Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Vischer, Friedrich Theodor von: Ästhetik oder Wissenschaft des Schönen. Bd. 3,1. Reutlingen u. a., 1851.

Bild:
<< vorherige Seite

scheinung durch Leonardo da Vinci; um aber auch Dichter anzuführen:
wie muß Homer Shakespeare, Göthe die Augen immer offen gehabt
haben! Hauptsächlich auch am Schauspieler ist es klar, wie der Künstler
das innere Urbild der menschlichen Charakter-Erscheinung, das ihm seinen
Künstlerberuf gibt, durch stetige allseitige Beobachtung ausfüllen und
verschärfen muß.

2. Das vorhin geforderte stetige Umschauen ist, wie schon bemerkt,
ein bewußteres, gewollteres gegenüber der natürlichen Frische der An-
schauung, von der in §. 385 und 392 die Rede war, es unterscheidet sich davon
wesentlich als eine Thätigkeit, welcher die Erfahrung vorangegangen ist,
daß das unmittelbare Anschauen (obwohl dieß selbst schon ein energischerer
Act ist, als das gewöhnliche Sehen) nicht genügt, sondern daß der Wille
mit Bewußtsein hineingelegt werden muß. Dieß ist eigentlich schon Be-
obachten, wir gebrauchen aber diesen Ausdruck erst von einem Acte, wel-
chem gegenüber diese Thätigkeit selbst wieder als eine mehr zufällige,
unabsichtliche erscheint, nämlich von der besondern Vornahme eines einzel-
nen Gegenstandes zum Zwecke der intensiv verweilenden Anschauung für
ein einzelnes Kunstwerk, das schon in der Composition begriffen ist, wie
dafür zum vorh. §. ein Beispiel von Schiller bei der Ausführung von
Wallensteins Lager gegeben ist. So wird z. B. auch der Landschaft-
maler, wenn er das nach dem Vorbild einer wirklichen Landschaft erzeugte
höhere Phantasiebild skizzirt hat und auszuführen gedenkt, entdecken, wie
viele Einzelformen ihm zu unbestimmt vorschweben: da muß er das Zim-
mer verlassen und sich Baum, Busch, Schlingpflanze, Erdformen, Licht,
Luft, Wasser genauer ansehen; aber auch diese bestimmtere Form ist
wieder zufällig zu nennen gegenüber einer noch bestimmteren, wo Er-
scheinungen des Naturschönen ihrem Ort entnommen und zum gründlichen
Besehen in das Atelier des Künstlers verpflanzt werden. Hier tritt
jedoch der Gegensatz von zufällig und absichtlich noch einmal auf, nur
daß er sich jetzt auf eine andere Seite der Sache bezieht, nämlich
darauf, ob der Gegenstand der Beobachtung unterzogen wird, ohne
darum zu wissen (weil er überhaupt dem Reiche des Bewußtlosen
oder blos thierisch Beseelten angehört) oder so, daß er davon
weiß. Der erstere Fall bezieht sich auf künstliche Beleuchtungen
des Ateliers, den Gebrauch von Gliederpuppen für Kostüm, Falten-
gebung und dergl., auf Geräthe, Pflanzen, lebendige oder todte
Thiere, die der Künstler vor sich nimmt, aufstellt, aufhängt. Diese
Mittel wird Niemand verwerfen, vorausgesetzt nur, daß der Künstler
ihre Mangelhaftigkeit fühlt und durch sonstige freie Beobachtung des
Lebens, durch helles inneres Schauen ergänzt; aber schwieriger wird die
Sache im zweiten Fall. Mit jenem Wissen nämlich tritt etwas Neues

ſcheinung durch Leonardo da Vinci; um aber auch Dichter anzuführen:
wie muß Homer Shakespeare, Göthe die Augen immer offen gehabt
haben! Hauptſächlich auch am Schauſpieler iſt es klar, wie der Künſtler
das innere Urbild der menſchlichen Charakter-Erſcheinung, das ihm ſeinen
Künſtlerberuf gibt, durch ſtetige allſeitige Beobachtung ausfüllen und
verſchärfen muß.

2. Das vorhin geforderte ſtetige Umſchauen iſt, wie ſchon bemerkt,
ein bewußteres, gewollteres gegenüber der natürlichen Friſche der An-
ſchauung, von der in §. 385 und 392 die Rede war, es unterſcheidet ſich davon
weſentlich als eine Thätigkeit, welcher die Erfahrung vorangegangen iſt,
daß das unmittelbare Anſchauen (obwohl dieß ſelbſt ſchon ein energiſcherer
Act iſt, als das gewöhnliche Sehen) nicht genügt, ſondern daß der Wille
mit Bewußtſein hineingelegt werden muß. Dieß iſt eigentlich ſchon Be-
obachten, wir gebrauchen aber dieſen Ausdruck erſt von einem Acte, wel-
chem gegenüber dieſe Thätigkeit ſelbſt wieder als eine mehr zufällige,
unabſichtliche erſcheint, nämlich von der beſondern Vornahme eines einzel-
nen Gegenſtandes zum Zwecke der intenſiv verweilenden Anſchauung für
ein einzelnes Kunſtwerk, das ſchon in der Compoſition begriffen iſt, wie
dafür zum vorh. §. ein Beiſpiel von Schiller bei der Ausführung von
Wallenſteins Lager gegeben iſt. So wird z. B. auch der Landſchaft-
maler, wenn er das nach dem Vorbild einer wirklichen Landſchaft erzeugte
höhere Phantaſiebild ſkizzirt hat und auszuführen gedenkt, entdecken, wie
viele Einzelformen ihm zu unbeſtimmt vorſchweben: da muß er das Zim-
mer verlaſſen und ſich Baum, Buſch, Schlingpflanze, Erdformen, Licht,
Luft, Waſſer genauer anſehen; aber auch dieſe beſtimmtere Form iſt
wieder zufällig zu nennen gegenüber einer noch beſtimmteren, wo Er-
ſcheinungen des Naturſchönen ihrem Ort entnommen und zum gründlichen
Beſehen in das Atelier des Künſtlers verpflanzt werden. Hier tritt
jedoch der Gegenſatz von zufällig und abſichtlich noch einmal auf, nur
daß er ſich jetzt auf eine andere Seite der Sache bezieht, nämlich
darauf, ob der Gegenſtand der Beobachtung unterzogen wird, ohne
darum zu wiſſen (weil er überhaupt dem Reiche des Bewußtloſen
oder blos thieriſch Beſeelten angehört) oder ſo, daß er davon
weiß. Der erſtere Fall bezieht ſich auf künſtliche Beleuchtungen
des Ateliers, den Gebrauch von Gliederpuppen für Koſtüm, Falten-
gebung und dergl., auf Geräthe, Pflanzen, lebendige oder todte
Thiere, die der Künſtler vor ſich nimmt, aufſtellt, aufhängt. Dieſe
Mittel wird Niemand verwerfen, vorausgeſetzt nur, daß der Künſtler
ihre Mangelhaftigkeit fühlt und durch ſonſtige freie Beobachtung des
Lebens, durch helles inneres Schauen ergänzt; aber ſchwieriger wird die
Sache im zweiten Fall. Mit jenem Wiſſen nämlich tritt etwas Neues

<TEI>
  <text>
    <body>
      <div n="1">
        <div n="2">
          <div n="3">
            <div n="4">
              <div n="5">
                <div n="6">
                  <p> <hi rendition="#et"><pb facs="#f0091" n="79"/>
&#x017F;cheinung durch Leonardo da Vinci; um aber auch Dichter anzuführen:<lb/>
wie muß Homer Shakespeare, Göthe die Augen immer offen gehabt<lb/>
haben! Haupt&#x017F;ächlich auch am Schau&#x017F;pieler i&#x017F;t es klar, wie der Kün&#x017F;tler<lb/>
das innere Urbild der men&#x017F;chlichen Charakter-Er&#x017F;cheinung, das ihm &#x017F;einen<lb/>
Kün&#x017F;tlerberuf gibt, durch &#x017F;tetige all&#x017F;eitige Beobachtung ausfüllen und<lb/>
ver&#x017F;chärfen muß.</hi> </p><lb/>
                  <p> <hi rendition="#et">2. Das vorhin geforderte &#x017F;tetige Um&#x017F;chauen i&#x017F;t, wie &#x017F;chon bemerkt,<lb/>
ein bewußteres, gewollteres gegenüber der natürlichen Fri&#x017F;che der An-<lb/>
&#x017F;chauung, von der in §. 385 und 392 die Rede war, es unter&#x017F;cheidet &#x017F;ich davon<lb/>
we&#x017F;entlich als eine Thätigkeit, welcher die Erfahrung vorangegangen i&#x017F;t,<lb/>
daß das unmittelbare An&#x017F;chauen (obwohl dieß &#x017F;elb&#x017F;t &#x017F;chon ein energi&#x017F;cherer<lb/>
Act i&#x017F;t, als das gewöhnliche Sehen) nicht genügt, &#x017F;ondern daß der Wille<lb/>
mit Bewußt&#x017F;ein hineingelegt werden muß. Dieß i&#x017F;t eigentlich &#x017F;chon Be-<lb/>
obachten, wir gebrauchen aber die&#x017F;en Ausdruck er&#x017F;t von einem Acte, wel-<lb/>
chem gegenüber die&#x017F;e Thätigkeit &#x017F;elb&#x017F;t wieder als eine mehr zufällige,<lb/>
unab&#x017F;ichtliche er&#x017F;cheint, nämlich von der be&#x017F;ondern Vornahme eines einzel-<lb/>
nen Gegen&#x017F;tandes zum Zwecke der inten&#x017F;iv verweilenden An&#x017F;chauung für<lb/>
ein einzelnes Kun&#x017F;twerk, das &#x017F;chon in der Compo&#x017F;ition begriffen i&#x017F;t, wie<lb/>
dafür zum vorh. §. ein Bei&#x017F;piel von Schiller bei der Ausführung von<lb/>
Wallen&#x017F;teins Lager gegeben i&#x017F;t. So wird z. B. auch der Land&#x017F;chaft-<lb/>
maler, wenn er das nach dem Vorbild einer wirklichen Land&#x017F;chaft erzeugte<lb/>
höhere Phanta&#x017F;iebild &#x017F;kizzirt hat und auszuführen gedenkt, entdecken, wie<lb/>
viele Einzelformen ihm zu unbe&#x017F;timmt vor&#x017F;chweben: da muß er das Zim-<lb/>
mer verla&#x017F;&#x017F;en und &#x017F;ich Baum, Bu&#x017F;ch, Schlingpflanze, Erdformen, Licht,<lb/>
Luft, Wa&#x017F;&#x017F;er genauer an&#x017F;ehen; aber auch die&#x017F;e be&#x017F;timmtere Form i&#x017F;t<lb/>
wieder zufällig zu nennen gegenüber einer noch be&#x017F;timmteren, wo Er-<lb/>
&#x017F;cheinungen des Natur&#x017F;chönen ihrem Ort entnommen und zum gründlichen<lb/>
Be&#x017F;ehen in das Atelier des Kün&#x017F;tlers verpflanzt werden. Hier tritt<lb/>
jedoch der Gegen&#x017F;atz von zufällig und ab&#x017F;ichtlich noch einmal auf, nur<lb/>
daß er &#x017F;ich jetzt auf eine andere Seite der Sache bezieht, nämlich<lb/>
darauf, ob der Gegen&#x017F;tand der Beobachtung unterzogen wird, ohne<lb/>
darum zu wi&#x017F;&#x017F;en (weil er überhaupt dem Reiche des Bewußtlo&#x017F;en<lb/>
oder blos thieri&#x017F;ch Be&#x017F;eelten angehört) oder &#x017F;o, daß er davon<lb/>
weiß. Der er&#x017F;tere Fall bezieht &#x017F;ich auf kün&#x017F;tliche Beleuchtungen<lb/>
des Ateliers, den Gebrauch von Gliederpuppen für Ko&#x017F;tüm, Falten-<lb/>
gebung und dergl., auf Geräthe, Pflanzen, lebendige oder todte<lb/>
Thiere, die der Kün&#x017F;tler vor &#x017F;ich nimmt, auf&#x017F;tellt, aufhängt. Die&#x017F;e<lb/>
Mittel wird Niemand verwerfen, vorausge&#x017F;etzt nur, daß der Kün&#x017F;tler<lb/>
ihre Mangelhaftigkeit fühlt und durch &#x017F;on&#x017F;tige freie Beobachtung des<lb/>
Lebens, durch helles inneres Schauen ergänzt; aber &#x017F;chwieriger wird die<lb/>
Sache im zweiten Fall. Mit jenem Wi&#x017F;&#x017F;en nämlich tritt etwas Neues<lb/></hi> </p>
                </div>
              </div>
            </div>
          </div>
        </div>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[79/0091] ſcheinung durch Leonardo da Vinci; um aber auch Dichter anzuführen: wie muß Homer Shakespeare, Göthe die Augen immer offen gehabt haben! Hauptſächlich auch am Schauſpieler iſt es klar, wie der Künſtler das innere Urbild der menſchlichen Charakter-Erſcheinung, das ihm ſeinen Künſtlerberuf gibt, durch ſtetige allſeitige Beobachtung ausfüllen und verſchärfen muß. 2. Das vorhin geforderte ſtetige Umſchauen iſt, wie ſchon bemerkt, ein bewußteres, gewollteres gegenüber der natürlichen Friſche der An- ſchauung, von der in §. 385 und 392 die Rede war, es unterſcheidet ſich davon weſentlich als eine Thätigkeit, welcher die Erfahrung vorangegangen iſt, daß das unmittelbare Anſchauen (obwohl dieß ſelbſt ſchon ein energiſcherer Act iſt, als das gewöhnliche Sehen) nicht genügt, ſondern daß der Wille mit Bewußtſein hineingelegt werden muß. Dieß iſt eigentlich ſchon Be- obachten, wir gebrauchen aber dieſen Ausdruck erſt von einem Acte, wel- chem gegenüber dieſe Thätigkeit ſelbſt wieder als eine mehr zufällige, unabſichtliche erſcheint, nämlich von der beſondern Vornahme eines einzel- nen Gegenſtandes zum Zwecke der intenſiv verweilenden Anſchauung für ein einzelnes Kunſtwerk, das ſchon in der Compoſition begriffen iſt, wie dafür zum vorh. §. ein Beiſpiel von Schiller bei der Ausführung von Wallenſteins Lager gegeben iſt. So wird z. B. auch der Landſchaft- maler, wenn er das nach dem Vorbild einer wirklichen Landſchaft erzeugte höhere Phantaſiebild ſkizzirt hat und auszuführen gedenkt, entdecken, wie viele Einzelformen ihm zu unbeſtimmt vorſchweben: da muß er das Zim- mer verlaſſen und ſich Baum, Buſch, Schlingpflanze, Erdformen, Licht, Luft, Waſſer genauer anſehen; aber auch dieſe beſtimmtere Form iſt wieder zufällig zu nennen gegenüber einer noch beſtimmteren, wo Er- ſcheinungen des Naturſchönen ihrem Ort entnommen und zum gründlichen Beſehen in das Atelier des Künſtlers verpflanzt werden. Hier tritt jedoch der Gegenſatz von zufällig und abſichtlich noch einmal auf, nur daß er ſich jetzt auf eine andere Seite der Sache bezieht, nämlich darauf, ob der Gegenſtand der Beobachtung unterzogen wird, ohne darum zu wiſſen (weil er überhaupt dem Reiche des Bewußtloſen oder blos thieriſch Beſeelten angehört) oder ſo, daß er davon weiß. Der erſtere Fall bezieht ſich auf künſtliche Beleuchtungen des Ateliers, den Gebrauch von Gliederpuppen für Koſtüm, Falten- gebung und dergl., auf Geräthe, Pflanzen, lebendige oder todte Thiere, die der Künſtler vor ſich nimmt, aufſtellt, aufhängt. Dieſe Mittel wird Niemand verwerfen, vorausgeſetzt nur, daß der Künſtler ihre Mangelhaftigkeit fühlt und durch ſonſtige freie Beobachtung des Lebens, durch helles inneres Schauen ergänzt; aber ſchwieriger wird die Sache im zweiten Fall. Mit jenem Wiſſen nämlich tritt etwas Neues

Suche im Werk

Hilfe

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)
XML (TEI P5 inkl. att.linguistic)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Voyant Tools ?

Language Resource Switchboard?

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde gemäß den DTA-Transkriptionsrichtlinien im Double-Keying-Verfahren von Nicht-Muttersprachlern erfasst und in XML/TEI P5 nach DTA-Basisformat kodiert.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/vischer_aesthetik0301_1851
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/vischer_aesthetik0301_1851/91
Zitationshilfe: Vischer, Friedrich Theodor von: Ästhetik oder Wissenschaft des Schönen. Bd. 3,1. Reutlingen u. a., 1851, S. 79. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/vischer_aesthetik0301_1851/91>, abgerufen am 23.11.2024.