Vischer, Friedrich Theodor von: Ästhetik oder Wissenschaft des Schönen. Bd. 3,2,2. Stuttgart, 1853.
zusagen, als die beiden andern; denn der erste hat leicht eine ge- Vischer's Aesthetik. 3. Band. 27
zuſagen, als die beiden andern; denn der erſte hat leicht eine ge- Viſcher’s Aeſthetik. 3. Band. 27
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zuſagen, als die beiden andern; denn der erſte hat leicht eine ge-
wiſſe bange, dramatiſche Geſpanntheit, welche zu unruhig, ängſtlich wirkt
für eine Kunſt, die keine weiteren Mittel hat, eine ſolche Stimmung im
Fortgang aufzulöſen: ein neuer, poſitiver Beweis, daß das Bild, welches
der Künſtler dem Zuſchauer zu vollziehen übrig läßt, keineswegs Stärkeres
und das Stärkſte enthalten muß; vom zweiten iſt, wie ſich zeigen wird,
jene beſondere Art der ſtärkſten Entladung, welche häßlich iſt und welche
allein das höchſt Momentane von der plaſtiſchen Darſtellung ausſchließt,
allerdings ſchwer abzuhalten; der dritte aber iſt darum beſonders geeignet,
weil, was vorzuſtellen übrig bleibt, eben ein Ruhiges, Beruhigendes iſt.
Bei dieſer letzten, der Plaſtik angemeſſenſten Wahl des Augenblicks hat
übrigens der Zuſchauer mehr Vorangegangenes, als Folgendes ſich ergänzend
vorzuſtellen und dieß iſt eine ſehr richtige nähere Beſtimmung des Satzes
im §.; denn gerade diejenige Bewegung bringt das Wogen der Seele in
das rechte plaſtiſche Gleichgewicht, welche das Heftigere als ein Vorangegan-
genes, das Folgende als ein Ruhigeres oder auch Heiteres ſich vorzu-
ſtellen hat; der majeſtätiſch und doch freundlich thronende Zeus hat in
furchtbarem Götterzorn die Titanen zerſchmettert, jetzt wird er ſein
Menſchengeſchlecht huldvoll ſchützen und ſegnen; Apollo hat geſchoſſen,
ruht aus im Siegesgefühl und wird dem Frommen ein guter Lichtgeiſt
ſein; die Harmonie alles Schönen ſteht nicht nur in Ausſicht, ſondern iſt
ſchon da. — Der Schluß des §. hebt noch eine Licenz der Sculptur hervor,
wodurch ihre Zeitgrenze ſich weſentlich erweitert: ſie darf zwar das
Succeſſive in Beziehung auf dieſelbe Perſon nicht, oder nur vereinzelt
etwa im Relief, in ein Nebeneinander des Raums verwandeln, entſchieden
aber iſt es ihr vergönnt, aufeinanderfolgende Momente derſelben Hand-
lung ohne Wiederholung der Perſon wie ein Gleichzeitiges nebeneinan-
der zu ſtellen, und ebenſo mag ſie entlegene Räume zuſammenziehen auf
Einen; ſo führt Pelops die Hippodamia, die Beute des Wagenrennens,
obwohl ſie bei dieſem nicht anweſend iſt, ſchon im Wagen mit ſich: der
Künſtler wollte mit dem Kampfe ſchon den Erfolg ausſprechen. Es
gehört dieß gewiſſermaßen zu den ſymboliſchen Hülfen, den Abbreviaturen
des §. 612; das Recht zu dieſer Freiheit liegt tief in der Phantaſie; die
Sage ſelbſt läßt manche ihrer Geſtalten nicht altern, andere bleiben ihr
immer alt, ſie ſtellt zuſammen, was in entfernte Zeiten und Räume fällt,
weil ſie es eben ſo und nicht anders bedarf, um ihre poetiſchen Motive
zu entwickeln, und darf das Theater durch ſucceſſiven Scenenwechſel un-
ſerer Phantaſie die windſchnelle Verſetzung von einem Raum in den an-
dern zumuthen, ſo hat auch die bildende Kunſt ihre Freiheiten in der
Form des Nebeneinander, welches ſchließlich durch das Fortrücken des
Auges doch auch ein Mindeſtes von Nacheinander enthält.
Viſcher’s Aeſthetik. 3. Band. 27
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