Vischer, Friedrich Theodor von: Ästhetik oder Wissenschaft des Schönen. Bd. 3,2,2. Stuttgart, 1853.
zu; er tilgt, wo er die empirisch gegebene Individualität nachzubilden oder 2. Naturalismus und Individualismus sind nicht zu verwechseln, sie
zu; er tilgt, wo er die empiriſch gegebene Individualität nachzubilden oder 2. Naturaliſmus und Individualiſmus ſind nicht zu verwechſeln, ſie <TEI> <text> <body> <div n="1"> <div n="2"> <div n="3"> <div n="4"> <div n="5"> <div n="6"> <div n="7"> <p> <hi rendition="#et"><pb facs="#f0086" n="412"/> zu; er tilgt, wo er die empiriſch gegebene Individualität nachzubilden oder<lb/> an der Hand der Ueberlieferung eine Geſtalt hinzuſtellen hat, die ganz<lb/> den Eindruck eines geſchichtlichen Menſchen erregen ſoll, weniger von den<lb/> im Stoffe gegebenen Einſeitigkeiten, relativen Diſſonanzen der Form.<lb/> Allein er kann doch in Aufnahme dieſer Züge nie ſo weit gehen wie der<lb/> Maler; der von ihm ſelbſt anerkannten Nothwendigkeit, daß auch jenes<lb/> Gediegene und Mächtige, das wir bei unregelmäßigerer Bildung ſchon im<lb/> Stoffe vorausgeſetzt haben, noch einer weſentlichen Erhöhung bedürfe,<lb/> muß er durch einen ſehr energiſchen Act der freien Styliſirung Folge<lb/> geben. Die Büſten des Sokrates zeigen, wie dieß gemeint iſt. Dadurch<lb/> rückt denn auch der Individualiſt ſeinen Gegenſtand in eine dem<lb/> Götter-Ideal noch verwandte Höhe; der erhabene Schwung und Zug<lb/> der Umriſſe, der Ausdruck des Subſtantiellen, monumental Gewichtigen<lb/> vereinigt beiderlei Style und es fällt jener „Abglanz des idealen Lichts<lb/> auch auf die Naturen, die ausdrücklich als endliche zur Darſtellung kommen“<lb/> (§. 606). Es heißt in der Schlußbemerkung zu §. 603: ſchlechtweg könne<lb/> das dem Prinzip der directen Idealiſirung entgegenſtehende von der Plaſtik<lb/> nicht ausgeſchloſſen ſein, ſonſt u. ſ. w. Wir haben dieß entgegenſtehende<lb/> Prinzip nun in der Richtung auf das Individuelle gefunden; aber es iſt<lb/> zugleich gezeigt, daß der Gegenſatz nur ein ſchwacher ſein kann. Dieſer<lb/> wichtige Punct iſt wieder aufzufaſſen in der Geſchichte der Bildnerkunſt.</hi> </p><lb/> <p> <hi rendition="#et">2. Naturaliſmus und Individualiſmus ſind nicht zu verwechſeln, ſie<lb/> ſind nicht einerlei; ſie werden gerne Hand in Hand gehen, aber nicht<lb/> nothwendig. Im Naturaliſten wiegt das Moment der Anſchauung über<lb/> die umbildende ſchöpferiſche Thätigkeit der Phantaſie vor, daher ergreift<lb/> er ſeinen Stoff ſo zu ſagen mit Haut und Haaren: er nimmt die allerhand<lb/> Einzelheiten, durch die das Leben ſeine phyſiologiſchen Bedingungen im<lb/> Aeußern ankündigt (Adern, Sehnen u. dergl.), die Härten und Zufälligkeiten,<lb/> welche Alter, Stand, Wind und Wetter, Gewohnheit, Situation des<lb/> Moments dem Menſchen aufdrücken und anwehen, Kleinliches, Runzliches,<lb/> Flatterndes, Spielendes, Nachläſſiges und allzu Straffes mit einer Unbe-<lb/> fangenheit in die Kunſtdarſtellung auf, welche von einer entgegenſtehenden<lb/> Richtung als Ungebundenheit und Unmaaß verworfen wird. Wer nun<lb/> ſo auffaßt und darſtellt, dem fallen mit jenen Einzelheiten und Zufällig-<lb/> keiten, die über alle Naturerſcheinung hinſpielen und ſich ihr anſetzen,<lb/> natürlich auch die individuellen Züge mit ihrer Einſeitigkeit und Unregel-<lb/> mäßigkeit in die Hand; es ſcheint daher, der Naturaliſt ſei nothwendig<lb/> auch Individualiſt. Allein erſtens kommt es ganz darauf an, ob er wirk-<lb/> lich auch nach dieſer Seite aufmerkſam iſt und wählend den ausdrucks-<lb/> vollen Eigenformen des Charakters nachgeht; die Richtung auf das all-<lb/> gemein Naturwahre iſt doch eine ganz andere, als die auf das ſtreng<lb/></hi> </p> </div> </div> </div> </div> </div> </div> </div> </body> </text> </TEI> [412/0086]
zu; er tilgt, wo er die empiriſch gegebene Individualität nachzubilden oder
an der Hand der Ueberlieferung eine Geſtalt hinzuſtellen hat, die ganz
den Eindruck eines geſchichtlichen Menſchen erregen ſoll, weniger von den
im Stoffe gegebenen Einſeitigkeiten, relativen Diſſonanzen der Form.
Allein er kann doch in Aufnahme dieſer Züge nie ſo weit gehen wie der
Maler; der von ihm ſelbſt anerkannten Nothwendigkeit, daß auch jenes
Gediegene und Mächtige, das wir bei unregelmäßigerer Bildung ſchon im
Stoffe vorausgeſetzt haben, noch einer weſentlichen Erhöhung bedürfe,
muß er durch einen ſehr energiſchen Act der freien Styliſirung Folge
geben. Die Büſten des Sokrates zeigen, wie dieß gemeint iſt. Dadurch
rückt denn auch der Individualiſt ſeinen Gegenſtand in eine dem
Götter-Ideal noch verwandte Höhe; der erhabene Schwung und Zug
der Umriſſe, der Ausdruck des Subſtantiellen, monumental Gewichtigen
vereinigt beiderlei Style und es fällt jener „Abglanz des idealen Lichts
auch auf die Naturen, die ausdrücklich als endliche zur Darſtellung kommen“
(§. 606). Es heißt in der Schlußbemerkung zu §. 603: ſchlechtweg könne
das dem Prinzip der directen Idealiſirung entgegenſtehende von der Plaſtik
nicht ausgeſchloſſen ſein, ſonſt u. ſ. w. Wir haben dieß entgegenſtehende
Prinzip nun in der Richtung auf das Individuelle gefunden; aber es iſt
zugleich gezeigt, daß der Gegenſatz nur ein ſchwacher ſein kann. Dieſer
wichtige Punct iſt wieder aufzufaſſen in der Geſchichte der Bildnerkunſt.
2. Naturaliſmus und Individualiſmus ſind nicht zu verwechſeln, ſie
ſind nicht einerlei; ſie werden gerne Hand in Hand gehen, aber nicht
nothwendig. Im Naturaliſten wiegt das Moment der Anſchauung über
die umbildende ſchöpferiſche Thätigkeit der Phantaſie vor, daher ergreift
er ſeinen Stoff ſo zu ſagen mit Haut und Haaren: er nimmt die allerhand
Einzelheiten, durch die das Leben ſeine phyſiologiſchen Bedingungen im
Aeußern ankündigt (Adern, Sehnen u. dergl.), die Härten und Zufälligkeiten,
welche Alter, Stand, Wind und Wetter, Gewohnheit, Situation des
Moments dem Menſchen aufdrücken und anwehen, Kleinliches, Runzliches,
Flatterndes, Spielendes, Nachläſſiges und allzu Straffes mit einer Unbe-
fangenheit in die Kunſtdarſtellung auf, welche von einer entgegenſtehenden
Richtung als Ungebundenheit und Unmaaß verworfen wird. Wer nun
ſo auffaßt und darſtellt, dem fallen mit jenen Einzelheiten und Zufällig-
keiten, die über alle Naturerſcheinung hinſpielen und ſich ihr anſetzen,
natürlich auch die individuellen Züge mit ihrer Einſeitigkeit und Unregel-
mäßigkeit in die Hand; es ſcheint daher, der Naturaliſt ſei nothwendig
auch Individualiſt. Allein erſtens kommt es ganz darauf an, ob er wirk-
lich auch nach dieſer Seite aufmerkſam iſt und wählend den ausdrucks-
vollen Eigenformen des Charakters nachgeht; die Richtung auf das all-
gemein Naturwahre iſt doch eine ganz andere, als die auf das ſtreng
Suche im WerkInformationen zum Werk
Download dieses Werks
XML (TEI P5) ·
HTML ·
Text Metadaten zum WerkTEI-Header · CMDI · Dublin Core Ansichten dieser Seite
Voyant Tools ?Language Resource Switchboard?FeedbackSie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden. Kommentar zur DTA-AusgabeDieses Werk wurde gemäß den DTA-Transkriptionsrichtlinien im Double-Keying-Verfahren von Nicht-Muttersprachlern erfasst und in XML/TEI P5 nach DTA-Basisformat kodiert.
|
Insbesondere im Hinblick auf die §§ 86a StGB und 130 StGB wird festgestellt, dass die auf diesen Seiten abgebildeten Inhalte weder in irgendeiner Form propagandistischen Zwecken dienen, oder Werbung für verbotene Organisationen oder Vereinigungen darstellen, oder nationalsozialistische Verbrechen leugnen oder verharmlosen, noch zum Zwecke der Herabwürdigung der Menschenwürde gezeigt werden. Die auf diesen Seiten abgebildeten Inhalte (in Wort und Bild) dienen im Sinne des § 86 StGB Abs. 3 ausschließlich historischen, sozial- oder kulturwissenschaftlichen Forschungszwecken. Ihre Veröffentlichung erfolgt in der Absicht, Wissen zur Anregung der intellektuellen Selbstständigkeit und Verantwortungsbereitschaft des Staatsbürgers zu vermitteln und damit der Förderung seiner Mündigkeit zu dienen.
2007–2024 Deutsches Textarchiv, Berlin-Brandenburgische Akademie der Wissenschaften.
Kontakt: redaktion(at)deutschestextarchiv.de. |