiert.
|
Insbesondere im Hinblick auf die §§ 86a StGB und 130 StGB wird festgestellt, dass die auf diesen Seiten abgebildeten Inhalte weder in irgendeiner Form propagandistischen Zwecken dienen, oder Werbung für verbotene Organisationen oder Vereinigungen darstellen, oder nationalsozialistische Verbrechen leugnen oder verharmlosen, noch zum Zwecke der Herabwürdigung der Menschenwürde gezeigt werden. Die auf diesen Seiten abgebildeten Inhalte (in Wort und Bild) dienen im Sinne des § 86 StGB Abs. 3 ausschließlich historischen, sozial- oder kulturwissenschaftlichen Forschungszwecken. Ihre Veröffentlichung erfolgt in der Absicht, Wissen zur Anregung der intellektuellen Selbstständigkeit und Verantwortungsbereitschaft des Staatsbürgers zu vermitteln und damit der Förderung seiner Mündigkeit zu dienen.
2007–2024 Deutsches Textarchiv, Berlin-Brandenburgische Akademie der Wissenschaften.
Kontakt: redaktion(at)deutschestextarchiv.de. |