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Vischer, Friedrich Theodor von: Ästhetik oder Wissenschaft des Schönen. Bd. 3,2,2. Stuttgart, 1853.

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im ersten Augenblick durch die Illusion, als trete man vor eine leben-
dige Gestalt; bei näherem Hinsehen aber erfährt man, was die Folge
ist, wenn die Kunst mit der Natur in dem, was nur dieser eigen ist, in
dem Eindruck des unmittelbar Lebendigen wetteifern will, die Kluft wird
nur um so tiefer gefühlt, die Unmöglichkeit, sie zu überspringen, kommt
nur um so stärker zum Bewußtsein. Dieß bewirken namentlich die ge-
färbten Augen: ihr wechselnder Lichtpunct kann nur auf Eine Stelle auf-
gemalt werden, trete ich auf eine andere Seite, so fehlt er; Glas und
anderes glänzendes Material gibt nicht diesen Lichtpunkt in seiner gesam-
melten Intensität, sondern nur den allgemeinen Glanz des Auges wieder.
Der Zuschauer wäre nun eigentlich enttäuscht, aber die Täuschung wirkt
durch ihre plumpe Gewalt in die Enttäuschung so herüber, daß beide
Stimmungen zum Gefühle des Gespenstischen unheimlich sich verbinden:
eine lebendigtodte, todtlebendige Larve steht vor uns. Eigentlich ist nun
kein Grund, warum nicht auch die wirkliche Bewegung in dieses voll-
kommene Abbild aufgenommen werden soll, wie dieß öfters theilweise bei
Wachsfiguren, ganz bei Automaten geschieht, an die wir zu §. 599 schon
erinnert haben. -- Hat nun eine Kunst, die im Uebrigen hoch stand, voll-
ständig, d. h. mit Durchführung aller Farbenverhältnisse, wie sie der le-
bendige Körper zeigt (es handelt sich hauptsächlich von Incarnat, Ge-
wänder sind unwichtiger, Licht und Schatten fallen, als durch die feste
Form schon gegeben, natürlich weg), ihre Bildwerke bemalt, so muß
dieß seine Erklärung in besondern kunstgeschichtlichen Verhältnissen finden.
Gethan hat dieß das Mittelalter, vorzüglich an Schnitzbildern, weniger
vollständig bei Statuen in Stein; es ist eine entschiedene Uebertragung
der malerischen Phantasie auf die plastische, welche nur darum erträglich
ist, weil sie im großen geschichtlichen Zusammenhang eines Kunststyls ihre
Stelle hat, den wir in seiner mildernden Rückwirkung auf diesen Ueber-
griff seines Orts darzustellen haben. Von der eigentlich malerischen Be-
malung ist nun als zweite Stufe zu unterscheiden ein bestimmtes Angeben
aller Localfarben, wiewohl ohne Versuch, die feineren Töne und Ueber-
gänge, die zärteren Einzelheiten, die Reflexe wiederzugeben, und wir
fassen mit ihr sogleich eine dritte Stufe zusammen, welche nicht alle Localfar-
ben, sondern nur einige angibt. Da wir die grelle Uebermalung dem Kind-
heitszustande unserer Kunst zugewiesen haben, so handelt es sich auch bei der
zweiten Stufe nur um einen milden Anflug sämmtlicher Localfarben, ins-
besondere des Incarnats. Die erste Stufe gleicht dem Oelgemälde, die
zweite einem Steindruck, dessen Ganzes mit nur andeutenden Tönen über-
malt ist, die dritte einem solchen, worin nur einzelne Localtöne angege-
ben sind, das Uebrige in Licht und Schwarz gelassen ist, wie es aus der
Hand des Lithographen kommt. Hätte die griechische Sculptur, nachdem

im erſten Augenblick durch die Illuſion, als trete man vor eine leben-
dige Geſtalt; bei näherem Hinſehen aber erfährt man, was die Folge
iſt, wenn die Kunſt mit der Natur in dem, was nur dieſer eigen iſt, in
dem Eindruck des unmittelbar Lebendigen wetteifern will, die Kluft wird
nur um ſo tiefer gefühlt, die Unmöglichkeit, ſie zu überſpringen, kommt
nur um ſo ſtärker zum Bewußtſein. Dieß bewirken namentlich die ge-
färbten Augen: ihr wechſelnder Lichtpunct kann nur auf Eine Stelle auf-
gemalt werden, trete ich auf eine andere Seite, ſo fehlt er; Glas und
anderes glänzendes Material gibt nicht dieſen Lichtpunkt in ſeiner geſam-
melten Intenſität, ſondern nur den allgemeinen Glanz des Auges wieder.
Der Zuſchauer wäre nun eigentlich enttäuſcht, aber die Täuſchung wirkt
durch ihre plumpe Gewalt in die Enttäuſchung ſo herüber, daß beide
Stimmungen zum Gefühle des Geſpenſtiſchen unheimlich ſich verbinden:
eine lebendigtodte, todtlebendige Larve ſteht vor uns. Eigentlich iſt nun
kein Grund, warum nicht auch die wirkliche Bewegung in dieſes voll-
kommene Abbild aufgenommen werden ſoll, wie dieß öfters theilweiſe bei
Wachsfiguren, ganz bei Automaten geſchieht, an die wir zu §. 599 ſchon
erinnert haben. — Hat nun eine Kunſt, die im Uebrigen hoch ſtand, voll-
ſtändig, d. h. mit Durchführung aller Farbenverhältniſſe, wie ſie der le-
bendige Körper zeigt (es handelt ſich hauptſächlich von Incarnat, Ge-
wänder ſind unwichtiger, Licht und Schatten fallen, als durch die feſte
Form ſchon gegeben, natürlich weg), ihre Bildwerke bemalt, ſo muß
dieß ſeine Erklärung in beſondern kunſtgeſchichtlichen Verhältniſſen finden.
Gethan hat dieß das Mittelalter, vorzüglich an Schnitzbildern, weniger
vollſtändig bei Statuen in Stein; es iſt eine entſchiedene Uebertragung
der maleriſchen Phantaſie auf die plaſtiſche, welche nur darum erträglich
iſt, weil ſie im großen geſchichtlichen Zuſammenhang eines Kunſtſtyls ihre
Stelle hat, den wir in ſeiner mildernden Rückwirkung auf dieſen Ueber-
griff ſeines Orts darzuſtellen haben. Von der eigentlich maleriſchen Be-
malung iſt nun als zweite Stufe zu unterſcheiden ein beſtimmtes Angeben
aller Localfarben, wiewohl ohne Verſuch, die feineren Töne und Ueber-
gänge, die zärteren Einzelheiten, die Reflexe wiederzugeben, und wir
faſſen mit ihr ſogleich eine dritte Stufe zuſammen, welche nicht alle Localfar-
ben, ſondern nur einige angibt. Da wir die grelle Uebermalung dem Kind-
heitszuſtande unſerer Kunſt zugewieſen haben, ſo handelt es ſich auch bei der
zweiten Stufe nur um einen milden Anflug ſämmtlicher Localfarben, ins-
beſondere des Incarnats. Die erſte Stufe gleicht dem Oelgemälde, die
zweite einem Steindruck, deſſen Ganzes mit nur andeutenden Tönen über-
malt iſt, die dritte einem ſolchen, worin nur einzelne Localtöne angege-
ben ſind, das Uebrige in Licht und Schwarz gelaſſen iſt, wie es aus der
Hand des Lithographen kommt. Hätte die griechiſche Sculptur, nachdem

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[379/0053] im erſten Augenblick durch die Illuſion, als trete man vor eine leben- dige Geſtalt; bei näherem Hinſehen aber erfährt man, was die Folge iſt, wenn die Kunſt mit der Natur in dem, was nur dieſer eigen iſt, in dem Eindruck des unmittelbar Lebendigen wetteifern will, die Kluft wird nur um ſo tiefer gefühlt, die Unmöglichkeit, ſie zu überſpringen, kommt nur um ſo ſtärker zum Bewußtſein. Dieß bewirken namentlich die ge- färbten Augen: ihr wechſelnder Lichtpunct kann nur auf Eine Stelle auf- gemalt werden, trete ich auf eine andere Seite, ſo fehlt er; Glas und anderes glänzendes Material gibt nicht dieſen Lichtpunkt in ſeiner geſam- melten Intenſität, ſondern nur den allgemeinen Glanz des Auges wieder. Der Zuſchauer wäre nun eigentlich enttäuſcht, aber die Täuſchung wirkt durch ihre plumpe Gewalt in die Enttäuſchung ſo herüber, daß beide Stimmungen zum Gefühle des Geſpenſtiſchen unheimlich ſich verbinden: eine lebendigtodte, todtlebendige Larve ſteht vor uns. Eigentlich iſt nun kein Grund, warum nicht auch die wirkliche Bewegung in dieſes voll- kommene Abbild aufgenommen werden ſoll, wie dieß öfters theilweiſe bei Wachsfiguren, ganz bei Automaten geſchieht, an die wir zu §. 599 ſchon erinnert haben. — Hat nun eine Kunſt, die im Uebrigen hoch ſtand, voll- ſtändig, d. h. mit Durchführung aller Farbenverhältniſſe, wie ſie der le- bendige Körper zeigt (es handelt ſich hauptſächlich von Incarnat, Ge- wänder ſind unwichtiger, Licht und Schatten fallen, als durch die feſte Form ſchon gegeben, natürlich weg), ihre Bildwerke bemalt, ſo muß dieß ſeine Erklärung in beſondern kunſtgeſchichtlichen Verhältniſſen finden. Gethan hat dieß das Mittelalter, vorzüglich an Schnitzbildern, weniger vollſtändig bei Statuen in Stein; es iſt eine entſchiedene Uebertragung der maleriſchen Phantaſie auf die plaſtiſche, welche nur darum erträglich iſt, weil ſie im großen geſchichtlichen Zuſammenhang eines Kunſtſtyls ihre Stelle hat, den wir in ſeiner mildernden Rückwirkung auf dieſen Ueber- griff ſeines Orts darzuſtellen haben. Von der eigentlich maleriſchen Be- malung iſt nun als zweite Stufe zu unterſcheiden ein beſtimmtes Angeben aller Localfarben, wiewohl ohne Verſuch, die feineren Töne und Ueber- gänge, die zärteren Einzelheiten, die Reflexe wiederzugeben, und wir faſſen mit ihr ſogleich eine dritte Stufe zuſammen, welche nicht alle Localfar- ben, ſondern nur einige angibt. Da wir die grelle Uebermalung dem Kind- heitszuſtande unſerer Kunſt zugewieſen haben, ſo handelt es ſich auch bei der zweiten Stufe nur um einen milden Anflug ſämmtlicher Localfarben, ins- beſondere des Incarnats. Die erſte Stufe gleicht dem Oelgemälde, die zweite einem Steindruck, deſſen Ganzes mit nur andeutenden Tönen über- malt iſt, die dritte einem ſolchen, worin nur einzelne Localtöne angege- ben ſind, das Uebrige in Licht und Schwarz gelaſſen iſt, wie es aus der Hand des Lithographen kommt. Hätte die griechiſche Sculptur, nachdem

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Zitationshilfe: Vischer, Friedrich Theodor von: Ästhetik oder Wissenschaft des Schönen. Bd. 3,2,2. Stuttgart, 1853, S. 379. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/vischer_aesthetik030202_1853/53>, abgerufen am 30.04.2024.