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Vischer, Friedrich Theodor von: Ästhetik oder Wissenschaft des Schönen. Bd. 3,1. Reutlingen u. a., 1851.

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zwischen diese und die ursprüngliche Stoffwelt legte (vergl. §. 416 ff.); das
moderne Ideal, wo diese Zwischenwand wegfällt, ist noch im Werden
begriffen und mehr das Schwierige, als der Vortheil dieses neuen Ver-
hältnißes liegt bis jetzt zu Tage. Da entsteht nun im gegenwärtigen
Zusammenhang die speziellere Frage, ob nicht jenes frühere naive Ver-
hältniß näher betrachtet vielmehr eine Bindung sei, welche die freie
Thätigkeit in Conception und Composition hemme? Immer dieselben
Götter, Heroen, Heroensagen, immer Maria, Christus, sein Leben und
Tod, immer dieselben Heiligen: ist bei solchem durchgängigen Gegeben-
sein des Stoffes noch freie Composition möglich? So gewiß ist sie es,
als die erste Erfindung, die Erzeugung des innern Ideals, wovon die
Abtheilung A, b. im zweiten Abschnitte des zweiten Theils handelte, dabei
völlig frei bleibt. Es hieß in §. 418, die zweite Stoffwelt sei zugleich
Vorschub, Zuwachs und Verlust, Hinderniß. Das Letztere gilt aber mehr
der Verengung des Horizonts, der quantitativen Verkürzung an Stoffen,
die man erst fühlt, wenn die unendliche Welt ohne Mythus sich vor dem
Auge aufschlägt, und auch dann führt der Verlust der alten Stoffwelt
zuerst eine Erschütterung mit sich, die das Bewußtsein in ein irrendes
Schwanken zwischen den unendlichen neuen Stoffen wirft, so daß es den
Wald vor Bäumen nicht sieht (vergl. §. 469), und wie die Erfindung,
so scheint auch die Composition gerade durch die neue Freiheit, die ohne
Vermittler an den Roh-Stoff des Lebens gewiesen ist, zunächst mehr erschwert,
als erleichtert. In jenen Zeitaltern waren die Stoffe nicht nur gegeben,
sondern auch bis auf einen gewißen Grad von der Volksphantasie ästhetisch
zubereitet. Dieser halbreife Stoff hatte nun aber gerade noch die rechte
Empfänglichkeit, um durch die besondere Phantasie unendliche neue Formen
anzunehmen, und es war dadurch der Composition statt eines Hemmschuhs
der gewaltige Reiz des Wetteifers mit den Vielen gegeben, die denselben
Stoff schon behandelt hatten. Der Reiz lag eben darin, daß der Genius den
bereits so oft behandelten Stoff noch einmal zum bildsamen Roh-Stoff
herabzusetzen sich erkühnte. Schillers Aeußerungen über diesen Vortheil
der alten Künstler, Göthes große Noth mit den Stoffen und Zweifel, ob
er den rechten ergriffen, sind bekannt. Ebensowenig hemmte den Künstler
die verbreitete Auffaßungsweise, die der §. nur darum noch nicht mit dem
eigentlichen Worte Styl benennt, weil dieser Begriff noch nicht erläutert ist.
Wir streifen hier diesen Gegenstand nur erst von der Seite der subjectiven
Freiheit des Künstlers und können soviel allerdings vorläufig sagen: es
ist schon aus der Geschichte der Phantasie oder des Ideals klar, daß die
ästhetische Anschauung der Zeiten und Völker jedem Stoff einen ihrem
Wesen entsprechenden Hauch, Wurf, Schnitt geben muß, den nun der
einzelne Künstler als unbedingt gültig vorfindet. Stört ihn auch dieß nicht

zwiſchen dieſe und die urſprüngliche Stoffwelt legte (vergl. §. 416 ff.); das
moderne Ideal, wo dieſe Zwiſchenwand wegfällt, iſt noch im Werden
begriffen und mehr das Schwierige, als der Vortheil dieſes neuen Ver-
hältnißes liegt bis jetzt zu Tage. Da entſteht nun im gegenwärtigen
Zuſammenhang die ſpeziellere Frage, ob nicht jenes frühere naive Ver-
hältniß näher betrachtet vielmehr eine Bindung ſei, welche die freie
Thätigkeit in Conception und Compoſition hemme? Immer dieſelben
Götter, Heroen, Heroenſagen, immer Maria, Chriſtus, ſein Leben und
Tod, immer dieſelben Heiligen: iſt bei ſolchem durchgängigen Gegeben-
ſein des Stoffes noch freie Compoſition möglich? So gewiß iſt ſie es,
als die erſte Erfindung, die Erzeugung des innern Ideals, wovon die
Abtheilung A, b. im zweiten Abſchnitte des zweiten Theils handelte, dabei
völlig frei bleibt. Es hieß in §. 418, die zweite Stoffwelt ſei zugleich
Vorſchub, Zuwachs und Verluſt, Hinderniß. Das Letztere gilt aber mehr
der Verengung des Horizonts, der quantitativen Verkürzung an Stoffen,
die man erſt fühlt, wenn die unendliche Welt ohne Mythus ſich vor dem
Auge aufſchlägt, und auch dann führt der Verluſt der alten Stoffwelt
zuerſt eine Erſchütterung mit ſich, die das Bewußtſein in ein irrendes
Schwanken zwiſchen den unendlichen neuen Stoffen wirft, ſo daß es den
Wald vor Bäumen nicht ſieht (vergl. §. 469), und wie die Erfindung,
ſo ſcheint auch die Compoſition gerade durch die neue Freiheit, die ohne
Vermittler an den Roh-Stoff des Lebens gewieſen iſt, zunächſt mehr erſchwert,
als erleichtert. In jenen Zeitaltern waren die Stoffe nicht nur gegeben,
ſondern auch bis auf einen gewißen Grad von der Volksphantaſie äſthetiſch
zubereitet. Dieſer halbreife Stoff hatte nun aber gerade noch die rechte
Empfänglichkeit, um durch die beſondere Phantaſie unendliche neue Formen
anzunehmen, und es war dadurch der Compoſition ſtatt eines Hemmſchuhs
der gewaltige Reiz des Wetteifers mit den Vielen gegeben, die denſelben
Stoff ſchon behandelt hatten. Der Reiz lag eben darin, daß der Genius den
bereits ſo oft behandelten Stoff noch einmal zum bildſamen Roh-Stoff
herabzuſetzen ſich erkühnte. Schillers Aeußerungen über dieſen Vortheil
der alten Künſtler, Göthes große Noth mit den Stoffen und Zweifel, ob
er den rechten ergriffen, ſind bekannt. Ebenſowenig hemmte den Künſtler
die verbreitete Auffaßungsweiſe, die der §. nur darum noch nicht mit dem
eigentlichen Worte Styl benennt, weil dieſer Begriff noch nicht erläutert iſt.
Wir ſtreifen hier dieſen Gegenſtand nur erſt von der Seite der ſubjectiven
Freiheit des Künſtlers und können ſoviel allerdings vorläufig ſagen: es
iſt ſchon aus der Geſchichte der Phantaſie oder des Ideals klar, daß die
äſthetiſche Anſchauung der Zeiten und Völker jedem Stoff einen ihrem
Weſen entſprechenden Hauch, Wurf, Schnitt geben muß, den nun der
einzelne Künſtler als unbedingt gültig vorfindet. Stört ihn auch dieß nicht

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[56/0068] zwiſchen dieſe und die urſprüngliche Stoffwelt legte (vergl. §. 416 ff.); das moderne Ideal, wo dieſe Zwiſchenwand wegfällt, iſt noch im Werden begriffen und mehr das Schwierige, als der Vortheil dieſes neuen Ver- hältnißes liegt bis jetzt zu Tage. Da entſteht nun im gegenwärtigen Zuſammenhang die ſpeziellere Frage, ob nicht jenes frühere naive Ver- hältniß näher betrachtet vielmehr eine Bindung ſei, welche die freie Thätigkeit in Conception und Compoſition hemme? Immer dieſelben Götter, Heroen, Heroenſagen, immer Maria, Chriſtus, ſein Leben und Tod, immer dieſelben Heiligen: iſt bei ſolchem durchgängigen Gegeben- ſein des Stoffes noch freie Compoſition möglich? So gewiß iſt ſie es, als die erſte Erfindung, die Erzeugung des innern Ideals, wovon die Abtheilung A, b. im zweiten Abſchnitte des zweiten Theils handelte, dabei völlig frei bleibt. Es hieß in §. 418, die zweite Stoffwelt ſei zugleich Vorſchub, Zuwachs und Verluſt, Hinderniß. Das Letztere gilt aber mehr der Verengung des Horizonts, der quantitativen Verkürzung an Stoffen, die man erſt fühlt, wenn die unendliche Welt ohne Mythus ſich vor dem Auge aufſchlägt, und auch dann führt der Verluſt der alten Stoffwelt zuerſt eine Erſchütterung mit ſich, die das Bewußtſein in ein irrendes Schwanken zwiſchen den unendlichen neuen Stoffen wirft, ſo daß es den Wald vor Bäumen nicht ſieht (vergl. §. 469), und wie die Erfindung, ſo ſcheint auch die Compoſition gerade durch die neue Freiheit, die ohne Vermittler an den Roh-Stoff des Lebens gewieſen iſt, zunächſt mehr erſchwert, als erleichtert. In jenen Zeitaltern waren die Stoffe nicht nur gegeben, ſondern auch bis auf einen gewißen Grad von der Volksphantaſie äſthetiſch zubereitet. Dieſer halbreife Stoff hatte nun aber gerade noch die rechte Empfänglichkeit, um durch die beſondere Phantaſie unendliche neue Formen anzunehmen, und es war dadurch der Compoſition ſtatt eines Hemmſchuhs der gewaltige Reiz des Wetteifers mit den Vielen gegeben, die denſelben Stoff ſchon behandelt hatten. Der Reiz lag eben darin, daß der Genius den bereits ſo oft behandelten Stoff noch einmal zum bildſamen Roh-Stoff herabzuſetzen ſich erkühnte. Schillers Aeußerungen über dieſen Vortheil der alten Künſtler, Göthes große Noth mit den Stoffen und Zweifel, ob er den rechten ergriffen, ſind bekannt. Ebenſowenig hemmte den Künſtler die verbreitete Auffaßungsweiſe, die der §. nur darum noch nicht mit dem eigentlichen Worte Styl benennt, weil dieſer Begriff noch nicht erläutert iſt. Wir ſtreifen hier dieſen Gegenſtand nur erſt von der Seite der ſubjectiven Freiheit des Künſtlers und können ſoviel allerdings vorläufig ſagen: es iſt ſchon aus der Geſchichte der Phantaſie oder des Ideals klar, daß die äſthetiſche Anſchauung der Zeiten und Völker jedem Stoff einen ihrem Weſen entſprechenden Hauch, Wurf, Schnitt geben muß, den nun der einzelne Künſtler als unbedingt gültig vorfindet. Stört ihn auch dieß nicht

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Zitationshilfe: Vischer, Friedrich Theodor von: Ästhetik oder Wissenschaft des Schönen. Bd. 3,1. Reutlingen u. a., 1851, S. 56. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/vischer_aesthetik0301_1851/68>, abgerufen am 24.11.2024.