bei einem Gebäude redet, daß man sein structives Wechselverhältniß, worin Alles gegenseitig Zweck und Mittel, also Glied ist, einen Organis- mus nennt, und die energischen Umsäumungen der Decoration erscheinen nun wesentlich wie Gelenke. Aber auch an das Geistesleben gemahnt dieses krystallische Gesetz des herrschenden Mittelpunctes: es ist der noch abstracte, starre Ausdruck der Einheit des Geistes mit sich in seinen Unter- schieden, und wie sich der Geist in seinem Zeitleben diese Einheit periodisch markirt, so werden wir auch in der Baukunst ein System markirender, wiederkehrender Theilungen sich entwickeln sehen. Von diesen dunkel zu Grund liegenden Anklängen geht die Baukunst, nur behutsamer, im deco- rativen Theile zu einem eigentlichen Nachbilden auch des animalischen, ja des höchsten Organischen, des menschlichen Leibs über, das Letztere in der Säule: da diese emporschwellende Bildung überhaupt einen Eindruck macht, als wolle sie tragen, so macht der Künstler aus diesem Anklang Ernst und stellt tragende Menschengestalten als Säulen auf. Daß dieß nur sehr behutsam und sparsam geschehen darf, muß schon hier ausdrücklich hervor- gehoben werden, weil es ein Vorgriff ist in das Reich der eigentlichen Individualität, welche ja übrigens in der Baukunst nur so anklingen soll, wie die Erde als Niederschlag des Urstoffs, aus dem alles Lebendige wurde, als Urkeim des Lebens uns an dieses Leben als wirkliches Dasein dunkel gemahnt. Wie aber nur die ganze Landschaft mit Licht, Luft, Wasser, Pflanze, Thier und Mensch uns dieses Dasein wirklich vorführt, so er- wartet auch die Baukunst ihre Ergänzung durch das Götterbild, durch den eintretenden Menschen, und bleibt daher verhältnißmäßig immer eine arme und abstracte Kunst; doch übersehe man nicht, daß auch die Mitwirkung der wirklichen Landschaft wesentlich und bleibend zum Werke der Architektur gehört, da es ja, was noch besonders herausgestellt werden wird, immer auf einen bestimmten Ort berechnet ist, dessen Linien mit den seinigen immer irgendwie individuell, d. h. in jedem einzelnen Bauwerk eigenthümlich, sich zusammenbauen: hier fügt sich denn selbst der Reiz der im eigentlichen Sinn frei spielenden Linie, des Lichts, der Luft, der Pflanzen, der um- flatternden Vögel, der wandelnden Thiere und Menschen dem streng ge- messenen Ganzen an. -- Schließlich ist nun leicht zu zeigen, wie jene Antinomie zwischen der streng klaren Verständigkeit und dem Naturdunkel in der Baukunst sich löst: das Dunkle liegt in jenem tastenden Suchen der Phantasie nach Formen, die nur verhüllt durch die Natur hindurch- gehen und in keinem klar gegenüberstehenden Objecte der Nachbildung gegeben sind: es sind nicht individualisirte, sondern durch das individuelle Leben nur allgemein sich hindurchziehende Formen; sobald sie nun ge- funden und in einem innern Bilde zusammengestellt sind, unterliegen sie eben, weil sie nur allgemein sind, der strengen, nüchternen Messung. Das
bei einem Gebäude redet, daß man ſein ſtructives Wechſelverhältniß, worin Alles gegenſeitig Zweck und Mittel, alſo Glied iſt, einen Organis- mus nennt, und die energiſchen Umſäumungen der Decoration erſcheinen nun weſentlich wie Gelenke. Aber auch an das Geiſtesleben gemahnt dieſes kryſtalliſche Geſetz des herrſchenden Mittelpunctes: es iſt der noch abſtracte, ſtarre Ausdruck der Einheit des Geiſtes mit ſich in ſeinen Unter- ſchieden, und wie ſich der Geiſt in ſeinem Zeitleben dieſe Einheit periodiſch markirt, ſo werden wir auch in der Baukunſt ein Syſtem markirender, wiederkehrender Theilungen ſich entwickeln ſehen. Von dieſen dunkel zu Grund liegenden Anklängen geht die Baukunſt, nur behutſamer, im deco- rativen Theile zu einem eigentlichen Nachbilden auch des animaliſchen, ja des höchſten Organiſchen, des menſchlichen Leibs über, das Letztere in der Säule: da dieſe emporſchwellende Bildung überhaupt einen Eindruck macht, als wolle ſie tragen, ſo macht der Künſtler aus dieſem Anklang Ernſt und ſtellt tragende Menſchengeſtalten als Säulen auf. Daß dieß nur ſehr behutſam und ſparſam geſchehen darf, muß ſchon hier ausdrücklich hervor- gehoben werden, weil es ein Vorgriff iſt in das Reich der eigentlichen Individualität, welche ja übrigens in der Baukunſt nur ſo anklingen ſoll, wie die Erde als Niederſchlag des Urſtoffs, aus dem alles Lebendige wurde, als Urkeim des Lebens uns an dieſes Leben als wirkliches Daſein dunkel gemahnt. Wie aber nur die ganze Landſchaft mit Licht, Luft, Waſſer, Pflanze, Thier und Menſch uns dieſes Daſein wirklich vorführt, ſo er- wartet auch die Baukunſt ihre Ergänzung durch das Götterbild, durch den eintretenden Menſchen, und bleibt daher verhältnißmäßig immer eine arme und abſtracte Kunſt; doch überſehe man nicht, daß auch die Mitwirkung der wirklichen Landſchaft weſentlich und bleibend zum Werke der Architektur gehört, da es ja, was noch beſonders herausgeſtellt werden wird, immer auf einen beſtimmten Ort berechnet iſt, deſſen Linien mit den ſeinigen immer irgendwie individuell, d. h. in jedem einzelnen Bauwerk eigenthümlich, ſich zuſammenbauen: hier fügt ſich denn ſelbſt der Reiz der im eigentlichen Sinn frei ſpielenden Linie, des Lichts, der Luft, der Pflanzen, der um- flatternden Vögel, der wandelnden Thiere und Menſchen dem ſtreng ge- meſſenen Ganzen an. — Schließlich iſt nun leicht zu zeigen, wie jene Antinomie zwiſchen der ſtreng klaren Verſtändigkeit und dem Naturdunkel in der Baukunſt ſich löst: das Dunkle liegt in jenem taſtenden Suchen der Phantaſie nach Formen, die nur verhüllt durch die Natur hindurch- gehen und in keinem klar gegenüberſtehenden Objecte der Nachbildung gegeben ſind: es ſind nicht individualiſirte, ſondern durch das individuelle Leben nur allgemein ſich hindurchziehende Formen; ſobald ſie nun ge- funden und in einem innern Bilde zuſammengeſtellt ſind, unterliegen ſie eben, weil ſie nur allgemein ſind, der ſtrengen, nüchternen Meſſung. Das
<TEI><text><body><divn="1"><divn="2"><divn="3"><divn="4"><divn="5"><divn="6"><divn="7"><p><hirendition="#et"><pbfacs="#f0036"n="196"/>
bei einem Gebäude redet, daß man ſein ſtructives Wechſelverhältniß,<lb/>
worin Alles gegenſeitig Zweck und Mittel, alſo Glied iſt, einen Organis-<lb/>
mus nennt, und die energiſchen Umſäumungen der Decoration erſcheinen<lb/>
nun weſentlich wie Gelenke. Aber auch an das Geiſtesleben gemahnt<lb/>
dieſes kryſtalliſche Geſetz des herrſchenden Mittelpunctes: es iſt der noch<lb/>
abſtracte, ſtarre Ausdruck der Einheit des Geiſtes mit ſich in ſeinen Unter-<lb/>ſchieden, und wie ſich der Geiſt in ſeinem Zeitleben dieſe Einheit periodiſch<lb/>
markirt, ſo werden wir auch in der Baukunſt ein Syſtem markirender,<lb/>
wiederkehrender Theilungen ſich entwickeln ſehen. Von dieſen dunkel zu<lb/>
Grund liegenden Anklängen geht die Baukunſt, nur behutſamer, im deco-<lb/>
rativen Theile zu einem eigentlichen Nachbilden auch des animaliſchen, ja<lb/>
des höchſten Organiſchen, des menſchlichen Leibs über, das Letztere in der<lb/>
Säule: da dieſe emporſchwellende Bildung überhaupt einen Eindruck macht,<lb/>
als <hirendition="#g">wolle</hi>ſie tragen, ſo macht der Künſtler aus dieſem Anklang Ernſt<lb/>
und ſtellt tragende Menſchengeſtalten als Säulen auf. Daß dieß nur ſehr<lb/>
behutſam und ſparſam geſchehen darf, muß ſchon hier ausdrücklich hervor-<lb/>
gehoben werden, weil es ein Vorgriff iſt in das Reich der eigentlichen<lb/>
Individualität, welche ja übrigens in der Baukunſt nur ſo anklingen ſoll,<lb/>
wie die Erde als Niederſchlag des Urſtoffs, aus dem alles Lebendige wurde,<lb/>
als Urkeim des Lebens uns an dieſes Leben als wirkliches Daſein dunkel<lb/>
gemahnt. Wie aber nur die ganze Landſchaft mit Licht, Luft, Waſſer,<lb/>
Pflanze, Thier und Menſch uns dieſes Daſein wirklich vorführt, ſo er-<lb/>
wartet auch die Baukunſt ihre Ergänzung durch das Götterbild, durch den<lb/>
eintretenden Menſchen, und bleibt daher verhältnißmäßig immer eine arme<lb/>
und abſtracte Kunſt; doch überſehe man nicht, daß auch die Mitwirkung<lb/>
der wirklichen Landſchaft weſentlich und bleibend zum Werke der Architektur<lb/>
gehört, da es ja, was noch beſonders herausgeſtellt werden wird, immer auf<lb/>
einen beſtimmten Ort berechnet iſt, deſſen Linien mit den ſeinigen immer<lb/>
irgendwie individuell, d. h. in jedem einzelnen Bauwerk eigenthümlich,<lb/>ſich zuſammenbauen: hier fügt ſich denn ſelbſt der Reiz der im eigentlichen<lb/>
Sinn frei ſpielenden Linie, des Lichts, der Luft, der Pflanzen, der um-<lb/>
flatternden Vögel, der wandelnden Thiere und Menſchen dem ſtreng ge-<lb/>
meſſenen Ganzen an. — Schließlich iſt nun leicht zu zeigen, wie jene<lb/>
Antinomie zwiſchen der ſtreng klaren Verſtändigkeit und dem Naturdunkel<lb/>
in der Baukunſt ſich löst: das Dunkle liegt in jenem taſtenden Suchen<lb/>
der Phantaſie nach Formen, die nur verhüllt durch die Natur hindurch-<lb/>
gehen und in keinem klar gegenüberſtehenden Objecte der Nachbildung<lb/>
gegeben ſind: es ſind nicht individualiſirte, ſondern durch das individuelle<lb/>
Leben <hirendition="#g">nur allgemein</hi>ſich hindurchziehende Formen; ſobald ſie nun ge-<lb/>
funden und in einem innern Bilde zuſammengeſtellt ſind, unterliegen ſie<lb/>
eben, weil ſie nur allgemein ſind, der ſtrengen, nüchternen Meſſung. Das<lb/></hi></p></div></div></div></div></div></div></div></body></text></TEI>
[196/0036]
bei einem Gebäude redet, daß man ſein ſtructives Wechſelverhältniß,
worin Alles gegenſeitig Zweck und Mittel, alſo Glied iſt, einen Organis-
mus nennt, und die energiſchen Umſäumungen der Decoration erſcheinen
nun weſentlich wie Gelenke. Aber auch an das Geiſtesleben gemahnt
dieſes kryſtalliſche Geſetz des herrſchenden Mittelpunctes: es iſt der noch
abſtracte, ſtarre Ausdruck der Einheit des Geiſtes mit ſich in ſeinen Unter-
ſchieden, und wie ſich der Geiſt in ſeinem Zeitleben dieſe Einheit periodiſch
markirt, ſo werden wir auch in der Baukunſt ein Syſtem markirender,
wiederkehrender Theilungen ſich entwickeln ſehen. Von dieſen dunkel zu
Grund liegenden Anklängen geht die Baukunſt, nur behutſamer, im deco-
rativen Theile zu einem eigentlichen Nachbilden auch des animaliſchen, ja
des höchſten Organiſchen, des menſchlichen Leibs über, das Letztere in der
Säule: da dieſe emporſchwellende Bildung überhaupt einen Eindruck macht,
als wolle ſie tragen, ſo macht der Künſtler aus dieſem Anklang Ernſt
und ſtellt tragende Menſchengeſtalten als Säulen auf. Daß dieß nur ſehr
behutſam und ſparſam geſchehen darf, muß ſchon hier ausdrücklich hervor-
gehoben werden, weil es ein Vorgriff iſt in das Reich der eigentlichen
Individualität, welche ja übrigens in der Baukunſt nur ſo anklingen ſoll,
wie die Erde als Niederſchlag des Urſtoffs, aus dem alles Lebendige wurde,
als Urkeim des Lebens uns an dieſes Leben als wirkliches Daſein dunkel
gemahnt. Wie aber nur die ganze Landſchaft mit Licht, Luft, Waſſer,
Pflanze, Thier und Menſch uns dieſes Daſein wirklich vorführt, ſo er-
wartet auch die Baukunſt ihre Ergänzung durch das Götterbild, durch den
eintretenden Menſchen, und bleibt daher verhältnißmäßig immer eine arme
und abſtracte Kunſt; doch überſehe man nicht, daß auch die Mitwirkung
der wirklichen Landſchaft weſentlich und bleibend zum Werke der Architektur
gehört, da es ja, was noch beſonders herausgeſtellt werden wird, immer auf
einen beſtimmten Ort berechnet iſt, deſſen Linien mit den ſeinigen immer
irgendwie individuell, d. h. in jedem einzelnen Bauwerk eigenthümlich,
ſich zuſammenbauen: hier fügt ſich denn ſelbſt der Reiz der im eigentlichen
Sinn frei ſpielenden Linie, des Lichts, der Luft, der Pflanzen, der um-
flatternden Vögel, der wandelnden Thiere und Menſchen dem ſtreng ge-
meſſenen Ganzen an. — Schließlich iſt nun leicht zu zeigen, wie jene
Antinomie zwiſchen der ſtreng klaren Verſtändigkeit und dem Naturdunkel
in der Baukunſt ſich löst: das Dunkle liegt in jenem taſtenden Suchen
der Phantaſie nach Formen, die nur verhüllt durch die Natur hindurch-
gehen und in keinem klar gegenüberſtehenden Objecte der Nachbildung
gegeben ſind: es ſind nicht individualiſirte, ſondern durch das individuelle
Leben nur allgemein ſich hindurchziehende Formen; ſobald ſie nun ge-
funden und in einem innern Bilde zuſammengeſtellt ſind, unterliegen ſie
eben, weil ſie nur allgemein ſind, der ſtrengen, nüchternen Meſſung. Das
Informationen zur CAB-Ansicht
Diese Ansicht bietet Ihnen die Darstellung des Textes in normalisierter Orthographie.
Diese Textvariante wird vollautomatisch erstellt und kann aufgrund dessen auch Fehler enthalten.
Alle veränderten Wortformen sind grau hinterlegt. Als fremdsprachliches Material erkannte
Textteile sind ausgegraut dargestellt.
Vischer, Friedrich Theodor von: Ästhetik oder Wissenschaft des Schönen. Bd. 3,2,1. Stuttgart, 1852, S. 196. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/vischer_aesthetik030201_1852/36>, abgerufen am 16.07.2024.
Alle Inhalte dieser Seite unterstehen, soweit nicht anders gekennzeichnet, einer
Creative-Commons-Lizenz.
Die Rechte an den angezeigten Bilddigitalisaten, soweit nicht anders gekennzeichnet, liegen bei den besitzenden Bibliotheken.
Weitere Informationen finden Sie in den DTA-Nutzungsbedingungen.
Insbesondere im Hinblick auf die §§ 86a StGB und 130 StGB wird festgestellt, dass die auf
diesen Seiten abgebildeten Inhalte weder in irgendeiner Form propagandistischen Zwecken
dienen, oder Werbung für verbotene Organisationen oder Vereinigungen darstellen, oder
nationalsozialistische Verbrechen leugnen oder verharmlosen, noch zum Zwecke der
Herabwürdigung der Menschenwürde gezeigt werden.
Die auf diesen Seiten abgebildeten Inhalte (in Wort und Bild) dienen im Sinne des
§ 86 StGB Abs. 3 ausschließlich historischen, sozial- oder kulturwissenschaftlichen
Forschungszwecken. Ihre Veröffentlichung erfolgt in der Absicht, Wissen zur Anregung
der intellektuellen Selbstständigkeit und Verantwortungsbereitschaft des Staatsbürgers zu
vermitteln und damit der Förderung seiner Mündigkeit zu dienen.
Zitierempfehlung: Deutsches Textarchiv. Grundlage für ein Referenzkorpus der neuhochdeutschen Sprache. Herausgegeben von der Berlin-Brandenburgischen Akademie der Wissenschaften, Berlin 2024. URL: https://www.deutschestextarchiv.de/.