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Vischer, Friedrich Theodor von: Ästhetik oder Wissenschaft des Schönen. Bd. 3,2,1. Stuttgart, 1852.

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tieferen, das nun aufgegangene subjective Leben darstellenden Versöhnung des
Gegensatzes von Kraft und Last
.

Wir halten an diesem Style des eilften, zwölften und angehenden drei-
zehnten Jahrhunderts, auf dessen neuere Benennung "romanisch", Verbrei-
tung und verschiedene Formen in der Normandie, in Italien, Sizilien (nor-
mannisch-arabischer Styl), Deutschland (Köln, Mainz, Worms, Speyer
u. and. wichtige Denkmale), England einzugehen Sache der Kunstgeschichte,
nicht der Aesthetik ist, zunächst fest, daß seine Grundlage die abend-
ländisch
altchristliche Form, die Basilika ist, also Langbau und darin
das Hauptmoment des Antiken erhalten. Im Grundrisse tritt zu der nun
fest und allgemein gewordenen Anordnung eines über das Langschiff zu
beiden Seiten hervorragenden Querschiffs die Verlängerung des Chors,
richtiger die Verlängerung, wodurch die halbkreisrunde Tribune zusammen
mit dem weiteren Quadrate, das ihr vorgeschoben ist, zum Chore wird,
der nun dem Cultus der Geistlichkeit vollen Raum gibt und jede Herein-
ziehung dieses Theils in das Schiff erspart. Spezielle Formen, wie die
Anlegung weiterer Chornischen-artiger Kapellen an den Chor, die Ab-
rundung der Querschiff-Enden, übergehen wir. Die Gestalt des lateini-
schen Kreuzes steht nun fest: zwei durcheinandergeschobene Langhäuser,
ein gedoppelter griechischer Tempel mit eingeschluckter Säulenhalle in zwei
verschiedenen Richtungen. Nun aber tritt als ein weiteres Moment der
in der Entwicklung begriffenen reichen Concretion von Gegensätzen die
verstärkte Höhe-Richtung hervor. Die innere Erhöhung des Chors um
mehrere Stufen gehört noch nicht dieser Richtung in ihrer Allgemeinheit
an, denn sie verstärkt nur nach innen die perspectivische Wirkung der
Herrschaft des geistigen Centrums und ist structiv durch die im romani-
schen Styl feststehende Anordnung der Krypta unter dem Chore bedingt.
Es steigt aber das allgemeine Höhenverhältniß der Basilika um ein Be-
deutendes, der Schwung nach oben, ein natürlicher Ausdruck der wach-
senden transcendenten Stimmung, treibt das Mittelschiff um mehr, als
das Doppelte seiner lichten Weite, empor. Das Höhestreben tritt aber
auch in der besonderen Form der übergewölbten (polygonisch getheilten)
Rundung der Kuppel über der Vierung des lateinischen Kreuzes auf.
Dieß ist nun Combination des morgenländischen, byzantinischen Rund-
baus und des abendländischen Langbaus der Basilika. Der byzantinische
Styl hat aber (§. 588) selbst schon das übergewölbte Runde mit dem
Geraden und Langgestreckten, nur nicht mit so entschiedenem Langbau
combinirt; der Widerspruch des räumlichen und geistigen Centrums, der
dadurch eintrat, ist nun auch im romanischen Style, und zwar aus-
gesprochener, vollständiger vorhanden: die Kuppel ist eine zu bedeu-

tieferen, das nun aufgegangene ſubjective Leben darſtellenden Verſöhnung des
Gegenſatzes von Kraft und Laſt
.

Wir halten an dieſem Style des eilften, zwölften und angehenden drei-
zehnten Jahrhunderts, auf deſſen neuere Benennung „romaniſch“, Verbrei-
tung und verſchiedene Formen in der Normandie, in Italien, Sizilien (nor-
manniſch-arabiſcher Styl), Deutſchland (Köln, Mainz, Worms, Speyer
u. and. wichtige Denkmale), England einzugehen Sache der Kunſtgeſchichte,
nicht der Aeſthetik iſt, zunächſt feſt, daß ſeine Grundlage die abend-
ländiſch
altchriſtliche Form, die Baſilika iſt, alſo Langbau und darin
das Hauptmoment des Antiken erhalten. Im Grundriſſe tritt zu der nun
feſt und allgemein gewordenen Anordnung eines über das Langſchiff zu
beiden Seiten hervorragenden Querſchiffs die Verlängerung des Chors,
richtiger die Verlängerung, wodurch die halbkreisrunde Tribune zuſammen
mit dem weiteren Quadrate, das ihr vorgeſchoben iſt, zum Chore wird,
der nun dem Cultus der Geiſtlichkeit vollen Raum gibt und jede Herein-
ziehung dieſes Theils in das Schiff erſpart. Spezielle Formen, wie die
Anlegung weiterer Chorniſchen-artiger Kapellen an den Chor, die Ab-
rundung der Querſchiff-Enden, übergehen wir. Die Geſtalt des lateini-
ſchen Kreuzes ſteht nun feſt: zwei durcheinandergeſchobene Langhäuſer,
ein gedoppelter griechiſcher Tempel mit eingeſchluckter Säulenhalle in zwei
verſchiedenen Richtungen. Nun aber tritt als ein weiteres Moment der
in der Entwicklung begriffenen reichen Concretion von Gegenſätzen die
verſtärkte Höhe-Richtung hervor. Die innere Erhöhung des Chors um
mehrere Stufen gehört noch nicht dieſer Richtung in ihrer Allgemeinheit
an, denn ſie verſtärkt nur nach innen die perſpectiviſche Wirkung der
Herrſchaft des geiſtigen Centrums und iſt ſtructiv durch die im romani-
ſchen Styl feſtſtehende Anordnung der Krypta unter dem Chore bedingt.
Es ſteigt aber das allgemeine Höhenverhältniß der Baſilika um ein Be-
deutendes, der Schwung nach oben, ein natürlicher Ausdruck der wach-
ſenden tranſcendenten Stimmung, treibt das Mittelſchiff um mehr, als
das Doppelte ſeiner lichten Weite, empor. Das Höheſtreben tritt aber
auch in der beſonderen Form der übergewölbten (polygoniſch getheilten)
Rundung der Kuppel über der Vierung des lateiniſchen Kreuzes auf.
Dieß iſt nun Combination des morgenländiſchen, byzantiniſchen Rund-
baus und des abendländiſchen Langbaus der Baſilika. Der byzantiniſche
Styl hat aber (§. 588) ſelbſt ſchon das übergewölbte Runde mit dem
Geraden und Langgeſtreckten, nur nicht mit ſo entſchiedenem Langbau
combinirt; der Widerſpruch des räumlichen und geiſtigen Centrums, der
dadurch eintrat, iſt nun auch im romaniſchen Style, und zwar aus-
geſprochener, vollſtändiger vorhanden: die Kuppel iſt eine zu bedeu-

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[305/0145] tieferen, das nun aufgegangene ſubjective Leben darſtellenden Verſöhnung des Gegenſatzes von Kraft und Laſt. Wir halten an dieſem Style des eilften, zwölften und angehenden drei- zehnten Jahrhunderts, auf deſſen neuere Benennung „romaniſch“, Verbrei- tung und verſchiedene Formen in der Normandie, in Italien, Sizilien (nor- manniſch-arabiſcher Styl), Deutſchland (Köln, Mainz, Worms, Speyer u. and. wichtige Denkmale), England einzugehen Sache der Kunſtgeſchichte, nicht der Aeſthetik iſt, zunächſt feſt, daß ſeine Grundlage die abend- ländiſch altchriſtliche Form, die Baſilika iſt, alſo Langbau und darin das Hauptmoment des Antiken erhalten. Im Grundriſſe tritt zu der nun feſt und allgemein gewordenen Anordnung eines über das Langſchiff zu beiden Seiten hervorragenden Querſchiffs die Verlängerung des Chors, richtiger die Verlängerung, wodurch die halbkreisrunde Tribune zuſammen mit dem weiteren Quadrate, das ihr vorgeſchoben iſt, zum Chore wird, der nun dem Cultus der Geiſtlichkeit vollen Raum gibt und jede Herein- ziehung dieſes Theils in das Schiff erſpart. Spezielle Formen, wie die Anlegung weiterer Chorniſchen-artiger Kapellen an den Chor, die Ab- rundung der Querſchiff-Enden, übergehen wir. Die Geſtalt des lateini- ſchen Kreuzes ſteht nun feſt: zwei durcheinandergeſchobene Langhäuſer, ein gedoppelter griechiſcher Tempel mit eingeſchluckter Säulenhalle in zwei verſchiedenen Richtungen. Nun aber tritt als ein weiteres Moment der in der Entwicklung begriffenen reichen Concretion von Gegenſätzen die verſtärkte Höhe-Richtung hervor. Die innere Erhöhung des Chors um mehrere Stufen gehört noch nicht dieſer Richtung in ihrer Allgemeinheit an, denn ſie verſtärkt nur nach innen die perſpectiviſche Wirkung der Herrſchaft des geiſtigen Centrums und iſt ſtructiv durch die im romani- ſchen Styl feſtſtehende Anordnung der Krypta unter dem Chore bedingt. Es ſteigt aber das allgemeine Höhenverhältniß der Baſilika um ein Be- deutendes, der Schwung nach oben, ein natürlicher Ausdruck der wach- ſenden tranſcendenten Stimmung, treibt das Mittelſchiff um mehr, als das Doppelte ſeiner lichten Weite, empor. Das Höheſtreben tritt aber auch in der beſonderen Form der übergewölbten (polygoniſch getheilten) Rundung der Kuppel über der Vierung des lateiniſchen Kreuzes auf. Dieß iſt nun Combination des morgenländiſchen, byzantiniſchen Rund- baus und des abendländiſchen Langbaus der Baſilika. Der byzantiniſche Styl hat aber (§. 588) ſelbſt ſchon das übergewölbte Runde mit dem Geraden und Langgeſtreckten, nur nicht mit ſo entſchiedenem Langbau combinirt; der Widerſpruch des räumlichen und geiſtigen Centrums, der dadurch eintrat, iſt nun auch im romaniſchen Style, und zwar aus- geſprochener, vollſtändiger vorhanden: die Kuppel iſt eine zu bedeu-

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Zitationshilfe: Vischer, Friedrich Theodor von: Ästhetik oder Wissenschaft des Schönen. Bd. 3,2,1. Stuttgart, 1852, S. 305. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/vischer_aesthetik030201_1852/145>, abgerufen am 23.11.2024.