hinweisen, an welchem ein Erker hervortritt, der dem Ganzen nicht nothwendig ist, aber doch als ein behagliches episodisches Ausblühen desselben erscheint; ihre wahre Bedeutung aber erhält die Frage natürlich erst bei höheren Kunstwerken, die reich sind an Gliedern, wie dem historischen Gemälde, größern Musikwerk, Epos (Roman), Drama. Hier sagt nun der §. von der Episode zuerst aus, daß sie zwar nicht innerlich nothwendig, aber doch an das Ganze angeknüpft sein muß. So führt in Göthes Faust die Scene mit dem Schüler das Bild von dem Charakter des Mephistopheles fort und durch dessen negative Kritik des Zustands der Wissenschaften mittelbar das Bild von Fausts revolutionärem Geist in diesem Gebiete; so erscheint die Scene in Auerbachs Keller als erste Einführung des Faust in die Welt, damit er sehe, "wie leicht sichs leben läßt," aber beides geschieht in demselben Drama auch auf andere Weise und in andern Formen, die Scenen wären entbehrlich und sind jedenfalls weiter ausgesponnen, als jene Zwecke erfordern; so zeigt der Krieg gegen die Sachsen im Nibelungenlied Sigfrid in seiner Größe und Unentbehrlichkeit, wird ein Motiv zu der schönen Scene zwischen Chriemhilde und dem Boten, auch wird das Verhältniß zu den Sachsen weiterhin als Vorwand bei der Einleitung von Sigfrids Ermordung benützt, aber jener Krieg ist im Verhältniß zu diesen Zwecken jedenfalls zu breit ausgeführt. Es ist also allerdings ein Ueberfluß vorhanden, und für diesen nimmt nun der §. zwei Rechtfertigungs-Gründe in Anspruch: zuerst den negativen eines Ruhe- puncts, der die zwei Momente einer Erholung von vorangegangener Erschütterung und einer Stärkung für neue in sich schließt. Jene zwei Auftritte in Göthes Faust sind solche Ruhepuncte, ein besonders klares Beispiel aber ist die wiederholte ausführliche Erzählung von den Garten- Anlagen im Wilhelm Meister; das Komische in Shakespeares strengen Tragödien (wie der Pförtner im Macbeth) ließe sich ebenfalls anführen, hängt aber mit Anderem zusammen, was nicht hieher gehört. Der positive Rechtfertigungsgrund aber ist die Erweiterung des Lebensbildes: so erweitern jene zwei Scenen in Göthes Faust das Bild des akademischen Elements, welchem Faust angehört, so können in einem historischen Gemälde genreartige Nebengruppen die allgemeine Lebensluft der Sitte und Zustände weiter entwickeln, auf deren Grundlagen die höhere Handlung sich bewegt. Dieß gilt nun im weitesten Sinne vom Epos, das die Welt und das Menschenleben in ihrer Breite mit ruhiger, Alles gleich warm beleuchtender Sonne bescheint; da diese Eigenschaft bei der Lehre von dieser Kunstform zu begründen und zu entwickeln ist, so laßen wir uns hier nicht weiter ein und beschäftigen uns auch mit den vielbesprochenen homerischen Episoden nicht. Natürlich fällt nun aber die ganze Berechtigung
hinweiſen, an welchem ein Erker hervortritt, der dem Ganzen nicht nothwendig iſt, aber doch als ein behagliches epiſodiſches Ausblühen deſſelben erſcheint; ihre wahre Bedeutung aber erhält die Frage natürlich erſt bei höheren Kunſtwerken, die reich ſind an Gliedern, wie dem hiſtoriſchen Gemälde, größern Muſikwerk, Epos (Roman), Drama. Hier ſagt nun der §. von der Epiſode zuerſt aus, daß ſie zwar nicht innerlich nothwendig, aber doch an das Ganze angeknüpft ſein muß. So führt in Göthes Fauſt die Scene mit dem Schüler das Bild von dem Charakter des Mephiſtopheles fort und durch deſſen negative Kritik des Zuſtands der Wiſſenſchaften mittelbar das Bild von Fauſts revolutionärem Geiſt in dieſem Gebiete; ſo erſcheint die Scene in Auerbachs Keller als erſte Einführung des Fauſt in die Welt, damit er ſehe, „wie leicht ſichs leben läßt,“ aber beides geſchieht in demſelben Drama auch auf andere Weiſe und in andern Formen, die Scenen wären entbehrlich und ſind jedenfalls weiter ausgeſponnen, als jene Zwecke erfordern; ſo zeigt der Krieg gegen die Sachſen im Nibelungenlied Sigfrid in ſeiner Größe und Unentbehrlichkeit, wird ein Motiv zu der ſchönen Scene zwiſchen Chriemhilde und dem Boten, auch wird das Verhältniß zu den Sachſen weiterhin als Vorwand bei der Einleitung von Sigfrids Ermordung benützt, aber jener Krieg iſt im Verhältniß zu dieſen Zwecken jedenfalls zu breit ausgeführt. Es iſt alſo allerdings ein Ueberfluß vorhanden, und für dieſen nimmt nun der §. zwei Rechtfertigungs-Gründe in Anſpruch: zuerſt den negativen eines Ruhe- puncts, der die zwei Momente einer Erholung von vorangegangener Erſchütterung und einer Stärkung für neue in ſich ſchließt. Jene zwei Auftritte in Göthes Fauſt ſind ſolche Ruhepuncte, ein beſonders klares Beiſpiel aber iſt die wiederholte ausführliche Erzählung von den Garten- Anlagen im Wilhelm Meiſter; das Komiſche in Shakespeares ſtrengen Tragödien (wie der Pförtner im Macbeth) ließe ſich ebenfalls anführen, hängt aber mit Anderem zuſammen, was nicht hieher gehört. Der poſitive Rechtfertigungsgrund aber iſt die Erweiterung des Lebensbildes: ſo erweitern jene zwei Scenen in Göthes Fauſt das Bild des akademiſchen Elements, welchem Fauſt angehört, ſo können in einem hiſtoriſchen Gemälde genreartige Nebengruppen die allgemeine Lebensluft der Sitte und Zuſtände weiter entwickeln, auf deren Grundlagen die höhere Handlung ſich bewegt. Dieß gilt nun im weiteſten Sinne vom Epos, das die Welt und das Menſchenleben in ihrer Breite mit ruhiger, Alles gleich warm beleuchtender Sonne beſcheint; da dieſe Eigenſchaft bei der Lehre von dieſer Kunſtform zu begründen und zu entwickeln iſt, ſo laßen wir uns hier nicht weiter ein und beſchäftigen uns auch mit den vielbeſprochenen homeriſchen Epiſoden nicht. Natürlich fällt nun aber die ganze Berechtigung
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hinweiſen, an welchem ein Erker hervortritt, der dem Ganzen nicht
nothwendig iſt, aber doch als ein behagliches epiſodiſches Ausblühen
deſſelben erſcheint; ihre wahre Bedeutung aber erhält die Frage
natürlich erſt bei höheren Kunſtwerken, die reich ſind an Gliedern,
wie dem hiſtoriſchen Gemälde, größern Muſikwerk, Epos (Roman),
Drama. Hier ſagt nun der §. von der Epiſode zuerſt aus, daß ſie
zwar nicht innerlich nothwendig, aber doch an das Ganze angeknüpft
ſein muß. So führt in Göthes Fauſt die Scene mit dem Schüler das
Bild von dem Charakter des Mephiſtopheles fort und durch deſſen
negative Kritik des Zuſtands der Wiſſenſchaften mittelbar das Bild von
Fauſts revolutionärem Geiſt in dieſem Gebiete; ſo erſcheint die Scene
in Auerbachs Keller als erſte Einführung des Fauſt in die Welt, damit
er ſehe, „wie leicht ſichs leben läßt,“ aber beides geſchieht in demſelben
Drama auch auf andere Weiſe und in andern Formen, die Scenen
wären entbehrlich und ſind jedenfalls weiter ausgeſponnen, als jene
Zwecke erfordern; ſo zeigt der Krieg gegen die Sachſen im Nibelungenlied
Sigfrid in ſeiner Größe und Unentbehrlichkeit, wird ein Motiv zu der
ſchönen Scene zwiſchen Chriemhilde und dem Boten, auch wird das
Verhältniß zu den Sachſen weiterhin als Vorwand bei der Einleitung
von Sigfrids Ermordung benützt, aber jener Krieg iſt im Verhältniß
zu dieſen Zwecken jedenfalls zu breit ausgeführt. Es iſt alſo allerdings
ein Ueberfluß vorhanden, und für dieſen nimmt nun der §. zwei
Rechtfertigungs-Gründe in Anſpruch: zuerſt den negativen eines Ruhe-
puncts, der die zwei Momente einer Erholung von vorangegangener
Erſchütterung und einer Stärkung für neue in ſich ſchließt. Jene zwei
Auftritte in Göthes Fauſt ſind ſolche Ruhepuncte, ein beſonders klares
Beiſpiel aber iſt die wiederholte ausführliche Erzählung von den Garten-
Anlagen im Wilhelm Meiſter; das Komiſche in Shakespeares ſtrengen
Tragödien (wie der Pförtner im Macbeth) ließe ſich ebenfalls anführen,
hängt aber mit Anderem zuſammen, was nicht hieher gehört. Der
poſitive Rechtfertigungsgrund aber iſt die Erweiterung des Lebensbildes:
ſo erweitern jene zwei Scenen in Göthes Fauſt das Bild des akademiſchen
Elements, welchem Fauſt angehört, ſo können in einem hiſtoriſchen Gemälde
genreartige Nebengruppen die allgemeine Lebensluft der Sitte und
Zuſtände weiter entwickeln, auf deren Grundlagen die höhere Handlung
ſich bewegt. Dieß gilt nun im weiteſten Sinne vom Epos, das die
Welt und das Menſchenleben in ihrer Breite mit ruhiger, Alles gleich
warm beleuchtender Sonne beſcheint; da dieſe Eigenſchaft bei der Lehre
von dieſer Kunſtform zu begründen und zu entwickeln iſt, ſo laßen wir
uns hier nicht weiter ein und beſchäftigen uns auch mit den vielbeſprochenen
homeriſchen Epiſoden nicht. Natürlich fällt nun aber die ganze Berechtigung
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Vischer, Friedrich Theodor von: Ästhetik oder Wissenschaft des Schönen. Bd. 3,1. Reutlingen u. a., 1851, S. 26. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/vischer_aesthetik0301_1851/38>, abgerufen am 16.07.2024.
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