Vischer, Friedrich Theodor von: Ästhetik oder Wissenschaft des Schönen. Bd. 3,1. Reutlingen u. a., 1851.Form des Bewußtseins, welche zwar im menschlichen Geiste begründet, Form des Bewußtſeins, welche zwar im menſchlichen Geiſte begründet, <TEI> <text> <body> <div n="1"> <div n="2"> <div n="3"> <div n="4"> <div n="5"> <div n="6"> <div n="7"> <p> <pb facs="#f0126" n="114"/> <hi rendition="#et">Form des Bewußtſeins, welche zwar im menſchlichen Geiſte begründet,<lb/> aber nur für einen Kreis von Zuſchauern verſtändlich iſt, die ein<lb/> tieferes Geiſtesleben führen, (wie Göthes Fauſt, erſter Theil), fällt nicht<lb/> unter den Vorwurf unzuläßigen Dunkels, denn die ungleiche Bildung iſt<lb/> eine Schuld der Zeiten; noch weniger das Bedürfniß einer allgemeinen<lb/> Notiz, die den Zuſchauer, Zuhörer mit dem Gegenſtande überhaupt, mit<lb/> der dargeſtellten Situation bekannt macht: ſo unmittelbar leuchtet ja auch<lb/> das Naturſchöne der bedeutenderen Sphären, namentlich der geſchichtlichen,<lb/> nicht ein, daß der Zuſchauer nicht erſt wiſſen müßte, von was es ſich in<lb/> dem vorliegenden Auftritt handelt. Was aber ſchlechterdings keiner Erklä-<lb/> rung bedürfen ſoll, das iſt der <hi rendition="#g">Sinn</hi> eines Kunſtwerks (vergl. die Krit.<lb/> Gänge des Verf. B. <hi rendition="#aq">II</hi> S. 49 ff.) und der ſchlimmſte aller Fälle iſt<lb/> der, wenn es ſo dunkel iſt, daß man nach aller Mühe der Entzifferung<lb/> nicht einmal wiſſen kann, ob man den Sinn richtig gefunden hat, wie bei<lb/> dem zweiten Theil von Göthes Fauſt. Die letzte Urſache eines ſolchen<lb/> Dunkels iſt immer ein Nicht-Können, alſo ein Mangel an Kunſt. Man<lb/> wende nicht ein, das ſei dann ein Mangel des innerſten Schaffens, nicht<lb/> der Technik, dieſe könne vielmehr mit großer Fertigkeit durchgeführt ſein;<lb/> denn die Technik, wie ſie vor uns entſtanden iſt als Spitze der äſtheti-<lb/> ſchen Thätigkeit, worin alle vorangegangenen geiſtigen Momente ſich zu-<lb/> ſammenfaſſen, iſt der volle Strom, in welchem das Innere ungehemmt<lb/> ganz zum Aeußern wird, ſie iſt der ſinnliche Erguß, der auch nachdem er<lb/> feſt geworden, immer noch warm bleibt, nie erkaltet, dem man immer<lb/> anfühlt, wie er friſch aus dem Innern gekommen. Die formell geſchickte<lb/> Technik, die noch übrig bleibt, wenn das Innere und Aeußere ausein-<lb/> anderfällt, iſt eben nicht die wahre, die lebendige. Die näheren Urſachen<lb/> des Nichtkönnens, wie ſie im Innern des Künſtlers zu ſuchen ſind, können<lb/> ſehr verſchiedene ſein: Mangel an Begabung, Unreife, Erloſchenſein der<lb/> Phantaſie, Erkranktſein derſelben in Künſtelei, Grille, Eitelkeit im Auf-<lb/> geben von Geheimniſſen: dieſe innere Seite beſchäftigt uns hier nicht<lb/> mehr, nachdem wir die Lehre von der Phantaſie und von der Allegorie,<lb/> der häufigſten Form des Dunkels, entwickelt haben, vielmehr ſtehen wir<lb/> jetzt an dem Puncte, wo alle jene innern Mängel als äußere erſcheinen<lb/> müſſen, indem die Stockung der Geiſtesthätigkeit in einer Stockung der wah-<lb/> ren, naturvollen Technik zum Vorſchein kommt, das ausgeführte Werk ſich<lb/> nicht als geworden, ſondern als gemacht darſtellt und eines Commentars über<lb/> ſeinen Sinn bedarf. Nur der Fall iſt noch beſonders zu erwähnen, wo ein<lb/> pathologiſcher Zuſtand des Künſtlers oder ein Mangel an Zufluß allgemein<lb/> bedeutender Phantaſiebilder Urſache der beſonderen Form des Dunkels iſt,<lb/> welche Erläuterungen aus der Lebensgeſchichte des Künſtlers nothwendig macht;<lb/> dieſer ſubjective Charakter iſt nämlich ein beſonders häufiger Mangel von Kunſt-<lb/></hi> </p> </div> </div> </div> </div> </div> </div> </div> </body> </text> </TEI> [114/0126]
Form des Bewußtſeins, welche zwar im menſchlichen Geiſte begründet,
aber nur für einen Kreis von Zuſchauern verſtändlich iſt, die ein
tieferes Geiſtesleben führen, (wie Göthes Fauſt, erſter Theil), fällt nicht
unter den Vorwurf unzuläßigen Dunkels, denn die ungleiche Bildung iſt
eine Schuld der Zeiten; noch weniger das Bedürfniß einer allgemeinen
Notiz, die den Zuſchauer, Zuhörer mit dem Gegenſtande überhaupt, mit
der dargeſtellten Situation bekannt macht: ſo unmittelbar leuchtet ja auch
das Naturſchöne der bedeutenderen Sphären, namentlich der geſchichtlichen,
nicht ein, daß der Zuſchauer nicht erſt wiſſen müßte, von was es ſich in
dem vorliegenden Auftritt handelt. Was aber ſchlechterdings keiner Erklä-
rung bedürfen ſoll, das iſt der Sinn eines Kunſtwerks (vergl. die Krit.
Gänge des Verf. B. II S. 49 ff.) und der ſchlimmſte aller Fälle iſt
der, wenn es ſo dunkel iſt, daß man nach aller Mühe der Entzifferung
nicht einmal wiſſen kann, ob man den Sinn richtig gefunden hat, wie bei
dem zweiten Theil von Göthes Fauſt. Die letzte Urſache eines ſolchen
Dunkels iſt immer ein Nicht-Können, alſo ein Mangel an Kunſt. Man
wende nicht ein, das ſei dann ein Mangel des innerſten Schaffens, nicht
der Technik, dieſe könne vielmehr mit großer Fertigkeit durchgeführt ſein;
denn die Technik, wie ſie vor uns entſtanden iſt als Spitze der äſtheti-
ſchen Thätigkeit, worin alle vorangegangenen geiſtigen Momente ſich zu-
ſammenfaſſen, iſt der volle Strom, in welchem das Innere ungehemmt
ganz zum Aeußern wird, ſie iſt der ſinnliche Erguß, der auch nachdem er
feſt geworden, immer noch warm bleibt, nie erkaltet, dem man immer
anfühlt, wie er friſch aus dem Innern gekommen. Die formell geſchickte
Technik, die noch übrig bleibt, wenn das Innere und Aeußere ausein-
anderfällt, iſt eben nicht die wahre, die lebendige. Die näheren Urſachen
des Nichtkönnens, wie ſie im Innern des Künſtlers zu ſuchen ſind, können
ſehr verſchiedene ſein: Mangel an Begabung, Unreife, Erloſchenſein der
Phantaſie, Erkranktſein derſelben in Künſtelei, Grille, Eitelkeit im Auf-
geben von Geheimniſſen: dieſe innere Seite beſchäftigt uns hier nicht
mehr, nachdem wir die Lehre von der Phantaſie und von der Allegorie,
der häufigſten Form des Dunkels, entwickelt haben, vielmehr ſtehen wir
jetzt an dem Puncte, wo alle jene innern Mängel als äußere erſcheinen
müſſen, indem die Stockung der Geiſtesthätigkeit in einer Stockung der wah-
ren, naturvollen Technik zum Vorſchein kommt, das ausgeführte Werk ſich
nicht als geworden, ſondern als gemacht darſtellt und eines Commentars über
ſeinen Sinn bedarf. Nur der Fall iſt noch beſonders zu erwähnen, wo ein
pathologiſcher Zuſtand des Künſtlers oder ein Mangel an Zufluß allgemein
bedeutender Phantaſiebilder Urſache der beſonderen Form des Dunkels iſt,
welche Erläuterungen aus der Lebensgeſchichte des Künſtlers nothwendig macht;
dieſer ſubjective Charakter iſt nämlich ein beſonders häufiger Mangel von Kunſt-
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