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Vischer, Friedrich Theodor von: Ästhetik oder Wissenschaft des Schönen. Bd. 3,2,2. Stuttgart, 1853.

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nach der Seite der Figurenzahl nicht eigentlich erweitert wird; solche Zu-
sammenstellungen kommen erst bei der Frage über cyklische Anordnung zur
Sprache. Anders verhält es sich, wo das Bildwerk vor eine architekto-
nische Fläche auf ein Gesimse gestellt und von einem Rahmen, der es zu
einem Ganzen zusammenfaßt, umgeben wird, wie in dem stumpfen Dreieck
des Giebelfeldes. Hier kann sich die Sculptur in reichen Gruppen
entwickeln, wie in den Giebelfeldern des Parthenon, des Zeustempels zu
Olympia, des Athene-Tempels zu Tegea; allein auch diese Erweiterung
geht nicht so tief, als es scheint, denn sie fordert zwei Opfer: das der
engeren Gruppirung und ebenhiemit das der vielseitigen Schönheit, welche
das freistehende Werk dem Umwandelnden darbietet. Alle Bildwerke, die
sich an eine architektonische Fläche schließen, sind nur auf Einen Gesichts-
punct berechnet und an der nicht sichtbaren Seite nur ganz oberflächlich
bearbeitet. Die Figuren des Giebelfeldes können aber auch mit der Fläche
noch wirklich zusammenhängen und dieß führt auf die besondere Form der
plastischen Darstellungsweise, die wir bisher nur gelegentlich erwähnt haben,
das Relief. Diese eigenthümliche Form ist offenbar in Aegypten her-
vorgegangen aus eingegrabenen Umrissen, also einem Verfahren des Zeich-
nens, das sich mit einem architektonischen Körper dauernder zu vermählen
suchte; man ging dann auf zwei Wegen weiter: man nahm das inner-
halb der Umrisse Stehengebliebene weg und hatte nun flach vertiefte Fi-
guren, die man bemalte; oder man rundete die Formen der Gestalten, die
der tiefe, scharfe Umriß zeigte, nach dem Vorbilde der festen Form in der
Natur ab und dieser Weg führte zum Relief, denn man hatte nun
eine Figur, die, obgleich sie auch noch bemalt wurde, doch innerhalb des
Umrisses ihre Formen plastisch aussprach. Es fehlte nur noch, was die
Aegypter noch nicht wagten, daß man die Erhöhung zwischen solchen Figuren
(sog. Koilanaglyphen) abflachte bis an eine Grenze, die einen umschließen-
den Rahmen darstellen sollte, daß man die Ausladung der Figuren nicht
auf das Richtmaaß der weggenommenen, jenseits des Rahmens aber be-
lassenen Fläche beschränkte, sondern verschiedene Grade der Erhebung je
nach dem künstlerischen Bedürfniß (basso, mezzo, alto) wählte und end-
lich die Bemalung, wo nicht aufgab, doch als freie Zuthat in beliebiger
Ausdehnung übte: so erkannte man, daß man in der Plastik selbst, wenn
man sie so als aus einer Fläche nicht bis zur völligen Ablösung heraus-
wachsen lasse, in gewissem Sinne malen und sich somit unendlich freier
bewegen könne, als in der völligen Rundbildnerei. Es war dieß nicht
mehr ein eigentliches Malen wie jene den Koilanaglyphen vorangegangene
Darstellungsweise, aber die Plastik wies nun durch diese aus einer Art
von Malerei an sich schon entstandene Form als ihren Endpunct nach der
Malerei hinüber. Und wirklich ist und bleibt das Relief eine Mittelform,

nach der Seite der Figurenzahl nicht eigentlich erweitert wird; ſolche Zu-
ſammenſtellungen kommen erſt bei der Frage über cykliſche Anordnung zur
Sprache. Anders verhält es ſich, wo das Bildwerk vor eine architekto-
niſche Fläche auf ein Geſimſe geſtellt und von einem Rahmen, der es zu
einem Ganzen zuſammenfaßt, umgeben wird, wie in dem ſtumpfen Dreieck
des Giebelfeldes. Hier kann ſich die Sculptur in reichen Gruppen
entwickeln, wie in den Giebelfeldern des Parthenon, des Zeustempels zu
Olympia, des Athene-Tempels zu Tegea; allein auch dieſe Erweiterung
geht nicht ſo tief, als es ſcheint, denn ſie fordert zwei Opfer: das der
engeren Gruppirung und ebenhiemit das der vielſeitigen Schönheit, welche
das freiſtehende Werk dem Umwandelnden darbietet. Alle Bildwerke, die
ſich an eine architektoniſche Fläche ſchließen, ſind nur auf Einen Geſichts-
punct berechnet und an der nicht ſichtbaren Seite nur ganz oberflächlich
bearbeitet. Die Figuren des Giebelfeldes können aber auch mit der Fläche
noch wirklich zuſammenhängen und dieß führt auf die beſondere Form der
plaſtiſchen Darſtellungsweiſe, die wir bisher nur gelegentlich erwähnt haben,
das Relief. Dieſe eigenthümliche Form iſt offenbar in Aegypten her-
vorgegangen aus eingegrabenen Umriſſen, alſo einem Verfahren des Zeich-
nens, das ſich mit einem architektoniſchen Körper dauernder zu vermählen
ſuchte; man ging dann auf zwei Wegen weiter: man nahm das inner-
halb der Umriſſe Stehengebliebene weg und hatte nun flach vertiefte Fi-
guren, die man bemalte; oder man rundete die Formen der Geſtalten, die
der tiefe, ſcharfe Umriß zeigte, nach dem Vorbilde der feſten Form in der
Natur ab und dieſer Weg führte zum Relief, denn man hatte nun
eine Figur, die, obgleich ſie auch noch bemalt wurde, doch innerhalb des
Umriſſes ihre Formen plaſtiſch ausſprach. Es fehlte nur noch, was die
Aegypter noch nicht wagten, daß man die Erhöhung zwiſchen ſolchen Figuren
(ſog. Koilanaglyphen) abflachte bis an eine Grenze, die einen umſchließen-
den Rahmen darſtellen ſollte, daß man die Ausladung der Figuren nicht
auf das Richtmaaß der weggenommenen, jenſeits des Rahmens aber be-
laſſenen Fläche beſchränkte, ſondern verſchiedene Grade der Erhebung je
nach dem künſtleriſchen Bedürfniß (basso, mezzo, alto) wählte und end-
lich die Bemalung, wo nicht aufgab, doch als freie Zuthat in beliebiger
Ausdehnung übte: ſo erkannte man, daß man in der Plaſtik ſelbſt, wenn
man ſie ſo als aus einer Fläche nicht bis zur völligen Ablöſung heraus-
wachſen laſſe, in gewiſſem Sinne malen und ſich ſomit unendlich freier
bewegen könne, als in der völligen Rundbildnerei. Es war dieß nicht
mehr ein eigentliches Malen wie jene den Koilanaglyphen vorangegangene
Darſtellungsweiſe, aber die Plaſtik wies nun durch dieſe aus einer Art
von Malerei an ſich ſchon entſtandene Form als ihren Endpunct nach der
Malerei hinüber. Und wirklich iſt und bleibt das Relief eine Mittelform,

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[392/0066] nach der Seite der Figurenzahl nicht eigentlich erweitert wird; ſolche Zu- ſammenſtellungen kommen erſt bei der Frage über cykliſche Anordnung zur Sprache. Anders verhält es ſich, wo das Bildwerk vor eine architekto- niſche Fläche auf ein Geſimſe geſtellt und von einem Rahmen, der es zu einem Ganzen zuſammenfaßt, umgeben wird, wie in dem ſtumpfen Dreieck des Giebelfeldes. Hier kann ſich die Sculptur in reichen Gruppen entwickeln, wie in den Giebelfeldern des Parthenon, des Zeustempels zu Olympia, des Athene-Tempels zu Tegea; allein auch dieſe Erweiterung geht nicht ſo tief, als es ſcheint, denn ſie fordert zwei Opfer: das der engeren Gruppirung und ebenhiemit das der vielſeitigen Schönheit, welche das freiſtehende Werk dem Umwandelnden darbietet. Alle Bildwerke, die ſich an eine architektoniſche Fläche ſchließen, ſind nur auf Einen Geſichts- punct berechnet und an der nicht ſichtbaren Seite nur ganz oberflächlich bearbeitet. Die Figuren des Giebelfeldes können aber auch mit der Fläche noch wirklich zuſammenhängen und dieß führt auf die beſondere Form der plaſtiſchen Darſtellungsweiſe, die wir bisher nur gelegentlich erwähnt haben, das Relief. Dieſe eigenthümliche Form iſt offenbar in Aegypten her- vorgegangen aus eingegrabenen Umriſſen, alſo einem Verfahren des Zeich- nens, das ſich mit einem architektoniſchen Körper dauernder zu vermählen ſuchte; man ging dann auf zwei Wegen weiter: man nahm das inner- halb der Umriſſe Stehengebliebene weg und hatte nun flach vertiefte Fi- guren, die man bemalte; oder man rundete die Formen der Geſtalten, die der tiefe, ſcharfe Umriß zeigte, nach dem Vorbilde der feſten Form in der Natur ab und dieſer Weg führte zum Relief, denn man hatte nun eine Figur, die, obgleich ſie auch noch bemalt wurde, doch innerhalb des Umriſſes ihre Formen plaſtiſch ausſprach. Es fehlte nur noch, was die Aegypter noch nicht wagten, daß man die Erhöhung zwiſchen ſolchen Figuren (ſog. Koilanaglyphen) abflachte bis an eine Grenze, die einen umſchließen- den Rahmen darſtellen ſollte, daß man die Ausladung der Figuren nicht auf das Richtmaaß der weggenommenen, jenſeits des Rahmens aber be- laſſenen Fläche beſchränkte, ſondern verſchiedene Grade der Erhebung je nach dem künſtleriſchen Bedürfniß (basso, mezzo, alto) wählte und end- lich die Bemalung, wo nicht aufgab, doch als freie Zuthat in beliebiger Ausdehnung übte: ſo erkannte man, daß man in der Plaſtik ſelbſt, wenn man ſie ſo als aus einer Fläche nicht bis zur völligen Ablöſung heraus- wachſen laſſe, in gewiſſem Sinne malen und ſich ſomit unendlich freier bewegen könne, als in der völligen Rundbildnerei. Es war dieß nicht mehr ein eigentliches Malen wie jene den Koilanaglyphen vorangegangene Darſtellungsweiſe, aber die Plaſtik wies nun durch dieſe aus einer Art von Malerei an ſich ſchon entſtandene Form als ihren Endpunct nach der Malerei hinüber. Und wirklich iſt und bleibt das Relief eine Mittelform,

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Zitationshilfe: Vischer, Friedrich Theodor von: Ästhetik oder Wissenschaft des Schönen. Bd. 3,2,2. Stuttgart, 1853, S. 392. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/vischer_aesthetik030202_1853/66>, abgerufen am 30.04.2024.