Vischer, Friedrich Theodor von: Ästhetik oder Wissenschaft des Schönen. Bd. 3,2,2. Stuttgart, 1853.
vermittelst dieser Durcharbeitung seinen Leib erst an sich, so scheint er
vermittelſt dieſer Durcharbeitung ſeinen Leib erſt an ſich, ſo ſcheint er <TEI> <text> <body> <div n="1"> <div n="2"> <div n="3"> <div n="4"> <div n="5"> <div n="6"> <p> <hi rendition="#et"><pb facs="#f0176" n="502"/> vermittelſt dieſer Durcharbeitung ſeinen Leib erſt an ſich, ſo ſcheint er<lb/> auch erſt dadurch wahrhaft aus ihm heraus und die Gymnaſtik iſt ſo das<lb/><hi rendition="#g">Band</hi>, welches die Einheit ſchafft im Weſen des Menſchen, und dieſe<lb/> Einheit iſt Schönheit. Die Barbaren der Bildung bedenken auch dieß<lb/> nicht, daß die Schöpfung der Schönheit, zu welcher der Wille durch all-<lb/> ſeitige Ausbildung den Leib entfaltet, Pflicht iſt, indem das Sittengeſetz<lb/> dem Menſchen nicht freiſtellt, ob er dem Mitmenſchen in ſeiner Geſtalt<lb/> ein Zerrbild der Menſchheit aufzeigen will oder ein wahres Bild. Die<lb/> Griechen wußten wohl, was ſie thaten, wenn ſie die Schönheit wie eine<lb/> Tugend ehrten; ſie wußten wohl, daß, wo Geſchlecht auf Geſchlecht be-<lb/> müht iſt, den Körper zu dem auszubilden, was er ſein ſoll, die Formen<lb/> ſich allgemein zu der Reinheit entwickeln müſſen, die der Einzelne durch<lb/> den Adel ſeines innern Lebens und die beſondere künſtleriſch gymnaſtiſche<lb/> Arbeit zur volleren Schönheit zu erheben wirklich fähig iſt. Die Gym-<lb/> naſtik iſt alſo weſentlich die Thätigkeit, worin der Wille die ſinnliche Er-<lb/> ſcheinung des Menſchen durch ſeine bildende Arbeit als die Realität ſeines<lb/> Geiſtes ſetzt, ſie iſt die Kunſtſchöpfung des ſinnlichen Daſeins, abſolute<lb/> Grundbedingung im Verſöhnungsprozeſſe der Perſönlichkeit, worin ſie ihre<lb/> Gegenſätze, Geiſt und Leib, zur Harmonie erhebt (vergl.: D. Gymnaſtik<lb/> d. Hellenen u. ſ. w. von Otto Heinr. <hi rendition="#g">Jäger</hi>). Hier aber haben wir<lb/> die Gymnaſtik nicht unter dem Standpuncte der Pflicht, unter den ſie<lb/> unbedingt zu ſtellen iſt, ſondern als die ſchon vollzogene Kunſtſchöpfung<lb/> des Leibes zu betrachten, welche ihr Werk im feſtlichen Schauſpiele auf-<lb/> zeigt. Das Aufzeigen wäre jedoch zu ſehr bloße Form, wenn nicht ein<lb/> Reiz des Zweckes, ein Sporn für den Gymnaſtiker hinzuträte, wie ſolcher<lb/> in dem Eifer, ſeine Aufgabe zu löſen und Beifall zu gewinnen, noch<lb/> nicht in hinreichender Kraft enthalten iſt: das Aufzeigen muß Kampf ſein,<lb/> aber nicht ernſter Kampf, ſondern Wettkampf um einen Ehrenpreis, ſei<lb/> es, daß der Wetteifer nur darin beſteht, daß Mehrere gleichzeitig dieſelbe<lb/> Uebung ausführend darſtellen und jeder den andern zu über<hi rendition="#g">treffen</hi><lb/> ſucht, oder daß ſie im Scheine feindlichen Kampfs gegeneinander ſich an-<lb/> greifen und zu über<hi rendition="#g">winden</hi> ſtreben (wie im Ringen u. ſ. w.); beides<lb/> umfaßt der Begriff der Agoniſtik. Ausgeſchloſſen iſt nicht Gefahr, denn<lb/> ohne dieſe gibt es keine Gymnaſtik, aber rohe Form und bitterer, bluti-<lb/> ger Ernſt; das Athletenweſen mit ſeinem wilden Fauſtkampf und Ring-<lb/> fauſtkampf (Pankration) war Ausartung der Agoniſtik, die römiſchen Gla-<lb/> diatorenſpiele reine Scheuslichkeit. Es wäre nun eine ſchöne Aufgabe,<lb/> in einer Aeſthetik der Gymnaſtik alle Hauptformen derſelben ſo aufzu-<lb/> führen, daß an jeder gezeigt würde, wie ſie zunächſt vorzüglich einen<lb/> Theil des Organiſmus und dieſen Theil in anderer Richtung und Weiſe,<lb/> als jede andere, in Anſpruch nimmt, von da aus aber die Bewegung<lb/></hi> </p> </div> </div> </div> </div> </div> </div> </body> </text> </TEI> [502/0176]
vermittelſt dieſer Durcharbeitung ſeinen Leib erſt an ſich, ſo ſcheint er
auch erſt dadurch wahrhaft aus ihm heraus und die Gymnaſtik iſt ſo das
Band, welches die Einheit ſchafft im Weſen des Menſchen, und dieſe
Einheit iſt Schönheit. Die Barbaren der Bildung bedenken auch dieß
nicht, daß die Schöpfung der Schönheit, zu welcher der Wille durch all-
ſeitige Ausbildung den Leib entfaltet, Pflicht iſt, indem das Sittengeſetz
dem Menſchen nicht freiſtellt, ob er dem Mitmenſchen in ſeiner Geſtalt
ein Zerrbild der Menſchheit aufzeigen will oder ein wahres Bild. Die
Griechen wußten wohl, was ſie thaten, wenn ſie die Schönheit wie eine
Tugend ehrten; ſie wußten wohl, daß, wo Geſchlecht auf Geſchlecht be-
müht iſt, den Körper zu dem auszubilden, was er ſein ſoll, die Formen
ſich allgemein zu der Reinheit entwickeln müſſen, die der Einzelne durch
den Adel ſeines innern Lebens und die beſondere künſtleriſch gymnaſtiſche
Arbeit zur volleren Schönheit zu erheben wirklich fähig iſt. Die Gym-
naſtik iſt alſo weſentlich die Thätigkeit, worin der Wille die ſinnliche Er-
ſcheinung des Menſchen durch ſeine bildende Arbeit als die Realität ſeines
Geiſtes ſetzt, ſie iſt die Kunſtſchöpfung des ſinnlichen Daſeins, abſolute
Grundbedingung im Verſöhnungsprozeſſe der Perſönlichkeit, worin ſie ihre
Gegenſätze, Geiſt und Leib, zur Harmonie erhebt (vergl.: D. Gymnaſtik
d. Hellenen u. ſ. w. von Otto Heinr. Jäger). Hier aber haben wir
die Gymnaſtik nicht unter dem Standpuncte der Pflicht, unter den ſie
unbedingt zu ſtellen iſt, ſondern als die ſchon vollzogene Kunſtſchöpfung
des Leibes zu betrachten, welche ihr Werk im feſtlichen Schauſpiele auf-
zeigt. Das Aufzeigen wäre jedoch zu ſehr bloße Form, wenn nicht ein
Reiz des Zweckes, ein Sporn für den Gymnaſtiker hinzuträte, wie ſolcher
in dem Eifer, ſeine Aufgabe zu löſen und Beifall zu gewinnen, noch
nicht in hinreichender Kraft enthalten iſt: das Aufzeigen muß Kampf ſein,
aber nicht ernſter Kampf, ſondern Wettkampf um einen Ehrenpreis, ſei
es, daß der Wetteifer nur darin beſteht, daß Mehrere gleichzeitig dieſelbe
Uebung ausführend darſtellen und jeder den andern zu übertreffen
ſucht, oder daß ſie im Scheine feindlichen Kampfs gegeneinander ſich an-
greifen und zu überwinden ſtreben (wie im Ringen u. ſ. w.); beides
umfaßt der Begriff der Agoniſtik. Ausgeſchloſſen iſt nicht Gefahr, denn
ohne dieſe gibt es keine Gymnaſtik, aber rohe Form und bitterer, bluti-
ger Ernſt; das Athletenweſen mit ſeinem wilden Fauſtkampf und Ring-
fauſtkampf (Pankration) war Ausartung der Agoniſtik, die römiſchen Gla-
diatorenſpiele reine Scheuslichkeit. Es wäre nun eine ſchöne Aufgabe,
in einer Aeſthetik der Gymnaſtik alle Hauptformen derſelben ſo aufzu-
führen, daß an jeder gezeigt würde, wie ſie zunächſt vorzüglich einen
Theil des Organiſmus und dieſen Theil in anderer Richtung und Weiſe,
als jede andere, in Anſpruch nimmt, von da aus aber die Bewegung
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