Vischer, Friedrich Theodor von: Ästhetik oder Wissenschaft des Schönen. Bd. 3,2,2. Stuttgart, 1853.
leistet, deren kindlich klares Auge noch wesentlich auf das Seiende im eng-
leiſtet, deren kindlich klares Auge noch weſentlich auf das Seiende im eng- <TEI> <text> <body> <div n="1"> <div n="2"> <div n="3"> <div n="4"> <div n="5"> <div n="6"> <div n="7"> <p> <hi rendition="#et"><pb facs="#f0020" n="346"/> leiſtet, deren kindlich klares Auge noch weſentlich auf das Seiende im eng-<lb/> ſten Sinn, das greiflich Solide, warm ſich Füllende im Raume geht.<lb/> Dieſes Auge iſt nun mit dem architektoniſchen noch weſentlich verwandt.<lb/> Es geht nicht mehr auf die im zerworfenen Erdreich verhüllten rei-<lb/> nen geometriſchen Verhältniſſe, ſondern auf die organiſch geſchwungene,<lb/> zur Erſcheinung des Individuums abgerundete Form, aber doch auf dieſe<lb/> Form als eine in den Raum feſt und ſchwer hineingebaute; dieſe Form<lb/> iſt als organiſch ſchöne über das exact Meßbare unendlich hinaus, aber<lb/> ſie enthält es doch als weſentliche Grundlage noch in ſich. Regelmäßige<lb/> Verhältniſſe machen die Geſtalt des lebendigen Individuums noch nicht<lb/> ſchön, ſind aber der feſte Kern, das Knochengerüſte ſeiner Schön-<lb/> heit; das taſtende Sehen iſt noch ein wirklich meſſendes, wiewohl es zu-<lb/> gleich unendlich mehr iſt. Darum eben erblickt der ſo Sehende jede Schief-<lb/> heit, jedes Mißverhältniß im Bau einer Geſtalt mit einer Schärfe und<lb/> Raſchheit, wie ſie dem maleriſch Sehenden fremd iſt. Geht nun dieſe<lb/> Phantaſie in Thätigkeit über und ſchafft ſich ihre Kunſtform, ſo tritt das<lb/> Architekturartige in ihr vollends zu Tage. Wie ſie aufgefaßt hat, muß<lb/> ſie auch nachbilden, ſie muß, um das räumlich Feſte der Form wiederzu-<lb/> geben, zum ſchweren, harten Materiale greifen, wie die Baukunſt; ſie muß<lb/> zu dem Theile der Arbeit, welche den wahren und vollen Sitz der Schön-<lb/> heit nachahmt, auf einer Grundlage wirklichen Meſſens fortſchreiten. Die<lb/> Bildnerkunſt theilt daher mit der Baukunſt auch dieß, daß ſie auf eine<lb/> beſtimmte <hi rendition="#g">Wiſſenſchaft</hi>, die Meßkunde, bezogen iſt, nur nicht ſo ſtreng,<lb/> nicht ſo durchgängig. Ihr vollendetes Gebilde ſtellt ſie in den wirklichen<lb/> Raum als raumerfüllendes hinein. Hier iſt der Ort, die Begriffe des<lb/> Raums und der Zeit wieder aufzunehmen, wie ſie zu §. 534 als gewöhn-<lb/> liche Kategorie der Eintheilung der Künſte angeführt iſt. Es leuchtet<lb/> nämlich auch an der gegenwärtigen Stelle ein, wie unzulänglich dieſer<lb/> Unterſcheidungsbegriff iſt; die Bildnerkunſt fällt nach demſelben einfach<lb/> unter die Künſte des Raums, der Zeitbegriff ſoll erſt bei der Muſik ein-<lb/> treten; allein er tritt ſchon hier ein, nur ſo, daß er vom Raumbegriffe<lb/> beherrſcht iſt. Nur die Baukunſt iſt rein räumlich, ihr Werk lebt erſt im<lb/> Zuſchauer zu einer Bewegung, alſo einem Zeitleben, der Muſik verwandt<lb/> auf; die Bildnerkunſt dagegen hat ein im Raume ſich Bewegendes, ein<lb/> Zeitleben wirklich zu ihrem Vorbild, und die Anſchauung, welche dem<lb/> Schaffen des Bildners zu Grunde liegt, faßt die feſte Form weſentlich in<lb/> dieſer Beſtimmtheit der Bewegung auf; erſt in der künſtleriſchen Ausfüh-<lb/> rung muß die wirkliche Bewegung wegfallen, weil ſonſt entweder die For-<lb/> derung, daß das Material todter Stoff ſein muß (§. 490), nicht erfüllt<lb/> werden könnte oder eine mechaniſche Bewegung angewandt werden müßte,<lb/> welche in das gemein Techniſche abführt und in dieſem Gebiete einen<lb/></hi> </p> </div> </div> </div> </div> </div> </div> </div> </body> </text> </TEI> [346/0020]
leiſtet, deren kindlich klares Auge noch weſentlich auf das Seiende im eng-
ſten Sinn, das greiflich Solide, warm ſich Füllende im Raume geht.
Dieſes Auge iſt nun mit dem architektoniſchen noch weſentlich verwandt.
Es geht nicht mehr auf die im zerworfenen Erdreich verhüllten rei-
nen geometriſchen Verhältniſſe, ſondern auf die organiſch geſchwungene,
zur Erſcheinung des Individuums abgerundete Form, aber doch auf dieſe
Form als eine in den Raum feſt und ſchwer hineingebaute; dieſe Form
iſt als organiſch ſchöne über das exact Meßbare unendlich hinaus, aber
ſie enthält es doch als weſentliche Grundlage noch in ſich. Regelmäßige
Verhältniſſe machen die Geſtalt des lebendigen Individuums noch nicht
ſchön, ſind aber der feſte Kern, das Knochengerüſte ſeiner Schön-
heit; das taſtende Sehen iſt noch ein wirklich meſſendes, wiewohl es zu-
gleich unendlich mehr iſt. Darum eben erblickt der ſo Sehende jede Schief-
heit, jedes Mißverhältniß im Bau einer Geſtalt mit einer Schärfe und
Raſchheit, wie ſie dem maleriſch Sehenden fremd iſt. Geht nun dieſe
Phantaſie in Thätigkeit über und ſchafft ſich ihre Kunſtform, ſo tritt das
Architekturartige in ihr vollends zu Tage. Wie ſie aufgefaßt hat, muß
ſie auch nachbilden, ſie muß, um das räumlich Feſte der Form wiederzu-
geben, zum ſchweren, harten Materiale greifen, wie die Baukunſt; ſie muß
zu dem Theile der Arbeit, welche den wahren und vollen Sitz der Schön-
heit nachahmt, auf einer Grundlage wirklichen Meſſens fortſchreiten. Die
Bildnerkunſt theilt daher mit der Baukunſt auch dieß, daß ſie auf eine
beſtimmte Wiſſenſchaft, die Meßkunde, bezogen iſt, nur nicht ſo ſtreng,
nicht ſo durchgängig. Ihr vollendetes Gebilde ſtellt ſie in den wirklichen
Raum als raumerfüllendes hinein. Hier iſt der Ort, die Begriffe des
Raums und der Zeit wieder aufzunehmen, wie ſie zu §. 534 als gewöhn-
liche Kategorie der Eintheilung der Künſte angeführt iſt. Es leuchtet
nämlich auch an der gegenwärtigen Stelle ein, wie unzulänglich dieſer
Unterſcheidungsbegriff iſt; die Bildnerkunſt fällt nach demſelben einfach
unter die Künſte des Raums, der Zeitbegriff ſoll erſt bei der Muſik ein-
treten; allein er tritt ſchon hier ein, nur ſo, daß er vom Raumbegriffe
beherrſcht iſt. Nur die Baukunſt iſt rein räumlich, ihr Werk lebt erſt im
Zuſchauer zu einer Bewegung, alſo einem Zeitleben, der Muſik verwandt
auf; die Bildnerkunſt dagegen hat ein im Raume ſich Bewegendes, ein
Zeitleben wirklich zu ihrem Vorbild, und die Anſchauung, welche dem
Schaffen des Bildners zu Grunde liegt, faßt die feſte Form weſentlich in
dieſer Beſtimmtheit der Bewegung auf; erſt in der künſtleriſchen Ausfüh-
rung muß die wirkliche Bewegung wegfallen, weil ſonſt entweder die For-
derung, daß das Material todter Stoff ſein muß (§. 490), nicht erfüllt
werden könnte oder eine mechaniſche Bewegung angewandt werden müßte,
welche in das gemein Techniſche abführt und in dieſem Gebiete einen
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