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Vischer, Friedrich Theodor von: Ästhetik oder Wissenschaft des Schönen. Bd. 3,1. Reutlingen u. a., 1851.

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sind eine Bestätigung der einfachen Wahrheit, daß die Künste und ihre Zweige
nur die Wirklichkeit der Einen Kunst, der Kunst an sich sind. Dieselbe gibt
sich aber auch der unmittelbaren Erfahrung in der Erscheinung kund, daß in
der Wirkung jeder einzelnen Kunst etwas von der Wirkung der andern ist,
wobei gewisse besondere Wahlverwandtschaften zwischen einzelnen Künsten zum
Vorschein kommen, welche verschiedene abweichende Eintheilungen des Systems
der Künste zu rechtfertigen scheinen.

Es handelt sich nicht um einen Beweis für den Satz, daß die Künste
die Strahlen einer Sonne, die Aeste Eines Baumes sind, denn wir kom-
men ja von dieser Einen Kunst, der Kunst an sich her und haben in der
Einheit die Vielheit werden sehen, sondern nur von Erscheinungen, die
ihn erproben. In unserem Gang vermittelt sich das besondere Hervorheben
dieses Satzes zunächst wissenschaftlich durch das, worauf der §. zurückweist;
schon davon fällt aber das zweite Moment, nämlich die historische Ueber-
tragung des Geistes einer Kunst auf die andere (z. B. malerische Be-
handlung der Plastik im Mittelalter) auch unmittelbar in die Augen. Die
eigentliche Probe für jene Wahrheit aber ist die Wirkung der Künste in
der Empfindung: sie zeigen sich verwandt, wie die Ergänzungsfarben,
wie Töne mit Figuren und Farben, ja das Letztere ist schon nicht mehr
bloßes Beispiel. Jeder Kunst fehlt etwas, weil sie nur ein Theil des
Ganzen ist; wie daher das Auge zum Grünen das fehlende Roth selbst
erzeugt, so klingt im Eindrucke des der einzelnen Kunst angehörigen Werks
die Wirkung der andern mit an. Dieß zunächst namentlich in dem Sinne,
daß gerade die vollen Gegensätze einander wechselseitig hervorrufen. Die
Werke der bildenden Kunst, denen die wirkliche Bewegung fehlt, scheinen
zu tönen, es ist eine fühlbare Musik in ihnen, dagegen begleitet die
Phantasie die Töne der Musik mit innerlich aufsteigenden schwebenden
Gestalten. Hier liegt ein tiefes Geheimniß: der Ton erscheint nicht bloß
als die punctuelle Reduction, nicht mehr als Verklingen der Gestalt, son-
dern als die Gestaltenerzeugende Kraft selbst, als der implicirte Keim der
Gestalt (vergl. Deutinger Kunstlehre S. 174). In der Poesie dagegen
ist der Gegensatz der objectiven und subjectiven Kunst an sich schon ver-
einigt, sie bringt Musik und Gestalt mit eigener Hand ausgebildet der
Phantasie, die aber im inneren Weben das empfangene Bild schwebend
und tragend fortsetzt, entgegen. Diese Wirkungen hebt auch Schiller
hervor (Ueber d. ästh. Erz. d. Menschen. Br. 22). Dagegen treten ja
alle übrigen Künste auch der Poesie als der absoluten Kunst gegenüber
(§. 534) und nun klingt mit ihnen allen die Poesie an, so daß man das
Schöpferische in ihnen nicht schlechthin schön, sondern unwillkührlich über-
tragend poetisch nennt. Aus diesem Wechselverhältniß im Großen, diesem

Vischer's Aesthetik. 3. Band. 11

ſind eine Beſtätigung der einfachen Wahrheit, daß die Künſte und ihre Zweige
nur die Wirklichkeit der Einen Kunſt, der Kunſt an ſich ſind. Dieſelbe gibt
ſich aber auch der unmittelbaren Erfahrung in der Erſcheinung kund, daß in
der Wirkung jeder einzelnen Kunſt etwas von der Wirkung der andern iſt,
wobei gewiſſe beſondere Wahlverwandtſchaften zwiſchen einzelnen Künſten zum
Vorſchein kommen, welche verſchiedene abweichende Eintheilungen des Syſtems
der Künſte zu rechtfertigen ſcheinen.

Es handelt ſich nicht um einen Beweis für den Satz, daß die Künſte
die Strahlen einer Sonne, die Aeſte Eines Baumes ſind, denn wir kom-
men ja von dieſer Einen Kunſt, der Kunſt an ſich her und haben in der
Einheit die Vielheit werden ſehen, ſondern nur von Erſcheinungen, die
ihn erproben. In unſerem Gang vermittelt ſich das beſondere Hervorheben
dieſes Satzes zunächſt wiſſenſchaftlich durch das, worauf der §. zurückweist;
ſchon davon fällt aber das zweite Moment, nämlich die hiſtoriſche Ueber-
tragung des Geiſtes einer Kunſt auf die andere (z. B. maleriſche Be-
handlung der Plaſtik im Mittelalter) auch unmittelbar in die Augen. Die
eigentliche Probe für jene Wahrheit aber iſt die Wirkung der Künſte in
der Empfindung: ſie zeigen ſich verwandt, wie die Ergänzungsfarben,
wie Töne mit Figuren und Farben, ja das Letztere iſt ſchon nicht mehr
bloßes Beiſpiel. Jeder Kunſt fehlt etwas, weil ſie nur ein Theil des
Ganzen iſt; wie daher das Auge zum Grünen das fehlende Roth ſelbſt
erzeugt, ſo klingt im Eindrucke des der einzelnen Kunſt angehörigen Werks
die Wirkung der andern mit an. Dieß zunächſt namentlich in dem Sinne,
daß gerade die vollen Gegenſätze einander wechſelſeitig hervorrufen. Die
Werke der bildenden Kunſt, denen die wirkliche Bewegung fehlt, ſcheinen
zu tönen, es iſt eine fühlbare Muſik in ihnen, dagegen begleitet die
Phantaſie die Töne der Muſik mit innerlich aufſteigenden ſchwebenden
Geſtalten. Hier liegt ein tiefes Geheimniß: der Ton erſcheint nicht bloß
als die punctuelle Reduction, nicht mehr als Verklingen der Geſtalt, ſon-
dern als die Geſtaltenerzeugende Kraft ſelbſt, als der implicirte Keim der
Geſtalt (vergl. Deutinger Kunſtlehre S. 174). In der Poeſie dagegen
iſt der Gegenſatz der objectiven und ſubjectiven Kunſt an ſich ſchon ver-
einigt, ſie bringt Muſik und Geſtalt mit eigener Hand ausgebildet der
Phantaſie, die aber im inneren Weben das empfangene Bild ſchwebend
und tragend fortſetzt, entgegen. Dieſe Wirkungen hebt auch Schiller
hervor (Ueber d. äſth. Erz. d. Menſchen. Br. 22). Dagegen treten ja
alle übrigen Künſte auch der Poeſie als der abſoluten Kunſt gegenüber
(§. 534) und nun klingt mit ihnen allen die Poeſie an, ſo daß man das
Schöpferiſche in ihnen nicht ſchlechthin ſchön, ſondern unwillkührlich über-
tragend poetiſch nennt. Aus dieſem Wechſelverhältniß im Großen, dieſem

Viſcher’s Aeſthetik. 3. Band. 11
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[161/0173] ſind eine Beſtätigung der einfachen Wahrheit, daß die Künſte und ihre Zweige nur die Wirklichkeit der Einen Kunſt, der Kunſt an ſich ſind. Dieſelbe gibt ſich aber auch der unmittelbaren Erfahrung in der Erſcheinung kund, daß in der Wirkung jeder einzelnen Kunſt etwas von der Wirkung der andern iſt, wobei gewiſſe beſondere Wahlverwandtſchaften zwiſchen einzelnen Künſten zum Vorſchein kommen, welche verſchiedene abweichende Eintheilungen des Syſtems der Künſte zu rechtfertigen ſcheinen. Es handelt ſich nicht um einen Beweis für den Satz, daß die Künſte die Strahlen einer Sonne, die Aeſte Eines Baumes ſind, denn wir kom- men ja von dieſer Einen Kunſt, der Kunſt an ſich her und haben in der Einheit die Vielheit werden ſehen, ſondern nur von Erſcheinungen, die ihn erproben. In unſerem Gang vermittelt ſich das beſondere Hervorheben dieſes Satzes zunächſt wiſſenſchaftlich durch das, worauf der §. zurückweist; ſchon davon fällt aber das zweite Moment, nämlich die hiſtoriſche Ueber- tragung des Geiſtes einer Kunſt auf die andere (z. B. maleriſche Be- handlung der Plaſtik im Mittelalter) auch unmittelbar in die Augen. Die eigentliche Probe für jene Wahrheit aber iſt die Wirkung der Künſte in der Empfindung: ſie zeigen ſich verwandt, wie die Ergänzungsfarben, wie Töne mit Figuren und Farben, ja das Letztere iſt ſchon nicht mehr bloßes Beiſpiel. Jeder Kunſt fehlt etwas, weil ſie nur ein Theil des Ganzen iſt; wie daher das Auge zum Grünen das fehlende Roth ſelbſt erzeugt, ſo klingt im Eindrucke des der einzelnen Kunſt angehörigen Werks die Wirkung der andern mit an. Dieß zunächſt namentlich in dem Sinne, daß gerade die vollen Gegenſätze einander wechſelſeitig hervorrufen. Die Werke der bildenden Kunſt, denen die wirkliche Bewegung fehlt, ſcheinen zu tönen, es iſt eine fühlbare Muſik in ihnen, dagegen begleitet die Phantaſie die Töne der Muſik mit innerlich aufſteigenden ſchwebenden Geſtalten. Hier liegt ein tiefes Geheimniß: der Ton erſcheint nicht bloß als die punctuelle Reduction, nicht mehr als Verklingen der Geſtalt, ſon- dern als die Geſtaltenerzeugende Kraft ſelbſt, als der implicirte Keim der Geſtalt (vergl. Deutinger Kunſtlehre S. 174). In der Poeſie dagegen iſt der Gegenſatz der objectiven und ſubjectiven Kunſt an ſich ſchon ver- einigt, ſie bringt Muſik und Geſtalt mit eigener Hand ausgebildet der Phantaſie, die aber im inneren Weben das empfangene Bild ſchwebend und tragend fortſetzt, entgegen. Dieſe Wirkungen hebt auch Schiller hervor (Ueber d. äſth. Erz. d. Menſchen. Br. 22). Dagegen treten ja alle übrigen Künſte auch der Poeſie als der abſoluten Kunſt gegenüber (§. 534) und nun klingt mit ihnen allen die Poeſie an, ſo daß man das Schöpferiſche in ihnen nicht ſchlechthin ſchön, ſondern unwillkührlich über- tragend poetiſch nennt. Aus dieſem Wechſelverhältniß im Großen, dieſem Viſcher’s Aeſthetik. 3. Band. 11

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Zitationshilfe: Vischer, Friedrich Theodor von: Ästhetik oder Wissenschaft des Schönen. Bd. 3,1. Reutlingen u. a., 1851, S. 161. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/vischer_aesthetik0301_1851/173>, abgerufen am 23.11.2024.