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Vischer, Friedrich Theodor von: Ästhetik oder Wissenschaft des Schönen. Bd. 3,2,2. Stuttgart, 1853.

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werden selten dargestellt, statt ihrer, symbolisch stellvertretend, die Troer-
kämpfe oder die Kämpfe des Theseus, Herkules mit Centauren, Ama-
zonen, Unthieren u. s. w., und die letzteren treten auch wieder als Vor-
bild statt der Troerkämpfe auf. Erst später wird Alexander mit seinen
Begleitern und Thaten, werden die Kämpfe mit Galliern, dann in Rom
häufiger die Kriegsthaten der Legionen u. dgl. eigentlich dargestellt. Die
Weltgeschichte ist aber nicht nur in den Heldensagen, sondern in den Göt-
tern selbst dargestellt; sie sind die Prinzipien aller Natur und alles Men-
schenlebens, ihre wenigen Handlungen ein allbezeichnender Auszug der-
selben, und wenn Apollo und Artemis die Niobiden vernichten, so ist dieß
die ewige Tragödie von der gestraften menschlichen Ueberhebung. -- Der
Baustein der eigentlich geschichtlichen Darstellung ist die Bildnißstatue.
Die Lehre von der Malerei wird diese Bestimmung des Porträt tiefer
erörtern. In ihm wird das moderne Ideal den Ersatz für die ihm ent-
zogene Stellvertretung der Geschichte durch den Mythus zu suchen haben:
großartige Zusammenstellungen geschichtlicher Standbilder werden neben
dem dehnbareren Relief dieß Gebiet der Geschichtsdarstellung, das in der
geschlossenen Gruppe so eng ist, erweitern müssen. In demjenigen Ideal
aber, welches der wahre Boden für die Entwicklung der Bildnerkunst
aus ihren innersten Gesetzen ist, also schließlich doch in der ihrer Natur
streng treu bleibenden Bildnerkunst selbst wird nun durch dieses Stellver-
treten des Mythus für die Geschichte zugleich die Grenze zwischen dem
allgemein Menschlichen und Geschichtlichen ebenso eine fließende, wie die
zwischen Genre und Mythus. Wenn ich z. B. die Perserkämpfe durch
Heroenkämpfe mit den Troern oder Kämpfe eines Theseus, Herkules mit
Ungeheuern darstelle, so wird doch am Ende ungewiß, ob es mehr Zweck
ist, jene bestimmte hellenische That darzustellen, oder nur allgemein edel
entwickelte, götterähnlich gediegene Menschheit aufzuzeigen, wie schön und
herrlich sie sich offenbart im Kampfe mit rohen Kräften. Der eigentliche
Gegenstand wird verallgemeinert in anderer Weise, als jede Kunst dieß
an allen einzelnen Stoffen vollzieht, indem sie im Concreten eine ewige
Idee zur Erscheinung bringt: das historisch Bestimmte wird aufgelöst,
seine Formen sind nicht mehr individuell im engern Sinne des geschichtli-
chen Datums, sondern gattungsmäßig individuell, und dieß ist eben
Genre. Somit sind wir zur vorhergehenden Sphäre zurückgeführt: das
Genre löst sich in Vergötterung auf, das Geschichtliche, indem es im
Mythischen seinen Stellvertreter findet, weist durch diesen auf das Genre
zurück, und so ist und bleibt die Götterdarstellung die Mitte, in welche
alle Zweige einfließen, die sie alle durchsichtig wie ein Krystall enthält
und nur zu zweifelhafter, schmaler Existenz neben dieser ihrer idealen Vertre-
tung entläßt: die "Aristokratie der Gestalt" (§. 62) im edelsten Sinne des Worts.


werden ſelten dargeſtellt, ſtatt ihrer, ſymboliſch ſtellvertretend, die Troer-
kämpfe oder die Kämpfe des Theſeus, Herkules mit Centauren, Ama-
zonen, Unthieren u. ſ. w., und die letzteren treten auch wieder als Vor-
bild ſtatt der Troerkämpfe auf. Erſt ſpäter wird Alexander mit ſeinen
Begleitern und Thaten, werden die Kämpfe mit Galliern, dann in Rom
häufiger die Kriegsthaten der Legionen u. dgl. eigentlich dargeſtellt. Die
Weltgeſchichte iſt aber nicht nur in den Heldenſagen, ſondern in den Göt-
tern ſelbſt dargeſtellt; ſie ſind die Prinzipien aller Natur und alles Men-
ſchenlebens, ihre wenigen Handlungen ein allbezeichnender Auszug der-
ſelben, und wenn Apollo und Artemis die Niobiden vernichten, ſo iſt dieß
die ewige Tragödie von der geſtraften menſchlichen Ueberhebung. — Der
Bauſtein der eigentlich geſchichtlichen Darſtellung iſt die Bildnißſtatue.
Die Lehre von der Malerei wird dieſe Beſtimmung des Porträt tiefer
erörtern. In ihm wird das moderne Ideal den Erſatz für die ihm ent-
zogene Stellvertretung der Geſchichte durch den Mythus zu ſuchen haben:
großartige Zuſammenſtellungen geſchichtlicher Standbilder werden neben
dem dehnbareren Relief dieß Gebiet der Geſchichtsdarſtellung, das in der
geſchloſſenen Gruppe ſo eng iſt, erweitern müſſen. In demjenigen Ideal
aber, welches der wahre Boden für die Entwicklung der Bildnerkunſt
aus ihren innerſten Geſetzen iſt, alſo ſchließlich doch in der ihrer Natur
ſtreng treu bleibenden Bildnerkunſt ſelbſt wird nun durch dieſes Stellver-
treten des Mythus für die Geſchichte zugleich die Grenze zwiſchen dem
allgemein Menſchlichen und Geſchichtlichen ebenſo eine fließende, wie die
zwiſchen Genre und Mythus. Wenn ich z. B. die Perſerkämpfe durch
Heroenkämpfe mit den Troern oder Kämpfe eines Theſeus, Herkules mit
Ungeheuern darſtelle, ſo wird doch am Ende ungewiß, ob es mehr Zweck
iſt, jene beſtimmte helleniſche That darzuſtellen, oder nur allgemein edel
entwickelte, götterähnlich gediegene Menſchheit aufzuzeigen, wie ſchön und
herrlich ſie ſich offenbart im Kampfe mit rohen Kräften. Der eigentliche
Gegenſtand wird verallgemeinert in anderer Weiſe, als jede Kunſt dieß
an allen einzelnen Stoffen vollzieht, indem ſie im Concreten eine ewige
Idee zur Erſcheinung bringt: das hiſtoriſch Beſtimmte wird aufgelöst,
ſeine Formen ſind nicht mehr individuell im engern Sinne des geſchichtli-
chen Datums, ſondern gattungsmäßig individuell, und dieß iſt eben
Genre. Somit ſind wir zur vorhergehenden Sphäre zurückgeführt: das
Genre löst ſich in Vergötterung auf, das Geſchichtliche, indem es im
Mythiſchen ſeinen Stellvertreter findet, weist durch dieſen auf das Genre
zurück, und ſo iſt und bleibt die Götterdarſtellung die Mitte, in welche
alle Zweige einfließen, die ſie alle durchſichtig wie ein Kryſtall enthält
und nur zu zweifelhafter, ſchmaler Exiſtenz neben dieſer ihrer idealen Vertre-
tung entläßt: die „Ariſtokratie der Geſtalt“ (§. 62) im edelſten Sinne des Worts.


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[460/0134] werden ſelten dargeſtellt, ſtatt ihrer, ſymboliſch ſtellvertretend, die Troer- kämpfe oder die Kämpfe des Theſeus, Herkules mit Centauren, Ama- zonen, Unthieren u. ſ. w., und die letzteren treten auch wieder als Vor- bild ſtatt der Troerkämpfe auf. Erſt ſpäter wird Alexander mit ſeinen Begleitern und Thaten, werden die Kämpfe mit Galliern, dann in Rom häufiger die Kriegsthaten der Legionen u. dgl. eigentlich dargeſtellt. Die Weltgeſchichte iſt aber nicht nur in den Heldenſagen, ſondern in den Göt- tern ſelbſt dargeſtellt; ſie ſind die Prinzipien aller Natur und alles Men- ſchenlebens, ihre wenigen Handlungen ein allbezeichnender Auszug der- ſelben, und wenn Apollo und Artemis die Niobiden vernichten, ſo iſt dieß die ewige Tragödie von der geſtraften menſchlichen Ueberhebung. — Der Bauſtein der eigentlich geſchichtlichen Darſtellung iſt die Bildnißſtatue. Die Lehre von der Malerei wird dieſe Beſtimmung des Porträt tiefer erörtern. In ihm wird das moderne Ideal den Erſatz für die ihm ent- zogene Stellvertretung der Geſchichte durch den Mythus zu ſuchen haben: großartige Zuſammenſtellungen geſchichtlicher Standbilder werden neben dem dehnbareren Relief dieß Gebiet der Geſchichtsdarſtellung, das in der geſchloſſenen Gruppe ſo eng iſt, erweitern müſſen. In demjenigen Ideal aber, welches der wahre Boden für die Entwicklung der Bildnerkunſt aus ihren innerſten Geſetzen iſt, alſo ſchließlich doch in der ihrer Natur ſtreng treu bleibenden Bildnerkunſt ſelbſt wird nun durch dieſes Stellver- treten des Mythus für die Geſchichte zugleich die Grenze zwiſchen dem allgemein Menſchlichen und Geſchichtlichen ebenſo eine fließende, wie die zwiſchen Genre und Mythus. Wenn ich z. B. die Perſerkämpfe durch Heroenkämpfe mit den Troern oder Kämpfe eines Theſeus, Herkules mit Ungeheuern darſtelle, ſo wird doch am Ende ungewiß, ob es mehr Zweck iſt, jene beſtimmte helleniſche That darzuſtellen, oder nur allgemein edel entwickelte, götterähnlich gediegene Menſchheit aufzuzeigen, wie ſchön und herrlich ſie ſich offenbart im Kampfe mit rohen Kräften. Der eigentliche Gegenſtand wird verallgemeinert in anderer Weiſe, als jede Kunſt dieß an allen einzelnen Stoffen vollzieht, indem ſie im Concreten eine ewige Idee zur Erſcheinung bringt: das hiſtoriſch Beſtimmte wird aufgelöst, ſeine Formen ſind nicht mehr individuell im engern Sinne des geſchichtli- chen Datums, ſondern gattungsmäßig individuell, und dieß iſt eben Genre. Somit ſind wir zur vorhergehenden Sphäre zurückgeführt: das Genre löst ſich in Vergötterung auf, das Geſchichtliche, indem es im Mythiſchen ſeinen Stellvertreter findet, weist durch dieſen auf das Genre zurück, und ſo iſt und bleibt die Götterdarſtellung die Mitte, in welche alle Zweige einfließen, die ſie alle durchſichtig wie ein Kryſtall enthält und nur zu zweifelhafter, ſchmaler Exiſtenz neben dieſer ihrer idealen Vertre- tung entläßt: die „Ariſtokratie der Geſtalt“ (§. 62) im edelſten Sinne des Worts.

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Zitationshilfe: Vischer, Friedrich Theodor von: Ästhetik oder Wissenschaft des Schönen. Bd. 3,2,2. Stuttgart, 1853, S. 460. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/vischer_aesthetik030202_1853/134>, abgerufen am 27.11.2024.