Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Vischer, Friedrich Theodor von: Ästhetik oder Wissenschaft des Schönen. Bd. 3,1. Reutlingen u. a., 1851.

Bild:
<< vorherige Seite

Verschiebung der gemeinen Logik, ein Schwanken gewöhnlicher Eintheilung;
denn entsprechend den Arten der Poesie wäre die Theilung der bildenden
Kunst in Baukunst, Plastik, Malerei eine Theilung in bloße Zweige, in
Betracht der spezifischen Schärfe ihres Unterschieds aber ist sie eine Thei-
lung in selbständige Künste, und umgekehrt verhält es sich mit den Arten
der Poesie: diese treten in solcher Bestimmtheit auf, daß sie wie selbstständige
Künste analog jenen Arten der bildenden Kunst erscheinen, als verschiedene
Formen einer so geistig durchsichtigen Kunst aber, wie die Poesie ist, erscheinen
sie eben als bloße Zweige.

b.
Die Unter-Eintheilung.
§. 539.

Das Hervortreten von drei Künsten in der bildenden Kunst und die
klare Scheidung der Dichtkunst in drei Hauptzweige ist im tiefsten Grunde
durch jenes allgemeine Gesetz (§. 537) bedingt; wie aber dieses überhaupt durch
Vermittlung der individuellen Organisation der Phantasie (§. 535) in Wir-
kung tritt, so ist auch jene Theilung der bildenden Kunst und Poesie
vermittelt durch ein Ineinanderwirken der einen und der andern Art dieser
Organisation (§. 404). Ebendieser gegenseitige Uebertritt der Arten, im tieferen
Sinne immer durch jenes das ganze System beherrschende Gesetz bedingt, ist
aber auch der erste Grund der Entstehung untergeordneter Zweige in
allen Künsten.

Schon der Schlußsatz des §. 404 hat von der Verbindung der dort
aufgeführten Arten, zunächst unter sich, gesprochen und die Anmerkung hat
hiezu einzelne Andeutungen gegeben. Es hätte nun schon unter a. gezeigt
werden können, wie die Künste, die in der bildenden Kunstform eine Gruppe
bilden, und die großen Zweige der Dichtkunst ebenso sichtbar aus solchen
Verbindungen hervorgehen, als sie tiefer im Gesetze des Fortgangs vom
Objectiven zum Subjectiven und Subjectiv-Objectiven begründet sind.
Dieß geschieht aber erst hier, weil in ununterbrochener Reihe derselbe
Grund auch als eines der Motive der Entstehung der untergeordneten
Zweige auftritt; wie wir denn zum vorh. §. gezeigt haben, daß die Künste
in der bildenden Kunst-Form und die Hauptformen der Poesie eben-
sowohl als Gattungen wie als Arten (Zweige) gefaßt werden können.
So erscheint nun zunächst jedenfalls die Malerei als ein gewisser Ueber-
tritt der empfindenden und dichtenden Phantasie in die bildende, von der

Verſchiebung der gemeinen Logik, ein Schwanken gewöhnlicher Eintheilung;
denn entſprechend den Arten der Poeſie wäre die Theilung der bildenden
Kunſt in Baukunſt, Plaſtik, Malerei eine Theilung in bloße Zweige, in
Betracht der ſpezifiſchen Schärfe ihres Unterſchieds aber iſt ſie eine Thei-
lung in ſelbſtändige Künſte, und umgekehrt verhält es ſich mit den Arten
der Poeſie: dieſe treten in ſolcher Beſtimmtheit auf, daß ſie wie ſelbſtſtändige
Künſte analog jenen Arten der bildenden Kunſt erſcheinen, als verſchiedene
Formen einer ſo geiſtig durchſichtigen Kunſt aber, wie die Poeſie iſt, erſcheinen
ſie eben als bloße Zweige.

β.
Die Unter-Eintheilung.
§. 539.

Das Hervortreten von drei Künſten in der bildenden Kunſt und die
klare Scheidung der Dichtkunſt in drei Hauptzweige iſt im tiefſten Grunde
durch jenes allgemeine Geſetz (§. 537) bedingt; wie aber dieſes überhaupt durch
Vermittlung der individuellen Organiſation der Phantaſie (§. 535) in Wir-
kung tritt, ſo iſt auch jene Theilung der bildenden Kunſt und Poeſie
vermittelt durch ein Ineinanderwirken der einen und der andern Art dieſer
Organiſation (§. 404). Ebendieſer gegenſeitige Uebertritt der Arten, im tieferen
Sinne immer durch jenes das ganze Syſtem beherrſchende Geſetz bedingt, iſt
aber auch der erſte Grund der Entſtehung untergeordneter Zweige in
allen Künſten.

Schon der Schlußſatz des §. 404 hat von der Verbindung der dort
aufgeführten Arten, zunächſt unter ſich, geſprochen und die Anmerkung hat
hiezu einzelne Andeutungen gegeben. Es hätte nun ſchon unter α. gezeigt
werden können, wie die Künſte, die in der bildenden Kunſtform eine Gruppe
bilden, und die großen Zweige der Dichtkunſt ebenſo ſichtbar aus ſolchen
Verbindungen hervorgehen, als ſie tiefer im Geſetze des Fortgangs vom
Objectiven zum Subjectiven und Subjectiv-Objectiven begründet ſind.
Dieß geſchieht aber erſt hier, weil in ununterbrochener Reihe derſelbe
Grund auch als eines der Motive der Entſtehung der untergeordneten
Zweige auftritt; wie wir denn zum vorh. §. gezeigt haben, daß die Künſte
in der bildenden Kunſt-Form und die Hauptformen der Poeſie eben-
ſowohl als Gattungen wie als Arten (Zweige) gefaßt werden können.
So erſcheint nun zunächſt jedenfalls die Malerei als ein gewiſſer Ueber-
tritt der empfindenden und dichtenden Phantaſie in die bildende, von der

<TEI>
  <text>
    <body>
      <div n="1">
        <div n="2">
          <div n="3">
            <div n="4">
              <div n="5">
                <div n="6">
                  <p> <hi rendition="#et"><pb facs="#f0165" n="153"/>
Ver&#x017F;chiebung der gemeinen Logik, ein Schwanken gewöhnlicher Eintheilung;<lb/>
denn ent&#x017F;prechend den Arten der Poe&#x017F;ie wäre die Theilung der bildenden<lb/>
Kun&#x017F;t in Baukun&#x017F;t, Pla&#x017F;tik, Malerei eine Theilung in bloße Zweige, in<lb/>
Betracht der &#x017F;pezifi&#x017F;chen Schärfe ihres Unter&#x017F;chieds aber i&#x017F;t &#x017F;ie eine Thei-<lb/>
lung in &#x017F;elb&#x017F;tändige Kün&#x017F;te, und umgekehrt verhält es &#x017F;ich mit den Arten<lb/>
der Poe&#x017F;ie: die&#x017F;e treten in &#x017F;olcher Be&#x017F;timmtheit auf, daß &#x017F;ie wie &#x017F;elb&#x017F;t&#x017F;tändige<lb/>
Kün&#x017F;te analog jenen Arten der bildenden Kun&#x017F;t er&#x017F;cheinen, als ver&#x017F;chiedene<lb/>
Formen einer &#x017F;o gei&#x017F;tig durch&#x017F;ichtigen Kun&#x017F;t aber, wie die Poe&#x017F;ie i&#x017F;t, er&#x017F;cheinen<lb/>
&#x017F;ie eben als bloße Zweige.</hi> </p>
                </div>
              </div><lb/>
              <div n="5">
                <head><hi rendition="#i">&#x03B2;</hi>.<lb/>
Die Unter-Eintheilung.</head><lb/>
                <div n="6">
                  <head>§. 539.</head><lb/>
                  <p> <hi rendition="#fr">Das Hervortreten von drei Kün&#x017F;ten in der bildenden Kun&#x017F;t und die<lb/>
klare Scheidung der Dichtkun&#x017F;t in drei Hauptzweige i&#x017F;t im tief&#x017F;ten Grunde<lb/>
durch jenes allgemeine Ge&#x017F;etz (§. 537) bedingt; wie aber die&#x017F;es überhaupt durch<lb/>
Vermittlung der individuellen Organi&#x017F;ation der Phanta&#x017F;ie (§. 535) in Wir-<lb/>
kung tritt, &#x017F;o i&#x017F;t auch jene Theilung der bildenden Kun&#x017F;t und Poe&#x017F;ie<lb/>
vermittelt durch ein Ineinanderwirken der einen und der andern Art die&#x017F;er<lb/>
Organi&#x017F;ation (§. 404). Ebendie&#x017F;er gegen&#x017F;eitige Uebertritt der Arten, im tieferen<lb/>
Sinne immer durch jenes das ganze Sy&#x017F;tem beherr&#x017F;chende Ge&#x017F;etz bedingt, i&#x017F;t<lb/>
aber auch der er&#x017F;te Grund der Ent&#x017F;tehung <hi rendition="#g">untergeordneter Zweige</hi> in<lb/><hi rendition="#g">allen</hi> Kün&#x017F;ten.</hi> </p><lb/>
                  <p> <hi rendition="#et">Schon der Schluß&#x017F;atz des §. 404 hat von der Verbindung der dort<lb/>
aufgeführten Arten, zunäch&#x017F;t unter &#x017F;ich, ge&#x017F;prochen und die Anmerkung hat<lb/>
hiezu einzelne Andeutungen gegeben. Es hätte nun &#x017F;chon unter <hi rendition="#i">&#x03B1;</hi>. gezeigt<lb/>
werden können, wie die Kün&#x017F;te, die in der bildenden Kun&#x017F;tform eine Gruppe<lb/>
bilden, und die großen Zweige der Dichtkun&#x017F;t eben&#x017F;o &#x017F;ichtbar aus &#x017F;olchen<lb/>
Verbindungen hervorgehen, als &#x017F;ie tiefer im Ge&#x017F;etze des Fortgangs vom<lb/>
Objectiven zum Subjectiven und Subjectiv-Objectiven begründet &#x017F;ind.<lb/>
Dieß ge&#x017F;chieht aber er&#x017F;t hier, weil in ununterbrochener Reihe der&#x017F;elbe<lb/>
Grund auch als eines der Motive der Ent&#x017F;tehung der untergeordneten<lb/>
Zweige auftritt; wie wir denn zum vorh. §. gezeigt haben, daß die Kün&#x017F;te<lb/>
in der bildenden Kun&#x017F;t-Form und die Hauptformen der Poe&#x017F;ie eben-<lb/>
&#x017F;owohl als Gattungen wie als Arten (Zweige) gefaßt werden können.<lb/>
So er&#x017F;cheint nun zunäch&#x017F;t jedenfalls die Malerei als ein gewi&#x017F;&#x017F;er Ueber-<lb/>
tritt der empfindenden und dichtenden Phanta&#x017F;ie in die bildende, von der<lb/></hi> </p>
                </div>
              </div>
            </div>
          </div>
        </div>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[153/0165] Verſchiebung der gemeinen Logik, ein Schwanken gewöhnlicher Eintheilung; denn entſprechend den Arten der Poeſie wäre die Theilung der bildenden Kunſt in Baukunſt, Plaſtik, Malerei eine Theilung in bloße Zweige, in Betracht der ſpezifiſchen Schärfe ihres Unterſchieds aber iſt ſie eine Thei- lung in ſelbſtändige Künſte, und umgekehrt verhält es ſich mit den Arten der Poeſie: dieſe treten in ſolcher Beſtimmtheit auf, daß ſie wie ſelbſtſtändige Künſte analog jenen Arten der bildenden Kunſt erſcheinen, als verſchiedene Formen einer ſo geiſtig durchſichtigen Kunſt aber, wie die Poeſie iſt, erſcheinen ſie eben als bloße Zweige. β. Die Unter-Eintheilung. §. 539. Das Hervortreten von drei Künſten in der bildenden Kunſt und die klare Scheidung der Dichtkunſt in drei Hauptzweige iſt im tiefſten Grunde durch jenes allgemeine Geſetz (§. 537) bedingt; wie aber dieſes überhaupt durch Vermittlung der individuellen Organiſation der Phantaſie (§. 535) in Wir- kung tritt, ſo iſt auch jene Theilung der bildenden Kunſt und Poeſie vermittelt durch ein Ineinanderwirken der einen und der andern Art dieſer Organiſation (§. 404). Ebendieſer gegenſeitige Uebertritt der Arten, im tieferen Sinne immer durch jenes das ganze Syſtem beherrſchende Geſetz bedingt, iſt aber auch der erſte Grund der Entſtehung untergeordneter Zweige in allen Künſten. Schon der Schlußſatz des §. 404 hat von der Verbindung der dort aufgeführten Arten, zunächſt unter ſich, geſprochen und die Anmerkung hat hiezu einzelne Andeutungen gegeben. Es hätte nun ſchon unter α. gezeigt werden können, wie die Künſte, die in der bildenden Kunſtform eine Gruppe bilden, und die großen Zweige der Dichtkunſt ebenſo ſichtbar aus ſolchen Verbindungen hervorgehen, als ſie tiefer im Geſetze des Fortgangs vom Objectiven zum Subjectiven und Subjectiv-Objectiven begründet ſind. Dieß geſchieht aber erſt hier, weil in ununterbrochener Reihe derſelbe Grund auch als eines der Motive der Entſtehung der untergeordneten Zweige auftritt; wie wir denn zum vorh. §. gezeigt haben, daß die Künſte in der bildenden Kunſt-Form und die Hauptformen der Poeſie eben- ſowohl als Gattungen wie als Arten (Zweige) gefaßt werden können. So erſcheint nun zunächſt jedenfalls die Malerei als ein gewiſſer Ueber- tritt der empfindenden und dichtenden Phantaſie in die bildende, von der

Suche im Werk

Hilfe

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)
XML (TEI P5 inkl. att.linguistic)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Voyant Tools ?

Language Resource Switchboard?

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde gemäß den DTA-Transkriptionsrichtlinien im Double-Keying-Verfahren von Nicht-Muttersprachlern erfasst und in XML/TEI P5 nach DTA-Basisformat kodiert.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/vischer_aesthetik0301_1851
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/vischer_aesthetik0301_1851/165
Zitationshilfe: Vischer, Friedrich Theodor von: Ästhetik oder Wissenschaft des Schönen. Bd. 3,1. Reutlingen u. a., 1851, S. 153. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/vischer_aesthetik0301_1851/165>, abgerufen am 21.11.2024.