Vischer, Friedrich Theodor von: Ästhetik oder Wissenschaft des Schönen. Bd. 3,1. Reutlingen u. a., 1851.
Kritik, der verrenkten Wissenschaft noch nicht einmal gedacht, nicht all des
Kritik, der verrenkten Wiſſenſchaft noch nicht einmal gedacht, nicht all des <TEI> <text> <body> <div n="1"> <div n="2"> <div n="3"> <div n="4"> <div n="5"> <div n="6"> <div n="7"> <p> <hi rendition="#et"><pb facs="#f0082" n="70"/> Kritik, der verrenkten Wiſſenſchaft noch nicht einmal gedacht, nicht all des<lb/> Leeren, Windigen, Halbwahren und ganz Unwahren, was in einer Zeit<lb/> der Vielſchreiberei umherſchwirrt. Kann nun ein ſolcher Zuſtand zunächſt<lb/> den Künſtler nicht fördern, ſo hebt er auch das Publikum unmittelbar<lb/> nicht zum ächten Kunſtverſtändniß. Dieſe Maſſe, die „vom Leſen der<lb/> Journale kommt,“ die „an das Beſte nicht gewöhnt iſt, allein ſchrecklich<lb/> viel geleſen hat“, die urtheilt, <hi rendition="#g">ehe</hi> ſie genießt, ja, <hi rendition="#g">ſtatt</hi> zu genießen, iſt kein<lb/> Boden für eine fröhliche Kunſt; die Unterlage des wahren Urtheils, die<lb/> geſunde Sinnlichkeit, die Innigkeit, Friſche und Schärfe der Anſchauung<lb/> iſt zerfreſſen und wie groß der Reichthum an richtigen Sätzen ſein mag,<lb/> welche die Kritik verbreitet, er vermag dieſes Uebel nicht gut zu machen.<lb/> Ein ſolches, ein ſo reflectirtes Publikum vermehrt aber zugleich den Wider-<lb/> willen des Künſtlers gegen die Kritik. Durch dieſe Auffaſſung haben wir jedoch<lb/> keineswegs die <hi rendition="#g">mittelbare</hi> Förderung der Kunſt durch die Kritik geläug-<lb/> net. Es verhält ſich mit der Kritik wie mit der Preſſe im Allgemeinen:<lb/> das Einzelne in ihrem vielſtimmigen Durcheinander zerſetzt und zerſprengt<lb/> das Ganze der Wahrheit, verwirrt, verblendet, aber durch die bewegte<lb/> Maſſe dieſes Einzelnen zieht doch, erzeugt aus der Wechſel-Ergänzung des<lb/> Einſeitigen, zu Tage gefördert durch Streit und Widerſpruch, als Geiſt<lb/> des Ganzen die Wahrheit. Die Summe der Reflexionen, die ſich ver-<lb/> drängenden und ergänzenden Gedanken der philoſophiſchen Aeſthetik müſſen<lb/> endlich, nachdem ſie die Geiſter durchwühlt haben, einen Niederſchlag zu-<lb/> rücklaſſen, in welchem das durcharbeitete Urtheil in die Unmittelbarkeit des<lb/> richtigen Gefühls zurückkehrt. Wie überall die höchſte Bildung zur Natur<lb/> zurückgeht, ſo auch hier, und wenn dieſer Prozeß, welchem freilich durch-<lb/> greifende Veränderungen des ganzen Volks- und Staatslebens nachhelfen<lb/> müſſen, abgelaufen iſt, wird dem Künſtler ein durch die Reflexion hin-<lb/> durchgegangener Kunſtſinn des Publikums gegenüberſtehen, der, nachdem<lb/> der Reflexions-Inhalt zum wahren, lebendigen Eigenthum geworden iſt,<lb/> wieder mit der Sicherheit des Inſtincts urtheilt. Bis dahin vergeſſe der<lb/> Künſtler nicht, daß er ſelbſt in einer reflectirten Zeit ſich dem Sauerteige<lb/> der Reflexion nicht entziehen kann und daß er daher in gewiſſem Maaße<lb/> doch dieſelbe Cur durchmachen muß, wie das Publikum: den Teufel durch<lb/> Beelzebub austreiben, die Reflexion durch Reflexion vernichten. Es wird<lb/> dieß bei Wenigen ſo weit gehen können und dürfen, wie bei Schiller, der<lb/> ſeinem kritiſchen und philoſophiſchen Bedürfniß eine beſondere Friſt ent-<lb/> ſprechender Studien gönnte, um von deren Höhe mit nur um ſo tiefer<lb/> begründeter Ueberzeugung und verſtärktem Naturdurſt ſich dem productiven<lb/> Kunſt-Inſtinct in die Arme zu werfen; es iſt überhaupt ein ſolcher Durch-<lb/> gang nicht der an ſich richtige Weg und wir haben vorhin, als wir vom<lb/> Künſtler im Allgemeinen ſprachen, ihm nicht verwehrt, alles Kritiſiren und<lb/></hi> </p> </div> </div> </div> </div> </div> </div> </div> </body> </text> </TEI> [70/0082]
Kritik, der verrenkten Wiſſenſchaft noch nicht einmal gedacht, nicht all des
Leeren, Windigen, Halbwahren und ganz Unwahren, was in einer Zeit
der Vielſchreiberei umherſchwirrt. Kann nun ein ſolcher Zuſtand zunächſt
den Künſtler nicht fördern, ſo hebt er auch das Publikum unmittelbar
nicht zum ächten Kunſtverſtändniß. Dieſe Maſſe, die „vom Leſen der
Journale kommt,“ die „an das Beſte nicht gewöhnt iſt, allein ſchrecklich
viel geleſen hat“, die urtheilt, ehe ſie genießt, ja, ſtatt zu genießen, iſt kein
Boden für eine fröhliche Kunſt; die Unterlage des wahren Urtheils, die
geſunde Sinnlichkeit, die Innigkeit, Friſche und Schärfe der Anſchauung
iſt zerfreſſen und wie groß der Reichthum an richtigen Sätzen ſein mag,
welche die Kritik verbreitet, er vermag dieſes Uebel nicht gut zu machen.
Ein ſolches, ein ſo reflectirtes Publikum vermehrt aber zugleich den Wider-
willen des Künſtlers gegen die Kritik. Durch dieſe Auffaſſung haben wir jedoch
keineswegs die mittelbare Förderung der Kunſt durch die Kritik geläug-
net. Es verhält ſich mit der Kritik wie mit der Preſſe im Allgemeinen:
das Einzelne in ihrem vielſtimmigen Durcheinander zerſetzt und zerſprengt
das Ganze der Wahrheit, verwirrt, verblendet, aber durch die bewegte
Maſſe dieſes Einzelnen zieht doch, erzeugt aus der Wechſel-Ergänzung des
Einſeitigen, zu Tage gefördert durch Streit und Widerſpruch, als Geiſt
des Ganzen die Wahrheit. Die Summe der Reflexionen, die ſich ver-
drängenden und ergänzenden Gedanken der philoſophiſchen Aeſthetik müſſen
endlich, nachdem ſie die Geiſter durchwühlt haben, einen Niederſchlag zu-
rücklaſſen, in welchem das durcharbeitete Urtheil in die Unmittelbarkeit des
richtigen Gefühls zurückkehrt. Wie überall die höchſte Bildung zur Natur
zurückgeht, ſo auch hier, und wenn dieſer Prozeß, welchem freilich durch-
greifende Veränderungen des ganzen Volks- und Staatslebens nachhelfen
müſſen, abgelaufen iſt, wird dem Künſtler ein durch die Reflexion hin-
durchgegangener Kunſtſinn des Publikums gegenüberſtehen, der, nachdem
der Reflexions-Inhalt zum wahren, lebendigen Eigenthum geworden iſt,
wieder mit der Sicherheit des Inſtincts urtheilt. Bis dahin vergeſſe der
Künſtler nicht, daß er ſelbſt in einer reflectirten Zeit ſich dem Sauerteige
der Reflexion nicht entziehen kann und daß er daher in gewiſſem Maaße
doch dieſelbe Cur durchmachen muß, wie das Publikum: den Teufel durch
Beelzebub austreiben, die Reflexion durch Reflexion vernichten. Es wird
dieß bei Wenigen ſo weit gehen können und dürfen, wie bei Schiller, der
ſeinem kritiſchen und philoſophiſchen Bedürfniß eine beſondere Friſt ent-
ſprechender Studien gönnte, um von deren Höhe mit nur um ſo tiefer
begründeter Ueberzeugung und verſtärktem Naturdurſt ſich dem productiven
Kunſt-Inſtinct in die Arme zu werfen; es iſt überhaupt ein ſolcher Durch-
gang nicht der an ſich richtige Weg und wir haben vorhin, als wir vom
Künſtler im Allgemeinen ſprachen, ihm nicht verwehrt, alles Kritiſiren und
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