Gegensätze, sich zu Accorden auflösende Dissonanzen entwickelt, an ver- schiedene Stimmen, Töne vertheilt, sie wechselnd und wieder sammelnd beschäftigt, so daß hier die Bewegung pausirt, zurückbleibt, während sie dort fortschreitet, dann das Zurückgebliebene nachrückt und mit dem Vor- geeilten sich in einen Knoten, wie in ein starkes, deutlich bindendes Gelenk zusammenfaßt, dann eine neue Theilung mit neuen Dissonanzen, Tren- nungen beginnt, um eine höhere, reichere Vereinigung vorzubereiten, und so fort, bis der Grundgedanke völlig erschöpft im Schluße alle Töne und Tonreihen in Eins versammelt. Nun stellen die bildenden Künste zwar ein ruhendes Bild vor das Auge, allein wie in der Natur selbst die Gestalt nicht von Ewigkeit da war, sondern sich werdend baut, wie der Künstler sein räumliches Werk aus dem Nichts erst heraufführt, so reißt der lebendig Schauende das fertige Werk gleichsam erst wieder ein, um es neu aufzubauen. Die Formen, Farben, Lichter kommen in Fluß, thauen auf, um noch einmal zu gerinnen, sie scheinen in dieser belebten Strömung zu klingen, kurz es ist Musik darin. Nur Ein Beispiel geben wir, um nicht zu viel vorzugreifen, aus diesem Gebiet, indem wir die schon mehrfach erwähnte Laokoongruppe noch einmal aufnehmen. Feuer- bach (D. vatic. Apollo S. 63) sagt: "mit der Heftigkeit im Angesichte des Laokoon contrastirt der mildere Ausdruck seiner beiden Söhne. An ihnen bricht sich der Schrei des Entsetzens, und die Gruppe wird statt eines gellenden Unisono der harmonische Dreiklang der griechischen Plastik." Wir fügen zu diesen classischen Worten noch Folgendes (zum Theil nach Göthe "Ueber Laokoon" W. B. 38): betrachtet man die Gruppe zuerst mit aufsteigendem Blick, so hat man in den beiden Söhnen zunächst den schon erwähnten milden Contrast: der jüngere, tödtlich gebissen, sinkt, den rechten Arm noch hilfeflehend erhoben, zusammen, der ältere rechts ist noch frei genug, um voll Schreck und Mitleid zum Vater aufzublicken: in diesem ist ein Ruhepunct gegeben, wir athmen einen Augenblick auf, es ist ein Zuschauer in der Gruppe selbst, eine freiere, befreiende Mitte. Zu dem Vater stehen beide in einem doppelten Verhältniß: in dem des Contrasts, wie ihn Feuerbach bezeichnet, zugleich aber in dem der Vorbereitung; in ihm ist nämlich vereinigt, was in ihnen getheilt ist: eigene äußerste Noth und Mitleiden, er wollte sich selbst und den Kindern helfen und erhält so eben den tödtlichen Biß in die Hüfte; zugleich Streben und Leiden, indem er mächtig arbeitend so eben erliegt. So ist in ihm Alles, was die Gruppe bewegt, zur höchsten Spitze zusam- mengefaßt, aber von diesem Aeußersten steigt Blick und Herz wieder abwärts zu den Söhnen, um in dem rührenden Anblick Milderung der Schrecken zu suchen. Dieser Rhythmus ist aber zugleich ein Rhythmus der Linien: der Vater erhebt den rechten Arm, wie der jüngere Sohn;
Gegenſätze, ſich zu Accorden auflöſende Diſſonanzen entwickelt, an ver- ſchiedene Stimmen, Töne vertheilt, ſie wechſelnd und wieder ſammelnd beſchäftigt, ſo daß hier die Bewegung pauſirt, zurückbleibt, während ſie dort fortſchreitet, dann das Zurückgebliebene nachrückt und mit dem Vor- geeilten ſich in einen Knoten, wie in ein ſtarkes, deutlich bindendes Gelenk zuſammenfaßt, dann eine neue Theilung mit neuen Diſſonanzen, Tren- nungen beginnt, um eine höhere, reichere Vereinigung vorzubereiten, und ſo fort, bis der Grundgedanke völlig erſchöpft im Schluße alle Töne und Tonreihen in Eins verſammelt. Nun ſtellen die bildenden Künſte zwar ein ruhendes Bild vor das Auge, allein wie in der Natur ſelbſt die Geſtalt nicht von Ewigkeit da war, ſondern ſich werdend baut, wie der Künſtler ſein räumliches Werk aus dem Nichts erſt heraufführt, ſo reißt der lebendig Schauende das fertige Werk gleichſam erſt wieder ein, um es neu aufzubauen. Die Formen, Farben, Lichter kommen in Fluß, thauen auf, um noch einmal zu gerinnen, ſie ſcheinen in dieſer belebten Strömung zu klingen, kurz es iſt Muſik darin. Nur Ein Beiſpiel geben wir, um nicht zu viel vorzugreifen, aus dieſem Gebiet, indem wir die ſchon mehrfach erwähnte Laokoongruppe noch einmal aufnehmen. Feuer- bach (D. vatic. Apollo S. 63) ſagt: „mit der Heftigkeit im Angeſichte des Laokoon contraſtirt der mildere Ausdruck ſeiner beiden Söhne. An ihnen bricht ſich der Schrei des Entſetzens, und die Gruppe wird ſtatt eines gellenden Uniſono der harmoniſche Dreiklang der griechiſchen Plaſtik.“ Wir fügen zu dieſen claſſiſchen Worten noch Folgendes (zum Theil nach Göthe „Ueber Laokoon“ W. B. 38): betrachtet man die Gruppe zuerſt mit aufſteigendem Blick, ſo hat man in den beiden Söhnen zunächſt den ſchon erwähnten milden Contraſt: der jüngere, tödtlich gebiſſen, ſinkt, den rechten Arm noch hilfeflehend erhoben, zuſammen, der ältere rechts iſt noch frei genug, um voll Schreck und Mitleid zum Vater aufzublicken: in dieſem iſt ein Ruhepunct gegeben, wir athmen einen Augenblick auf, es iſt ein Zuſchauer in der Gruppe ſelbſt, eine freiere, befreiende Mitte. Zu dem Vater ſtehen beide in einem doppelten Verhältniß: in dem des Contraſts, wie ihn Feuerbach bezeichnet, zugleich aber in dem der Vorbereitung; in ihm iſt nämlich vereinigt, was in ihnen getheilt iſt: eigene äußerſte Noth und Mitleiden, er wollte ſich ſelbſt und den Kindern helfen und erhält ſo eben den tödtlichen Biß in die Hüfte; zugleich Streben und Leiden, indem er mächtig arbeitend ſo eben erliegt. So iſt in ihm Alles, was die Gruppe bewegt, zur höchſten Spitze zuſam- mengefaßt, aber von dieſem Aeußerſten ſteigt Blick und Herz wieder abwärts zu den Söhnen, um in dem rührenden Anblick Milderung der Schrecken zu ſuchen. Dieſer Rhythmus iſt aber zugleich ein Rhythmus der Linien: der Vater erhebt den rechten Arm, wie der jüngere Sohn;
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Gegenſätze, ſich zu Accorden auflöſende Diſſonanzen entwickelt, an ver-
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beſchäftigt, ſo daß hier die Bewegung pauſirt, zurückbleibt, während ſie
dort fortſchreitet, dann das Zurückgebliebene nachrückt und mit dem Vor-
geeilten ſich in einen Knoten, wie in ein ſtarkes, deutlich bindendes Gelenk
zuſammenfaßt, dann eine neue Theilung mit neuen Diſſonanzen, Tren-
nungen beginnt, um eine höhere, reichere Vereinigung vorzubereiten, und
ſo fort, bis der Grundgedanke völlig erſchöpft im Schluße alle Töne und
Tonreihen in Eins verſammelt. Nun ſtellen die bildenden Künſte zwar
ein ruhendes Bild vor das Auge, allein wie in der Natur ſelbſt die
Geſtalt nicht von Ewigkeit da war, ſondern ſich werdend baut, wie der
Künſtler ſein räumliches Werk aus dem Nichts erſt heraufführt, ſo reißt
der lebendig Schauende das fertige Werk gleichſam erſt wieder ein, um
es neu aufzubauen. Die Formen, Farben, Lichter kommen in Fluß,
thauen auf, um noch einmal zu gerinnen, ſie ſcheinen in dieſer belebten
Strömung zu klingen, kurz es iſt Muſik darin. Nur Ein Beiſpiel geben
wir, um nicht zu viel vorzugreifen, aus dieſem Gebiet, indem wir die
ſchon mehrfach erwähnte Laokoongruppe noch einmal aufnehmen. Feuer-
bach (D. vatic. Apollo S. 63) ſagt: „mit der Heftigkeit im Angeſichte
des Laokoon contraſtirt der mildere Ausdruck ſeiner beiden Söhne. An
ihnen bricht ſich der Schrei des Entſetzens, und die Gruppe wird ſtatt
eines gellenden Uniſono der harmoniſche Dreiklang der griechiſchen Plaſtik.“
Wir fügen zu dieſen claſſiſchen Worten noch Folgendes (zum Theil nach
Göthe „Ueber Laokoon“ W. B. 38): betrachtet man die Gruppe zuerſt
mit aufſteigendem Blick, ſo hat man in den beiden Söhnen zunächſt den
ſchon erwähnten milden Contraſt: der jüngere, tödtlich gebiſſen, ſinkt, den
rechten Arm noch hilfeflehend erhoben, zuſammen, der ältere rechts iſt
noch frei genug, um voll Schreck und Mitleid zum Vater aufzublicken:
in dieſem iſt ein Ruhepunct gegeben, wir athmen einen Augenblick
auf, es iſt ein Zuſchauer in der Gruppe ſelbſt, eine freiere, befreiende
Mitte. Zu dem Vater ſtehen beide in einem doppelten Verhältniß: in
dem des Contraſts, wie ihn Feuerbach bezeichnet, zugleich aber in dem
der Vorbereitung; in ihm iſt nämlich vereinigt, was in ihnen
getheilt iſt: eigene äußerſte Noth und Mitleiden, er wollte ſich ſelbſt und
den Kindern helfen und erhält ſo eben den tödtlichen Biß in die Hüfte;
zugleich Streben und Leiden, indem er mächtig arbeitend ſo eben erliegt.
So iſt in ihm Alles, was die Gruppe bewegt, zur höchſten Spitze zuſam-
mengefaßt, aber von dieſem Aeußerſten ſteigt Blick und Herz wieder
abwärts zu den Söhnen, um in dem rührenden Anblick Milderung der
Schrecken zu ſuchen. Dieſer Rhythmus iſt aber zugleich ein Rhythmus
der Linien: der Vater erhebt den rechten Arm, wie der jüngere Sohn;
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Vischer, Friedrich Theodor von: Ästhetik oder Wissenschaft des Schönen. Bd. 3,1. Reutlingen u. a., 1851, S. 45. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/vischer_aesthetik0301_1851/57>, abgerufen am 16.02.2025.
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