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Vischer, Friedrich Theodor von: Ästhetik oder Wissenschaft des Schönen. Bd. 3,1. Reutlingen u. a., 1851.

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Menschen gebe, sondern die That (S. 112. 112.), und definirt die Kunst
als die freie, aus der Selbstthätigkeit des Geistes hervorgehende Wieder-
holung dessen auf ideale Weise, was die Natur auf reale Weise vor
unsern Augen thut (S. 237). Dieß ist eine fast unbegreifliche Unter-
schätzung der Praxis der Kunst. Den einfachsten Anhalt der Widerlegung
bietet, was er von der Thätigkeit des Bildhauers sagt: er stelle seine
Statue dar in weichem Thon, die Ausführung in hartem Stein sei nicht
sein Werk, sondern mechanische Nachahmung der Arbeiter; das Modell
aber sei nur Nachahmung des innern Bildes und in einem Stoffe, der gar
nicht bleiben könne, sondern blos den Uebergang vermittle zwischen dem
Urbild und seiner mechanischen Ausführung (S. 57). Allein der Bild-
hauer, der die Behandlung des Steines nicht selbst gelernt hat, kann
auch sein Modell nicht auf die Ausführung im Stein berechnen, ja
überhaupt kein plastisch geschautes Bild innerlich entwerfen; das Modelli-
ren selbst ist eine Fertigkeit, wobei Hand und Auge eine vom innern
Bilde bestimmte Fertigkeit entwickeln, und in der letzten Ausführung im
Marmor muß allerdings der Künstler selbst Hand anlegen, denn nur aus
dem Groben läßt er sich den Block durch den Arbeiter hauen. Nun ist
zwar zu unterscheiden zwischen einem lernbaren und nicht lernbaren Theile
der Technik, aber beide sind mit dem Innern der Phantasie durch ein
unlösbares Band vereinigt. Von der lernbaren Technik nämlich muß
auch das Talent, das den Uebergang vom Innern zur äußern Darstel-
lung nicht findet, das Nothwendigste sich angeeignet haben, sonst kann es
überhaupt kein bestimmtes, einer bestimmten Kunst angehöriges Bild
innerlich erzeugen; zur freien und originalen Meisterschaft in der Technik
aber muß es der gebracht haben, der sein inneres Bild wirklich soll dar-
stellen können, und nur dieser, nur wer selber machen kann, heißt ein
Künstler. Das innere Bild wird sich uns in den nächsten §§. als völlig
unreif zeigen vor der Ausführung. Raphael ohne Hände ist gar nicht
zu denken, denn hätte er nie wirklich gemalt, so hätte auch sein inneres
Malen sich nicht entwickeln, er hätte nicht malerisch erfinden können, und
hätte er nicht meisterhaft gemalt, so hätte er nicht malerisch genial erfin-
den können. Wir haben zwar aufgestellt, daß die Technik vom Innern
aus bestimmt sey, allein ebensowahr ist, daß die Bewegung von außen
nach innen geht, d. h., daß in und mit der Ausführung erst das innere
Bild vollendet wird; es ist eine untrennbare Wechselwirkung. Schleier-
macher erkennt an, daß der Künstler an seinem innern Werke selbst zu
ändern durch die äußere Darstellung bestimmt werde, setzt jedoch hinzu:
"freilich aber ist dieß eine Unvollkommenheit, denn die wahre Vollkommen-
heit ist doch offenbar diese, daß der Künstler sein Urbild vollkommen in
sich trage, ehe er äußerlich thätig ist" (S. 59). Dieß ist, auf alle

Menſchen gebe, ſondern die That (S. 112. 112.), und definirt die Kunſt
als die freie, aus der Selbſtthätigkeit des Geiſtes hervorgehende Wieder-
holung deſſen auf ideale Weiſe, was die Natur auf reale Weiſe vor
unſern Augen thut (S. 237). Dieß iſt eine faſt unbegreifliche Unter-
ſchätzung der Praxis der Kunſt. Den einfachſten Anhalt der Widerlegung
bietet, was er von der Thätigkeit des Bildhauers ſagt: er ſtelle ſeine
Statue dar in weichem Thon, die Ausführung in hartem Stein ſei nicht
ſein Werk, ſondern mechaniſche Nachahmung der Arbeiter; das Modell
aber ſei nur Nachahmung des innern Bildes und in einem Stoffe, der gar
nicht bleiben könne, ſondern blos den Uebergang vermittle zwiſchen dem
Urbild und ſeiner mechaniſchen Ausführung (S. 57). Allein der Bild-
hauer, der die Behandlung des Steines nicht ſelbſt gelernt hat, kann
auch ſein Modell nicht auf die Ausführung im Stein berechnen, ja
überhaupt kein plaſtiſch geſchautes Bild innerlich entwerfen; das Modelli-
ren ſelbſt iſt eine Fertigkeit, wobei Hand und Auge eine vom innern
Bilde beſtimmte Fertigkeit entwickeln, und in der letzten Ausführung im
Marmor muß allerdings der Künſtler ſelbſt Hand anlegen, denn nur aus
dem Groben läßt er ſich den Block durch den Arbeiter hauen. Nun iſt
zwar zu unterſcheiden zwiſchen einem lernbaren und nicht lernbaren Theile
der Technik, aber beide ſind mit dem Innern der Phantaſie durch ein
unlösbares Band vereinigt. Von der lernbaren Technik nämlich muß
auch das Talent, das den Uebergang vom Innern zur äußern Darſtel-
lung nicht findet, das Nothwendigſte ſich angeeignet haben, ſonſt kann es
überhaupt kein beſtimmtes, einer beſtimmten Kunſt angehöriges Bild
innerlich erzeugen; zur freien und originalen Meiſterſchaft in der Technik
aber muß es der gebracht haben, der ſein inneres Bild wirklich ſoll dar-
ſtellen können, und nur dieſer, nur wer ſelber machen kann, heißt ein
Künſtler. Das innere Bild wird ſich uns in den nächſten §§. als völlig
unreif zeigen vor der Ausführung. Raphael ohne Hände iſt gar nicht
zu denken, denn hätte er nie wirklich gemalt, ſo hätte auch ſein inneres
Malen ſich nicht entwickeln, er hätte nicht maleriſch erfinden können, und
hätte er nicht meiſterhaft gemalt, ſo hätte er nicht maleriſch genial erfin-
den können. Wir haben zwar aufgeſtellt, daß die Technik vom Innern
aus beſtimmt ſey, allein ebenſowahr iſt, daß die Bewegung von außen
nach innen geht, d. h., daß in und mit der Ausführung erſt das innere
Bild vollendet wird; es iſt eine untrennbare Wechſelwirkung. Schleier-
macher erkennt an, daß der Künſtler an ſeinem innern Werke ſelbſt zu
ändern durch die äußere Darſtellung beſtimmt werde, ſetzt jedoch hinzu:
„freilich aber iſt dieß eine Unvollkommenheit, denn die wahre Vollkommen-
heit iſt doch offenbar dieſe, daß der Künſtler ſein Urbild vollkommen in
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[13/0025] Menſchen gebe, ſondern die That (S. 112. 112.), und definirt die Kunſt als die freie, aus der Selbſtthätigkeit des Geiſtes hervorgehende Wieder- holung deſſen auf ideale Weiſe, was die Natur auf reale Weiſe vor unſern Augen thut (S. 237). Dieß iſt eine faſt unbegreifliche Unter- ſchätzung der Praxis der Kunſt. Den einfachſten Anhalt der Widerlegung bietet, was er von der Thätigkeit des Bildhauers ſagt: er ſtelle ſeine Statue dar in weichem Thon, die Ausführung in hartem Stein ſei nicht ſein Werk, ſondern mechaniſche Nachahmung der Arbeiter; das Modell aber ſei nur Nachahmung des innern Bildes und in einem Stoffe, der gar nicht bleiben könne, ſondern blos den Uebergang vermittle zwiſchen dem Urbild und ſeiner mechaniſchen Ausführung (S. 57). Allein der Bild- hauer, der die Behandlung des Steines nicht ſelbſt gelernt hat, kann auch ſein Modell nicht auf die Ausführung im Stein berechnen, ja überhaupt kein plaſtiſch geſchautes Bild innerlich entwerfen; das Modelli- ren ſelbſt iſt eine Fertigkeit, wobei Hand und Auge eine vom innern Bilde beſtimmte Fertigkeit entwickeln, und in der letzten Ausführung im Marmor muß allerdings der Künſtler ſelbſt Hand anlegen, denn nur aus dem Groben läßt er ſich den Block durch den Arbeiter hauen. Nun iſt zwar zu unterſcheiden zwiſchen einem lernbaren und nicht lernbaren Theile der Technik, aber beide ſind mit dem Innern der Phantaſie durch ein unlösbares Band vereinigt. Von der lernbaren Technik nämlich muß auch das Talent, das den Uebergang vom Innern zur äußern Darſtel- lung nicht findet, das Nothwendigſte ſich angeeignet haben, ſonſt kann es überhaupt kein beſtimmtes, einer beſtimmten Kunſt angehöriges Bild innerlich erzeugen; zur freien und originalen Meiſterſchaft in der Technik aber muß es der gebracht haben, der ſein inneres Bild wirklich ſoll dar- ſtellen können, und nur dieſer, nur wer ſelber machen kann, heißt ein Künſtler. Das innere Bild wird ſich uns in den nächſten §§. als völlig unreif zeigen vor der Ausführung. Raphael ohne Hände iſt gar nicht zu denken, denn hätte er nie wirklich gemalt, ſo hätte auch ſein inneres Malen ſich nicht entwickeln, er hätte nicht maleriſch erfinden können, und hätte er nicht meiſterhaft gemalt, ſo hätte er nicht maleriſch genial erfin- den können. Wir haben zwar aufgeſtellt, daß die Technik vom Innern aus beſtimmt ſey, allein ebenſowahr iſt, daß die Bewegung von außen nach innen geht, d. h., daß in und mit der Ausführung erſt das innere Bild vollendet wird; es iſt eine untrennbare Wechſelwirkung. Schleier- macher erkennt an, daß der Künſtler an ſeinem innern Werke ſelbſt zu ändern durch die äußere Darſtellung beſtimmt werde, ſetzt jedoch hinzu: „freilich aber iſt dieß eine Unvollkommenheit, denn die wahre Vollkommen- heit iſt doch offenbar dieſe, daß der Künſtler ſein Urbild vollkommen in ſich trage, ehe er äußerlich thätig iſt“ (S. 59). Dieß iſt, auf alle

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Zitationshilfe: Vischer, Friedrich Theodor von: Ästhetik oder Wissenschaft des Schönen. Bd. 3,1. Reutlingen u. a., 1851, S. 13. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/vischer_aesthetik0301_1851/25>, abgerufen am 19.04.2024.