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Vischer, Friedrich Theodor von: Ästhetik oder Wissenschaft des Schönen. Bd. 3,1. Reutlingen u. a., 1851.

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noch ein Mangel ist, und daraus folgt, daß in der Bestimmung dieses
Bilds als eines vollkommenen auch die Frage noch offen gelassen blieb,
ob jene Vollkommenheit mit Einem Acte abgeschloßen sei, oder weitere
Acte, die dort noch nicht aufzuführen waren, voraussetze. Diese Frage
beantwortet sich nun dahin, daß die Vollkommenheit des Bildes durch
die Ausführung selbst erst erzielt wird. Der Künstler behält sein Bild
auch in und nach der Ausführung als inneres, aber es wächst und
vollendet sich eben mit, in und unter der Ausführung, ja es gehört
ihm erst recht an, wenn er es von sich abgelöst hat: er sieht im
vollendeten Kunstwerk selbst erst sein Bild in der wahren Gestalt,
lernt es kennen und behält es innerlich für immer, auch wenn jenes
aus seinen Händen ist. Wir haben in §. 398 auch dem erst inneren
Bilde vollendete Objectivität zuerkannt, jedoch auch darauf bezieht sich
die Einschränkung: "zunächst," so daß mit dem Eintritt der Objectivität
in neuem Sinne (der äußern nämlich) auch die Klarheit der innern
Objectivität in ein neues Stadium muß treten können. Der Moment
nun, wo der Künstler sich sein inneres Bild aufs Neue als Object
gegenüberstellt, tritt ein mit dem Gedanken, es darzustellen zu wollen.
In diesem Augenblick sieht der Erzeuger sein inneres Product mit einem
durch die vorgestellten Augen, vor die es nun treten soll, vervielfältigten
Auge des Geistes an. Das Auge des vorausgesetzten Zuschauers fragt
sein Bild: genügst du mir? das Naturschöne fragt: hast du meine
Bestimmtheit, Lebendigkeit, Unbefangenheit? der spröde Stoff fragt:
kannst du mich mit meinen festen Bedingungen zwingen, dein Träger zu
werden? Diese bestimmten Fragen schlummerten noch, als das Bild
innerlich erzeugt wurde, auf sie war mit Bewußtseyn noch nicht Rücksicht
genommen: das Bild erscheint dieser Prüfung gegenüber noch blaß,
verschwommen, schwankend. Die Phantasie ist zwar mehr, als die
Einbildungskraft, theilt aber doch mit dieser das Schwanken der Umriße,
das im innerlich geistigen Elemente aller Inhalt annimmt (vergl. §. 388).
Die Ergänzung dieser Unreife nun wird eben in der Ausführung
vollbracht, die innere Zeitigung geht ganz Hand in Hand mit der äußern
Darstellung. Dabei sind die drei bisher aufgeführten Rücksichten ganz
gleichzeitig in Thätigkeit und das Schwierige ist nur, dieß gleichzeitige
Wirken in das unvermeidliche Nacheinander der Darstellung durch das
Wort umzusetzen. Voraussetzungen und Nachholungen sind dabei natürlich
nicht zu umgehen.


noch ein Mangel iſt, und daraus folgt, daß in der Beſtimmung dieſes
Bilds als eines vollkommenen auch die Frage noch offen gelaſſen blieb,
ob jene Vollkommenheit mit Einem Acte abgeſchloßen ſei, oder weitere
Acte, die dort noch nicht aufzuführen waren, vorausſetze. Dieſe Frage
beantwortet ſich nun dahin, daß die Vollkommenheit des Bildes durch
die Ausführung ſelbſt erſt erzielt wird. Der Künſtler behält ſein Bild
auch in und nach der Ausführung als inneres, aber es wächst und
vollendet ſich eben mit, in und unter der Ausführung, ja es gehört
ihm erſt recht an, wenn er es von ſich abgelöst hat: er ſieht im
vollendeten Kunſtwerk ſelbſt erſt ſein Bild in der wahren Geſtalt,
lernt es kennen und behält es innerlich für immer, auch wenn jenes
aus ſeinen Händen iſt. Wir haben in §. 398 auch dem erſt inneren
Bilde vollendete Objectivität zuerkannt, jedoch auch darauf bezieht ſich
die Einſchränkung: „zunächſt,“ ſo daß mit dem Eintritt der Objectivität
in neuem Sinne (der äußern nämlich) auch die Klarheit der innern
Objectivität in ein neues Stadium muß treten können. Der Moment
nun, wo der Künſtler ſich ſein inneres Bild aufs Neue als Object
gegenüberſtellt, tritt ein mit dem Gedanken, es darzuſtellen zu wollen.
In dieſem Augenblick ſieht der Erzeuger ſein inneres Product mit einem
durch die vorgeſtellten Augen, vor die es nun treten ſoll, vervielfältigten
Auge des Geiſtes an. Das Auge des vorausgeſetzten Zuſchauers fragt
ſein Bild: genügſt du mir? das Naturſchöne fragt: haſt du meine
Beſtimmtheit, Lebendigkeit, Unbefangenheit? der ſpröde Stoff fragt:
kannſt du mich mit meinen feſten Bedingungen zwingen, dein Träger zu
werden? Dieſe beſtimmten Fragen ſchlummerten noch, als das Bild
innerlich erzeugt wurde, auf ſie war mit Bewußtſeyn noch nicht Rückſicht
genommen: das Bild erſcheint dieſer Prüfung gegenüber noch blaß,
verſchwommen, ſchwankend. Die Phantaſie iſt zwar mehr, als die
Einbildungskraft, theilt aber doch mit dieſer das Schwanken der Umriße,
das im innerlich geiſtigen Elemente aller Inhalt annimmt (vergl. §. 388).
Die Ergänzung dieſer Unreife nun wird eben in der Ausführung
vollbracht, die innere Zeitigung geht ganz Hand in Hand mit der äußern
Darſtellung. Dabei ſind die drei bisher aufgeführten Rückſichten ganz
gleichzeitig in Thätigkeit und das Schwierige iſt nur, dieß gleichzeitige
Wirken in das unvermeidliche Nacheinander der Darſtellung durch das
Wort umzuſetzen. Vorausſetzungen und Nachholungen ſind dabei natürlich
nicht zu umgehen.


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[15/0027] noch ein Mangel iſt, und daraus folgt, daß in der Beſtimmung dieſes Bilds als eines vollkommenen auch die Frage noch offen gelaſſen blieb, ob jene Vollkommenheit mit Einem Acte abgeſchloßen ſei, oder weitere Acte, die dort noch nicht aufzuführen waren, vorausſetze. Dieſe Frage beantwortet ſich nun dahin, daß die Vollkommenheit des Bildes durch die Ausführung ſelbſt erſt erzielt wird. Der Künſtler behält ſein Bild auch in und nach der Ausführung als inneres, aber es wächst und vollendet ſich eben mit, in und unter der Ausführung, ja es gehört ihm erſt recht an, wenn er es von ſich abgelöst hat: er ſieht im vollendeten Kunſtwerk ſelbſt erſt ſein Bild in der wahren Geſtalt, lernt es kennen und behält es innerlich für immer, auch wenn jenes aus ſeinen Händen iſt. Wir haben in §. 398 auch dem erſt inneren Bilde vollendete Objectivität zuerkannt, jedoch auch darauf bezieht ſich die Einſchränkung: „zunächſt,“ ſo daß mit dem Eintritt der Objectivität in neuem Sinne (der äußern nämlich) auch die Klarheit der innern Objectivität in ein neues Stadium muß treten können. Der Moment nun, wo der Künſtler ſich ſein inneres Bild aufs Neue als Object gegenüberſtellt, tritt ein mit dem Gedanken, es darzuſtellen zu wollen. In dieſem Augenblick ſieht der Erzeuger ſein inneres Product mit einem durch die vorgeſtellten Augen, vor die es nun treten ſoll, vervielfältigten Auge des Geiſtes an. Das Auge des vorausgeſetzten Zuſchauers fragt ſein Bild: genügſt du mir? das Naturſchöne fragt: haſt du meine Beſtimmtheit, Lebendigkeit, Unbefangenheit? der ſpröde Stoff fragt: kannſt du mich mit meinen feſten Bedingungen zwingen, dein Träger zu werden? Dieſe beſtimmten Fragen ſchlummerten noch, als das Bild innerlich erzeugt wurde, auf ſie war mit Bewußtſeyn noch nicht Rückſicht genommen: das Bild erſcheint dieſer Prüfung gegenüber noch blaß, verſchwommen, ſchwankend. Die Phantaſie iſt zwar mehr, als die Einbildungskraft, theilt aber doch mit dieſer das Schwanken der Umriße, das im innerlich geiſtigen Elemente aller Inhalt annimmt (vergl. §. 388). Die Ergänzung dieſer Unreife nun wird eben in der Ausführung vollbracht, die innere Zeitigung geht ganz Hand in Hand mit der äußern Darſtellung. Dabei ſind die drei bisher aufgeführten Rückſichten ganz gleichzeitig in Thätigkeit und das Schwierige iſt nur, dieß gleichzeitige Wirken in das unvermeidliche Nacheinander der Darſtellung durch das Wort umzuſetzen. Vorausſetzungen und Nachholungen ſind dabei natürlich nicht zu umgehen.

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Zitationshilfe: Vischer, Friedrich Theodor von: Ästhetik oder Wissenschaft des Schönen. Bd. 3,1. Reutlingen u. a., 1851, S. 15. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/vischer_aesthetik0301_1851/27>, abgerufen am 29.03.2024.