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Vischer, Friedrich Theodor von: Ästhetik oder Wissenschaft des Schönen. Bd. 3,2,2. Stuttgart, 1853.

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kämpfe der Sculptur werden: kein Fortschritt zu stärkerer Ausdehnung des
Genre, dann der Porträtbildung und des eigentlich Geschichtlichen kann
hier verschiedene Styl-Perioden scharf begrenzen, denn wenn der anfangs
ärmere transcendente Gestaltenkreis mehr und mehr Stoff aus der Welt
ansetzt, so wird damit kein ursprünglich gestellter Gegensatz zwischen aus-
drücklich idealen und realer bestimmten Naturen aufgelöst, indem jene von
Haus aus ja ganz empirisch aufgefaßt sind, und umgekehrt gibt es kein
weltlich Selbständiges, es gibt keine Geschichte (vergl. dazu §. 451) oder,
wie man will, es gibt solcher zu viel. Dieß ist genauer zu betrachten.
In Griechenland fällt ein Abglanz der Götternatur auf die rein mensch-
liche; die Sphären sind getrennt und flüßig vereinigt. Im Mittelalter
scheint dasselbe der Fall zu sein, aber sowohl die Trennung, als die Ver-
einigung hat einen andern, der bildnerischen Schönheit ungünstigen Sinn.
Sie sind getrennt: die Welt ohne Gottheit ist zu selbständig, ist selbstisch,
gottverlassen in nichtigem Eigensinn, muß erst im Innersten gebrochen
werden, ist daher unschön; das Göttliche aber abgesehen von seinem Eintritt
in die Welt hat keine oder nur ganz schattenhafte Gestalt. Sie sind ver-
einigt: das Göttliche hat die Menschengestalt mit ihrer ganzen energischen
Bedingtheit, allen Mängeln und Gebrechen angenommen und löst sich
fortwährend in die Vielheit des ganzen Weltlebens sammt seinen Zufäl-
ligkeiten und Häßlichkeiten auf; weder das Göttliche, wenn es in die Welt
sich niederläßt, noch das Weltliche, wenn es in das Göttliche emporge-
rückt wird, wird dadurch plastisch ideal. Beide Welten schillern inein-
ander, sind eine die Doppelgängerinn der andern und weder leiht die
eine der andern Vollkommenheit des Fleisches, noch die andere der einen
Fülle unmittelbaren, naiven Geisteslebens.

§. 643.

Das Mittelalter bewahrt aber theils durch Ueberlieferung einen Rest
antiken Formgefühls, welcher längere Zeit bei allen in seiner Kunstgeschichte
betheiligten Vöthern, fortwährend bei dem romanischen Volke der Italiener sich
erhält; theils entwickelt sich, nachdem jener Rest in byzantinischer Härte und
Trockenheit erstarrt ist, bei den germanischen Völkern ein Styl, welcher die
erstarrten Formen mit einer Seelen-Anmuth belebt, die zwar Ausdruck einer
vertieften innern Welt, aber immer noch naiv und in sich gediegen ist und sich
mit weichen und flüssigen Formen des Körpers und der Gewandung zu einer
allerdings noch plastischen Einheit verbindet. Mit einem folgenden wesentlich
verschiedenen Style stehen diese Kunstformen im Gegensatz eines relativ mehr
rein plastischen, idealen, weniger weltlichen gegen einen mehr malerischen,
naturalisirenden, individualistrenden, stärker in das Geschichtliche übergreifen-
den Styl.


32*

kämpfe der Sculptur werden: kein Fortſchritt zu ſtärkerer Ausdehnung des
Genre, dann der Porträtbildung und des eigentlich Geſchichtlichen kann
hier verſchiedene Styl-Perioden ſcharf begrenzen, denn wenn der anfangs
ärmere tranſcendente Geſtaltenkreis mehr und mehr Stoff aus der Welt
anſetzt, ſo wird damit kein urſprünglich geſtellter Gegenſatz zwiſchen aus-
drücklich idealen und realer beſtimmten Naturen aufgelöst, indem jene von
Haus aus ja ganz empiriſch aufgefaßt ſind, und umgekehrt gibt es kein
weltlich Selbſtändiges, es gibt keine Geſchichte (vergl. dazu §. 451) oder,
wie man will, es gibt ſolcher zu viel. Dieß iſt genauer zu betrachten.
In Griechenland fällt ein Abglanz der Götternatur auf die rein menſch-
liche; die Sphären ſind getrennt und flüßig vereinigt. Im Mittelalter
ſcheint daſſelbe der Fall zu ſein, aber ſowohl die Trennung, als die Ver-
einigung hat einen andern, der bildneriſchen Schönheit ungünſtigen Sinn.
Sie ſind getrennt: die Welt ohne Gottheit iſt zu ſelbſtändig, iſt ſelbſtiſch,
gottverlaſſen in nichtigem Eigenſinn, muß erſt im Innerſten gebrochen
werden, iſt daher unſchön; das Göttliche aber abgeſehen von ſeinem Eintritt
in die Welt hat keine oder nur ganz ſchattenhafte Geſtalt. Sie ſind ver-
einigt: das Göttliche hat die Menſchengeſtalt mit ihrer ganzen energiſchen
Bedingtheit, allen Mängeln und Gebrechen angenommen und löst ſich
fortwährend in die Vielheit des ganzen Weltlebens ſammt ſeinen Zufäl-
ligkeiten und Häßlichkeiten auf; weder das Göttliche, wenn es in die Welt
ſich niederläßt, noch das Weltliche, wenn es in das Göttliche emporge-
rückt wird, wird dadurch plaſtiſch ideal. Beide Welten ſchillern inein-
ander, ſind eine die Doppelgängerinn der andern und weder leiht die
eine der andern Vollkommenheit des Fleiſches, noch die andere der einen
Fülle unmittelbaren, naiven Geiſteslebens.

§. 643.

Das Mittelalter bewahrt aber theils durch Ueberlieferung einen Reſt
antiken Formgefühls, welcher längere Zeit bei allen in ſeiner Kunſtgeſchichte
betheiligten Vöthern, fortwährend bei dem romaniſchen Volke der Italiener ſich
erhält; theils entwickelt ſich, nachdem jener Reſt in byzantiniſcher Härte und
Trockenheit erſtarrt iſt, bei den germaniſchen Völkern ein Styl, welcher die
erſtarrten Formen mit einer Seelen-Anmuth belebt, die zwar Ausdruck einer
vertieften innern Welt, aber immer noch naiv und in ſich gediegen iſt und ſich
mit weichen und flüſſigen Formen des Körpers und der Gewandung zu einer
allerdings noch plaſtiſchen Einheit verbindet. Mit einem folgenden weſentlich
verſchiedenen Style ſtehen dieſe Kunſtformen im Gegenſatz eines relativ mehr
rein plaſtiſchen, idealen, weniger weltlichen gegen einen mehr maleriſchen,
naturaliſirenden, individualiſtrenden, ſtärker in das Geſchichtliche übergreifen-
den Styl.


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[485/0159] kämpfe der Sculptur werden: kein Fortſchritt zu ſtärkerer Ausdehnung des Genre, dann der Porträtbildung und des eigentlich Geſchichtlichen kann hier verſchiedene Styl-Perioden ſcharf begrenzen, denn wenn der anfangs ärmere tranſcendente Geſtaltenkreis mehr und mehr Stoff aus der Welt anſetzt, ſo wird damit kein urſprünglich geſtellter Gegenſatz zwiſchen aus- drücklich idealen und realer beſtimmten Naturen aufgelöst, indem jene von Haus aus ja ganz empiriſch aufgefaßt ſind, und umgekehrt gibt es kein weltlich Selbſtändiges, es gibt keine Geſchichte (vergl. dazu §. 451) oder, wie man will, es gibt ſolcher zu viel. Dieß iſt genauer zu betrachten. In Griechenland fällt ein Abglanz der Götternatur auf die rein menſch- liche; die Sphären ſind getrennt und flüßig vereinigt. Im Mittelalter ſcheint daſſelbe der Fall zu ſein, aber ſowohl die Trennung, als die Ver- einigung hat einen andern, der bildneriſchen Schönheit ungünſtigen Sinn. Sie ſind getrennt: die Welt ohne Gottheit iſt zu ſelbſtändig, iſt ſelbſtiſch, gottverlaſſen in nichtigem Eigenſinn, muß erſt im Innerſten gebrochen werden, iſt daher unſchön; das Göttliche aber abgeſehen von ſeinem Eintritt in die Welt hat keine oder nur ganz ſchattenhafte Geſtalt. Sie ſind ver- einigt: das Göttliche hat die Menſchengeſtalt mit ihrer ganzen energiſchen Bedingtheit, allen Mängeln und Gebrechen angenommen und löst ſich fortwährend in die Vielheit des ganzen Weltlebens ſammt ſeinen Zufäl- ligkeiten und Häßlichkeiten auf; weder das Göttliche, wenn es in die Welt ſich niederläßt, noch das Weltliche, wenn es in das Göttliche emporge- rückt wird, wird dadurch plaſtiſch ideal. Beide Welten ſchillern inein- ander, ſind eine die Doppelgängerinn der andern und weder leiht die eine der andern Vollkommenheit des Fleiſches, noch die andere der einen Fülle unmittelbaren, naiven Geiſteslebens. §. 643. Das Mittelalter bewahrt aber theils durch Ueberlieferung einen Reſt antiken Formgefühls, welcher längere Zeit bei allen in ſeiner Kunſtgeſchichte betheiligten Vöthern, fortwährend bei dem romaniſchen Volke der Italiener ſich erhält; theils entwickelt ſich, nachdem jener Reſt in byzantiniſcher Härte und Trockenheit erſtarrt iſt, bei den germaniſchen Völkern ein Styl, welcher die erſtarrten Formen mit einer Seelen-Anmuth belebt, die zwar Ausdruck einer vertieften innern Welt, aber immer noch naiv und in ſich gediegen iſt und ſich mit weichen und flüſſigen Formen des Körpers und der Gewandung zu einer allerdings noch plaſtiſchen Einheit verbindet. Mit einem folgenden weſentlich verſchiedenen Style ſtehen dieſe Kunſtformen im Gegenſatz eines relativ mehr rein plaſtiſchen, idealen, weniger weltlichen gegen einen mehr maleriſchen, naturaliſirenden, individualiſtrenden, ſtärker in das Geſchichtliche übergreifen- den Styl. 32*

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Zitationshilfe: Vischer, Friedrich Theodor von: Ästhetik oder Wissenschaft des Schönen. Bd. 3,2,2. Stuttgart, 1853, S. 485. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/vischer_aesthetik030202_1853/159>, abgerufen am 21.11.2024.