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Vischer, Friedrich Theodor von: Ästhetik oder Wissenschaft des Schönen. Bd. 3,2,2. Stuttgart, 1853.

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kann sich ebensosehr der Ausdruck hohen Sinnens, majestätischen Ernstes
ergießen. Je weniger dieser tiefere geistige Ausdruck vorwiegt, desto fühl-
barer ist, welche Welt von Schönheit, die doch nie blos sinnlich ist, die
Bildnerkunst allein schon in ihren Stylformen hat: ein Hingegossensein,
eine rhythmische Auflösung der Glieder im Schlummer, so ein reines gan-
zes Liegen (Ariadne im Vatican), ein Behagen und Fluß der Formen
im bequemen Sitz, Stand (capitolinischer Faun), bereichert oder nicht
durch die Musik der Gewandfaltung, -- darin liegt eine Welt von ästhe-
tischen Reizen, die sich dann erst mit dem tieferen Ausdruck verbinden,
wie im sinnenden Mars, Mercur, Apollino. Verschiedene Stufen oder
Stadien der Ruhe sind hiemit bereits angedeutet; es sind die Grade, in
welchen sie sich der gespannteren Situation nähert oder sich von ihr ent-
fernt; der farnesische Herkules z. B. kommt eben vom Kampfe her, der
des Torso hat ihn schon vergessen und genießt.

2. Je bestimmter sittlich der Ausdruck in der Ruhe, desto mehr ist
sie Ausdruck der gehaltvollen Stetigkeit des Charakters. Von diesem als
wesentlicher innerer Grund-Aufgabe der Bildnerkunst ist die Rede gewe-
sen in §. 605, aber nur erst in seiner allgemeinsten Bedeutung, und kei-
ner der bisherigen Schritte ist bis dahin vorgedrungen, diese Stelle aus-
zufüllen: in §. 605, 2. und 616, 1. war von der Eigenheit der individuel-
len Formen die Rede und wurde dem Individualismus seine Grenze an-
gewiesen; dabei konnte vom ethischen Ausdruck der Gestalt natürlich nicht
abstrahirt werden, aber das Gewicht lag auf dem Aeußern, wie es an-
geboren ist; dann wurde in die gattungsmäßige Norm der Schönheit die
Besonderung durch Unterschiede eingeführt, welche nathropologischer Art
sind oder auf der äußern Thätigkeit, auf Culturformen beruhen, §. 621;
mit §. 623 trat der Affect auf, der sich in gewissem Sinn zu einem Charakter
verfestigen kann, wie z. B. dem grobsinnlichen der Silene. Da wäre jedoch der
Begriff des Charakters nur formell gefaßt, so daß er die in einer Persönlichkeit
als stetig treibende Macht eingewurzelte Besonderheit der Leidenschaften be-
deuten kann (vergl. §. 333 Anm.). Allein auch abgesehen von den nie-
drigeren Formen (Neid, Geiz u. dergl.), kann in der Bildnerkunst der
Charakter in diesem Sinn eigentlich gar nicht vorkommen, denn hier muß
den Mittelpunct des dargestellten Seelenlebens nothwendig immer ein Po-
sitives, ein Gutes bilden, der Affect darf nur die Stimmungs-Atmosphäre,
worein dieser Kern sich hüllt, das Organ der Ausführung oder beherrschte
vorübergehende Trübung desselben sein und auch der trunkene Silen, der Satyr
ist geadelt im Sinne der tiefern dem ganzen Dionysischen Kreise zu Grund
liegenden Idee, daß der geheimnißvolle Naturgeist in seiner Wirkung auf
das Menschenleben ein Wesentliches, ein Gut ist, das, indem es den
Menschen über die Sorge und die gemeine Deutlichkeit der Dinge weg-

kann ſich ebenſoſehr der Ausdruck hohen Sinnens, majeſtätiſchen Ernſtes
ergießen. Je weniger dieſer tiefere geiſtige Ausdruck vorwiegt, deſto fühl-
barer iſt, welche Welt von Schönheit, die doch nie blos ſinnlich iſt, die
Bildnerkunſt allein ſchon in ihren Stylformen hat: ein Hingegoſſenſein,
eine rhythmiſche Auflöſung der Glieder im Schlummer, ſo ein reines gan-
zes Liegen (Ariadne im Vatican), ein Behagen und Fluß der Formen
im bequemen Sitz, Stand (capitoliniſcher Faun), bereichert oder nicht
durch die Muſik der Gewandfaltung, — darin liegt eine Welt von äſthe-
tiſchen Reizen, die ſich dann erſt mit dem tieferen Ausdruck verbinden,
wie im ſinnenden Mars, Mercur, Apollino. Verſchiedene Stufen oder
Stadien der Ruhe ſind hiemit bereits angedeutet; es ſind die Grade, in
welchen ſie ſich der geſpannteren Situation nähert oder ſich von ihr ent-
fernt; der farneſiſche Herkules z. B. kommt eben vom Kampfe her, der
des Torſo hat ihn ſchon vergeſſen und genießt.

2. Je beſtimmter ſittlich der Ausdruck in der Ruhe, deſto mehr iſt
ſie Ausdruck der gehaltvollen Stetigkeit des Charakters. Von dieſem als
weſentlicher innerer Grund-Aufgabe der Bildnerkunſt iſt die Rede gewe-
ſen in §. 605, aber nur erſt in ſeiner allgemeinſten Bedeutung, und kei-
ner der bisherigen Schritte iſt bis dahin vorgedrungen, dieſe Stelle aus-
zufüllen: in §. 605, 2. und 616, 1. war von der Eigenheit der individuel-
len Formen die Rede und wurde dem Individualiſmus ſeine Grenze an-
gewieſen; dabei konnte vom ethiſchen Ausdruck der Geſtalt natürlich nicht
abſtrahirt werden, aber das Gewicht lag auf dem Aeußern, wie es an-
geboren iſt; dann wurde in die gattungsmäßige Norm der Schönheit die
Beſonderung durch Unterſchiede eingeführt, welche nathropologiſcher Art
ſind oder auf der äußern Thätigkeit, auf Culturformen beruhen, §. 621;
mit §. 623 trat der Affect auf, der ſich in gewiſſem Sinn zu einem Charakter
verfeſtigen kann, wie z. B. dem grobſinnlichen der Silene. Da wäre jedoch der
Begriff des Charakters nur formell gefaßt, ſo daß er die in einer Perſönlichkeit
als ſtetig treibende Macht eingewurzelte Beſonderheit der Leidenſchaften be-
deuten kann (vergl. §. 333 Anm.). Allein auch abgeſehen von den nie-
drigeren Formen (Neid, Geiz u. dergl.), kann in der Bildnerkunſt der
Charakter in dieſem Sinn eigentlich gar nicht vorkommen, denn hier muß
den Mittelpunct des dargeſtellten Seelenlebens nothwendig immer ein Po-
ſitives, ein Gutes bilden, der Affect darf nur die Stimmungs-Atmoſphäre,
worein dieſer Kern ſich hüllt, das Organ der Ausführung oder beherrſchte
vorübergehende Trübung deſſelben ſein und auch der trunkene Silen, der Satyr
iſt geadelt im Sinne der tiefern dem ganzen Dionyſiſchen Kreiſe zu Grund
liegenden Idee, daß der geheimnißvolle Naturgeiſt in ſeiner Wirkung auf
das Menſchenleben ein Weſentliches, ein Gut iſt, das, indem es den
Menſchen über die Sorge und die gemeine Deutlichkeit der Dinge weg-

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[439/0113] kann ſich ebenſoſehr der Ausdruck hohen Sinnens, majeſtätiſchen Ernſtes ergießen. Je weniger dieſer tiefere geiſtige Ausdruck vorwiegt, deſto fühl- barer iſt, welche Welt von Schönheit, die doch nie blos ſinnlich iſt, die Bildnerkunſt allein ſchon in ihren Stylformen hat: ein Hingegoſſenſein, eine rhythmiſche Auflöſung der Glieder im Schlummer, ſo ein reines gan- zes Liegen (Ariadne im Vatican), ein Behagen und Fluß der Formen im bequemen Sitz, Stand (capitoliniſcher Faun), bereichert oder nicht durch die Muſik der Gewandfaltung, — darin liegt eine Welt von äſthe- tiſchen Reizen, die ſich dann erſt mit dem tieferen Ausdruck verbinden, wie im ſinnenden Mars, Mercur, Apollino. Verſchiedene Stufen oder Stadien der Ruhe ſind hiemit bereits angedeutet; es ſind die Grade, in welchen ſie ſich der geſpannteren Situation nähert oder ſich von ihr ent- fernt; der farneſiſche Herkules z. B. kommt eben vom Kampfe her, der des Torſo hat ihn ſchon vergeſſen und genießt. 2. Je beſtimmter ſittlich der Ausdruck in der Ruhe, deſto mehr iſt ſie Ausdruck der gehaltvollen Stetigkeit des Charakters. Von dieſem als weſentlicher innerer Grund-Aufgabe der Bildnerkunſt iſt die Rede gewe- ſen in §. 605, aber nur erſt in ſeiner allgemeinſten Bedeutung, und kei- ner der bisherigen Schritte iſt bis dahin vorgedrungen, dieſe Stelle aus- zufüllen: in §. 605, 2. und 616, 1. war von der Eigenheit der individuel- len Formen die Rede und wurde dem Individualiſmus ſeine Grenze an- gewieſen; dabei konnte vom ethiſchen Ausdruck der Geſtalt natürlich nicht abſtrahirt werden, aber das Gewicht lag auf dem Aeußern, wie es an- geboren iſt; dann wurde in die gattungsmäßige Norm der Schönheit die Beſonderung durch Unterſchiede eingeführt, welche nathropologiſcher Art ſind oder auf der äußern Thätigkeit, auf Culturformen beruhen, §. 621; mit §. 623 trat der Affect auf, der ſich in gewiſſem Sinn zu einem Charakter verfeſtigen kann, wie z. B. dem grobſinnlichen der Silene. Da wäre jedoch der Begriff des Charakters nur formell gefaßt, ſo daß er die in einer Perſönlichkeit als ſtetig treibende Macht eingewurzelte Beſonderheit der Leidenſchaften be- deuten kann (vergl. §. 333 Anm.). Allein auch abgeſehen von den nie- drigeren Formen (Neid, Geiz u. dergl.), kann in der Bildnerkunſt der Charakter in dieſem Sinn eigentlich gar nicht vorkommen, denn hier muß den Mittelpunct des dargeſtellten Seelenlebens nothwendig immer ein Po- ſitives, ein Gutes bilden, der Affect darf nur die Stimmungs-Atmoſphäre, worein dieſer Kern ſich hüllt, das Organ der Ausführung oder beherrſchte vorübergehende Trübung deſſelben ſein und auch der trunkene Silen, der Satyr iſt geadelt im Sinne der tiefern dem ganzen Dionyſiſchen Kreiſe zu Grund liegenden Idee, daß der geheimnißvolle Naturgeiſt in ſeiner Wirkung auf das Menſchenleben ein Weſentliches, ein Gut iſt, das, indem es den Menſchen über die Sorge und die gemeine Deutlichkeit der Dinge weg-

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Zitationshilfe: Vischer, Friedrich Theodor von: Ästhetik oder Wissenschaft des Schönen. Bd. 3,2,2. Stuttgart, 1853, S. 439. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/vischer_aesthetik030202_1853/113>, abgerufen am 23.11.2024.