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Vischer, Friedrich Theodor von: Ästhetik oder Wissenschaft des Schönen. Bd. 3,1. Reutlingen u. a., 1851.

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merksam mit einer Erscheinung, die als Zeichen der Zeit damals schon
in raschem Wachsen begriffen war. -- Der Dilettant ist wohl vom
Autodidakten zu unterscheiden: dieser läßt sich ein gründliches Lernen
angelegen sein, aber Umstände oder Eigensinn halten ihn von praktischer
Anweisung durch einen Meister fern; er bildet sich nach Mustern, da ihm
aber Niemand den Handgriff zeigt, so behält seine Leistung Zeitlebens
einen idiotischen Charakter, dem man ansieht, wie er mit Mühe und auf
langen Umwegen sich dasjenige angeeignet hat, worin die Schule durch
verkürzte Methode und Rath der Kundigen ihren Zögling zur Sicher-
heit führt.

2. Wir können ohne scheinbaren Widerspruch hier nicht vorwärts:
wir fordern Schule, damit ein Künstler werde, und brauchen doch den
Künstler, um die Schule zu schaffen. Dieser Widerspruch hebt sich nur,
wenn wir uns aus dem gewordenen Zustande in die dunkeln Anfänge
zurückversetzen, wo geniale Persönlichkeiten aufeinander folgend die ge-
meine Technik ruckweise, wie wir es schon zu §. 517 ausgedrückt haben,
in die beseelte ästhetische hoben: da haben wir freilich Künstler, welche
Schüler bilden, ohne selbst Schüler (nämlich Kunstschüler, denn in der
Schule des gewöhnlichen Handgriffs müssen sie irgendwie sich gebildet haben,)
gewesen zu sein, aber je weiter wir zurückgehen in dieser unbestimmbaren
Linie, desto mehr haben wir uns diese fortschreitenden Persönlichkeiten vor-
zustellen als solche, welche Künstler nur in dem Sinne waren, daß der
Anstoß, die Möglichkeit der Kunst von ihnen ausgieng. So beseelt ein
Cimabue die zum Handwerk herabgesunkene byzantinische Malertechnik
mit höherem Ausdruck, er begründet eine Schule, aber näher betrachtet ist
dieß nur die Staffel für Giotto, und dessen Schule wieder für Fiesole,
Masaccio u. s. w.; aber bei ungleich geringerem Erbe, als selbst Cimabue,
haben einst große Talente mit Anstreichen begonnen und mit den Anfängen
der Malerkunst geendigt. Gehen wir nun von solchen Anfängen vorwärts
bis zu entwickelten Zuständen und nehmen die Lage der Dinge je wie sie
besteht, wenn eben ein Genie, ein schöpferischer Künstlergeist entscheidende
Wirkungen verbreitet hat, so wird die Sache einfach und es ist gleichgültig,
welchen Punct wir ins Auge faßen, denn wir haben überall Meister, die
Schüler gewesen sind, und dasselbe Verhältniß kehrt immer wieder: der
geniale Meister schafft eine neubeseelte Technik. Seine Wirkungen bestehen
in Regeln, die sich aber nicht formuliren lassen; sie sind keine bloße
Stimmung, Weise zu schauen, sie sind vielmehr ganz bestimmt und consti-
tuiren eine feste Technik, sie geben dem überlieferten Inbegriff der Ver-
fahrungsweise, welcher selbst schon der Niederschlag früherer genialer
Entwicklungen ist, nicht nur neuen Geist, sondern auch einen neuen Leib
mit festem Knochengerüste, aber sie lassen sich nicht in Buchstaben fassen,

merkſam mit einer Erſcheinung, die als Zeichen der Zeit damals ſchon
in raſchem Wachſen begriffen war. — Der Dilettant iſt wohl vom
Autodidakten zu unterſcheiden: dieſer läßt ſich ein gründliches Lernen
angelegen ſein, aber Umſtände oder Eigenſinn halten ihn von praktiſcher
Anweiſung durch einen Meiſter fern; er bildet ſich nach Muſtern, da ihm
aber Niemand den Handgriff zeigt, ſo behält ſeine Leiſtung Zeitlebens
einen idiotiſchen Charakter, dem man anſieht, wie er mit Mühe und auf
langen Umwegen ſich dasjenige angeeignet hat, worin die Schule durch
verkürzte Methode und Rath der Kundigen ihren Zögling zur Sicher-
heit führt.

2. Wir können ohne ſcheinbaren Widerſpruch hier nicht vorwärts:
wir fordern Schule, damit ein Künſtler werde, und brauchen doch den
Künſtler, um die Schule zu ſchaffen. Dieſer Widerſpruch hebt ſich nur,
wenn wir uns aus dem gewordenen Zuſtande in die dunkeln Anfänge
zurückverſetzen, wo geniale Perſönlichkeiten aufeinander folgend die ge-
meine Technik ruckweiſe, wie wir es ſchon zu §. 517 ausgedrückt haben,
in die beſeelte äſthetiſche hoben: da haben wir freilich Künſtler, welche
Schüler bilden, ohne ſelbſt Schüler (nämlich Kunſtſchüler, denn in der
Schule des gewöhnlichen Handgriffs müſſen ſie irgendwie ſich gebildet haben,)
geweſen zu ſein, aber je weiter wir zurückgehen in dieſer unbeſtimmbaren
Linie, deſto mehr haben wir uns dieſe fortſchreitenden Perſönlichkeiten vor-
zuſtellen als ſolche, welche Künſtler nur in dem Sinne waren, daß der
Anſtoß, die Möglichkeit der Kunſt von ihnen ausgieng. So beſeelt ein
Cimabue die zum Handwerk herabgeſunkene byzantiniſche Malertechnik
mit höherem Ausdruck, er begründet eine Schule, aber näher betrachtet iſt
dieß nur die Staffel für Giotto, und deſſen Schule wieder für Fieſole,
Maſaccio u. ſ. w.; aber bei ungleich geringerem Erbe, als ſelbſt Cimabue,
haben einſt große Talente mit Anſtreichen begonnen und mit den Anfängen
der Malerkunſt geendigt. Gehen wir nun von ſolchen Anfängen vorwärts
bis zu entwickelten Zuſtänden und nehmen die Lage der Dinge je wie ſie
beſteht, wenn eben ein Genie, ein ſchöpferiſcher Künſtlergeiſt entſcheidende
Wirkungen verbreitet hat, ſo wird die Sache einfach und es iſt gleichgültig,
welchen Punct wir ins Auge faßen, denn wir haben überall Meiſter, die
Schüler geweſen ſind, und daſſelbe Verhältniß kehrt immer wieder: der
geniale Meiſter ſchafft eine neubeſeelte Technik. Seine Wirkungen beſtehen
in Regeln, die ſich aber nicht formuliren laſſen; ſie ſind keine bloße
Stimmung, Weiſe zu ſchauen, ſie ſind vielmehr ganz beſtimmt und conſti-
tuiren eine feſte Technik, ſie geben dem überlieferten Inbegriff der Ver-
fahrungsweiſe, welcher ſelbſt ſchon der Niederſchlag früherer genialer
Entwicklungen iſt, nicht nur neuen Geiſt, ſondern auch einen neuen Leib
mit feſtem Knochengerüſte, aber ſie laſſen ſich nicht in Buchſtaben faſſen,

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[102/0114] merkſam mit einer Erſcheinung, die als Zeichen der Zeit damals ſchon in raſchem Wachſen begriffen war. — Der Dilettant iſt wohl vom Autodidakten zu unterſcheiden: dieſer läßt ſich ein gründliches Lernen angelegen ſein, aber Umſtände oder Eigenſinn halten ihn von praktiſcher Anweiſung durch einen Meiſter fern; er bildet ſich nach Muſtern, da ihm aber Niemand den Handgriff zeigt, ſo behält ſeine Leiſtung Zeitlebens einen idiotiſchen Charakter, dem man anſieht, wie er mit Mühe und auf langen Umwegen ſich dasjenige angeeignet hat, worin die Schule durch verkürzte Methode und Rath der Kundigen ihren Zögling zur Sicher- heit führt. 2. Wir können ohne ſcheinbaren Widerſpruch hier nicht vorwärts: wir fordern Schule, damit ein Künſtler werde, und brauchen doch den Künſtler, um die Schule zu ſchaffen. Dieſer Widerſpruch hebt ſich nur, wenn wir uns aus dem gewordenen Zuſtande in die dunkeln Anfänge zurückverſetzen, wo geniale Perſönlichkeiten aufeinander folgend die ge- meine Technik ruckweiſe, wie wir es ſchon zu §. 517 ausgedrückt haben, in die beſeelte äſthetiſche hoben: da haben wir freilich Künſtler, welche Schüler bilden, ohne ſelbſt Schüler (nämlich Kunſtſchüler, denn in der Schule des gewöhnlichen Handgriffs müſſen ſie irgendwie ſich gebildet haben,) geweſen zu ſein, aber je weiter wir zurückgehen in dieſer unbeſtimmbaren Linie, deſto mehr haben wir uns dieſe fortſchreitenden Perſönlichkeiten vor- zuſtellen als ſolche, welche Künſtler nur in dem Sinne waren, daß der Anſtoß, die Möglichkeit der Kunſt von ihnen ausgieng. So beſeelt ein Cimabue die zum Handwerk herabgeſunkene byzantiniſche Malertechnik mit höherem Ausdruck, er begründet eine Schule, aber näher betrachtet iſt dieß nur die Staffel für Giotto, und deſſen Schule wieder für Fieſole, Maſaccio u. ſ. w.; aber bei ungleich geringerem Erbe, als ſelbſt Cimabue, haben einſt große Talente mit Anſtreichen begonnen und mit den Anfängen der Malerkunſt geendigt. Gehen wir nun von ſolchen Anfängen vorwärts bis zu entwickelten Zuſtänden und nehmen die Lage der Dinge je wie ſie beſteht, wenn eben ein Genie, ein ſchöpferiſcher Künſtlergeiſt entſcheidende Wirkungen verbreitet hat, ſo wird die Sache einfach und es iſt gleichgültig, welchen Punct wir ins Auge faßen, denn wir haben überall Meiſter, die Schüler geweſen ſind, und daſſelbe Verhältniß kehrt immer wieder: der geniale Meiſter ſchafft eine neubeſeelte Technik. Seine Wirkungen beſtehen in Regeln, die ſich aber nicht formuliren laſſen; ſie ſind keine bloße Stimmung, Weiſe zu ſchauen, ſie ſind vielmehr ganz beſtimmt und conſti- tuiren eine feſte Technik, ſie geben dem überlieferten Inbegriff der Ver- fahrungsweiſe, welcher ſelbſt ſchon der Niederſchlag früherer genialer Entwicklungen iſt, nicht nur neuen Geiſt, ſondern auch einen neuen Leib mit feſtem Knochengerüſte, aber ſie laſſen ſich nicht in Buchſtaben faſſen,

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Zitationshilfe: Vischer, Friedrich Theodor von: Ästhetik oder Wissenschaft des Schönen. Bd. 3,1. Reutlingen u. a., 1851, S. 102. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/vischer_aesthetik0301_1851/114>, abgerufen am 22.11.2024.