Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Vischer, Friedrich Theodor von: Ästhetik oder Wissenschaft des Schönen. Bd. 2,2. Reutlingen u. a., 1848.

Bild:
<< vorherige Seite

1. Es entstehen aus diesem Eintheilungsgrunde sowohl Einseitigkeiten
und Verirrungen der Phantasie, als auch Nebenzweige, Formen anhängen-
der Schönheit, die weder Lob noch Tadel trifft, wenn sie nicht mehr, als dieß,
sein wollen. Beide Formen, sowohl die Mängel und Unarten, Aus-
artungen
, als auch die Abarten werden hier nur erst in der allge-
meinsten Weise gefunden und bezeichnet. Auf die Gebietsverletzungen aber,
welche in den Schlußbemerkungen zu §. 404 berührt sind, lassen wir uns
hier nicht ein, sie können ihre nähere Darstellung erst in der Lehre von
den Künsten und ihrer Geschichte finden.

2. Die erste Einseitigkeit entsteht, wenn das Bild der Einbildungskraft
auf dem Punkte aufgefaßt wird, wo der Geist so eben noch von der An-
schauung herkommt, wo es noch ihre Schärfe, aber auch die Mängel des
Naturschönen hat. Der Phantasie, die auf starker und strenger Anschau-
ung ruht, liegt Realität auf Kosten der Idealität nahe; es gibt aber
bis herab zum gemeinen Copisten der Natur der Abstufungen viele. Wir
haben nun zwar den Ausdruck: arm an Idealität aufgenommen, aber
darum den Ausdruck Realismus nicht gewählt. Was man so nennt, ge-
hört in die Geschichte des Ideals. Zugleich sammelt der reiche Beobachter
der Natur viel, er ist fruchtbar in Massen, aber es fehlt ihnen die in-
nere Einheit. Ebendieß findet zunächst statt, wo sich die Phantasie im
Momente der Einbildungskraft fixirt. Hineingezogen aber in ihren Fluß
drängt sich Bild an Bild in regelloser Fülle, es entsteht üppige, breite
Fruchtbarkeit ohne Einheit. Beispiele der Ueberschwängerung mit Fabeln,
Figuren, Beschreibungen bietet die Kunstgeschichte in Menge, wir fänden
aber hier und bei den weiteren Formen kein Ende, wenn wir uns darauf
einlassen wollten. Ariost z. B. steht nahe an der Schwelle der Ausar-
tung, die meisten Ritterromane des Mittelalters mitten darin. Die Bil-
der der Einbildungskraft gaukeln in bunten und unsteten Vermischungen:
herrscht dieß Moment, so entsteht das Wilde, Nebelhafte, Verworrene.
Die neuere Romantik hat ordentlich den Traum zum Organe des Schö-
nen erheben wollen. (Berechtigte Abarten: Arabeske, musikalisches Phan-
tasiren, Mährchen). Die Bilder der Einbildungskraft erregen stoffartig:
sinnliche, unfrei leidenschaftliche Phantasie. Es gibt eine doppelte Sinn-
lichkeit der so auf das Stoffartige der Einbildungskraft gestellten Phantasie:
die frische und die reflectirte, die offene, natürliche und die heimliche,
onanistische; aber auch die erstere ist Verirrung, denn es fixirt sich ein Mo-
ment, das in die Interesselosigkeit der Objectivität aufgehoben werden
sollte (Heinse). Hier beginnt Häßlichkeit, doch fehlt noch ihr eigentlicher
Grund.

3. Von einer in die Formthätigkeit nicht übergehenden Substantialität
der Persönlichkeit konnte in den bisherigen Eintheilungen nicht die Rede

1. Es entſtehen aus dieſem Eintheilungsgrunde ſowohl Einſeitigkeiten
und Verirrungen der Phantaſie, als auch Nebenzweige, Formen anhängen-
der Schönheit, die weder Lob noch Tadel trifft, wenn ſie nicht mehr, als dieß,
ſein wollen. Beide Formen, ſowohl die Mängel und Unarten, Aus-
artungen
, als auch die Abarten werden hier nur erſt in der allge-
meinſten Weiſe gefunden und bezeichnet. Auf die Gebietsverletzungen aber,
welche in den Schlußbemerkungen zu §. 404 berührt ſind, laſſen wir uns
hier nicht ein, ſie können ihre nähere Darſtellung erſt in der Lehre von
den Künſten und ihrer Geſchichte finden.

2. Die erſte Einſeitigkeit entſteht, wenn das Bild der Einbildungskraft
auf dem Punkte aufgefaßt wird, wo der Geiſt ſo eben noch von der An-
ſchauung herkommt, wo es noch ihre Schärfe, aber auch die Mängel des
Naturſchönen hat. Der Phantaſie, die auf ſtarker und ſtrenger Anſchau-
ung ruht, liegt Realität auf Koſten der Idealität nahe; es gibt aber
bis herab zum gemeinen Copiſten der Natur der Abſtufungen viele. Wir
haben nun zwar den Ausdruck: arm an Idealität aufgenommen, aber
darum den Ausdruck Realiſmus nicht gewählt. Was man ſo nennt, ge-
hört in die Geſchichte des Ideals. Zugleich ſammelt der reiche Beobachter
der Natur viel, er iſt fruchtbar in Maſſen, aber es fehlt ihnen die in-
nere Einheit. Ebendieß findet zunächſt ſtatt, wo ſich die Phantaſie im
Momente der Einbildungskraft fixirt. Hineingezogen aber in ihren Fluß
drängt ſich Bild an Bild in regelloſer Fülle, es entſteht üppige, breite
Fruchtbarkeit ohne Einheit. Beiſpiele der Ueberſchwängerung mit Fabeln,
Figuren, Beſchreibungen bietet die Kunſtgeſchichte in Menge, wir fänden
aber hier und bei den weiteren Formen kein Ende, wenn wir uns darauf
einlaſſen wollten. Arioſt z. B. ſteht nahe an der Schwelle der Ausar-
tung, die meiſten Ritterromane des Mittelalters mitten darin. Die Bil-
der der Einbildungskraft gaukeln in bunten und unſteten Vermiſchungen:
herrſcht dieß Moment, ſo entſteht das Wilde, Nebelhafte, Verworrene.
Die neuere Romantik hat ordentlich den Traum zum Organe des Schö-
nen erheben wollen. (Berechtigte Abarten: Arabeske, muſikaliſches Phan-
taſiren, Mährchen). Die Bilder der Einbildungskraft erregen ſtoffartig:
ſinnliche, unfrei leidenſchaftliche Phantaſie. Es gibt eine doppelte Sinn-
lichkeit der ſo auf das Stoffartige der Einbildungskraft geſtellten Phantaſie:
die friſche und die reflectirte, die offene, natürliche und die heimliche,
onaniſtiſche; aber auch die erſtere iſt Verirrung, denn es fixirt ſich ein Mo-
ment, das in die Intereſſeloſigkeit der Objectivität aufgehoben werden
ſollte (Heinſe). Hier beginnt Häßlichkeit, doch fehlt noch ihr eigentlicher
Grund.

3. Von einer in die Formthätigkeit nicht übergehenden Subſtantialität
der Perſönlichkeit konnte in den bisherigen Eintheilungen nicht die Rede

<TEI>
  <text>
    <body>
      <div n="1">
        <div n="2">
          <div n="3">
            <div n="4">
              <div n="5">
                <div n="6">
                  <pb facs="#f0099" n="385"/>
                  <p> <hi rendition="#et">1. Es ent&#x017F;tehen aus die&#x017F;em Eintheilungsgrunde &#x017F;owohl Ein&#x017F;eitigkeiten<lb/>
und Verirrungen der Phanta&#x017F;ie, als auch Nebenzweige, Formen anhängen-<lb/>
der Schönheit, die weder Lob noch Tadel trifft, wenn &#x017F;ie nicht mehr, als dieß,<lb/>
&#x017F;ein wollen. Beide Formen, &#x017F;owohl die Mängel und <hi rendition="#g">Unarten, Aus-<lb/>
artungen</hi>, als auch die <hi rendition="#g">Abarten</hi> werden hier nur er&#x017F;t in der allge-<lb/>
mein&#x017F;ten Wei&#x017F;e gefunden und bezeichnet. Auf die Gebietsverletzungen aber,<lb/>
welche in den Schlußbemerkungen zu §. 404 berührt &#x017F;ind, la&#x017F;&#x017F;en wir uns<lb/>
hier nicht ein, &#x017F;ie können ihre nähere Dar&#x017F;tellung er&#x017F;t in der Lehre von<lb/>
den Kün&#x017F;ten und ihrer Ge&#x017F;chichte finden.</hi> </p><lb/>
                  <p> <hi rendition="#et">2. Die er&#x017F;te Ein&#x017F;eitigkeit ent&#x017F;teht, wenn das Bild der Einbildungskraft<lb/>
auf dem Punkte aufgefaßt wird, wo der Gei&#x017F;t &#x017F;o eben noch von der An-<lb/>
&#x017F;chauung herkommt, wo es noch ihre Schärfe, aber auch die Mängel des<lb/>
Natur&#x017F;chönen hat. Der Phanta&#x017F;ie, die auf &#x017F;tarker und &#x017F;trenger An&#x017F;chau-<lb/>
ung ruht, liegt Realität auf Ko&#x017F;ten der Idealität nahe; es gibt aber<lb/>
bis herab zum gemeinen Copi&#x017F;ten der Natur der Ab&#x017F;tufungen viele. Wir<lb/>
haben nun zwar den Ausdruck: arm an Idealität aufgenommen, aber<lb/>
darum den Ausdruck Reali&#x017F;mus nicht gewählt. Was man &#x017F;o nennt, ge-<lb/>
hört in die Ge&#x017F;chichte des Ideals. Zugleich &#x017F;ammelt der reiche Beobachter<lb/>
der Natur <hi rendition="#g">viel</hi>, er i&#x017F;t fruchtbar in Ma&#x017F;&#x017F;en, aber es fehlt ihnen die in-<lb/>
nere Einheit. Ebendieß findet zunäch&#x017F;t &#x017F;tatt, wo &#x017F;ich die Phanta&#x017F;ie im<lb/>
Momente der Einbildungskraft fixirt. Hineingezogen aber in ihren Fluß<lb/>
drängt &#x017F;ich Bild an Bild in regello&#x017F;er Fülle, es ent&#x017F;teht üppige, breite<lb/>
Fruchtbarkeit ohne Einheit. Bei&#x017F;piele der Ueber&#x017F;chwängerung mit Fabeln,<lb/>
Figuren, Be&#x017F;chreibungen bietet die Kun&#x017F;tge&#x017F;chichte in Menge, wir fänden<lb/>
aber hier und bei den weiteren Formen kein Ende, wenn wir uns darauf<lb/>
einla&#x017F;&#x017F;en wollten. Ario&#x017F;t z. B. &#x017F;teht nahe an der Schwelle der Ausar-<lb/>
tung, die mei&#x017F;ten Ritterromane des Mittelalters mitten darin. Die Bil-<lb/>
der der Einbildungskraft gaukeln in bunten und un&#x017F;teten Vermi&#x017F;chungen:<lb/>
herr&#x017F;cht dieß Moment, &#x017F;o ent&#x017F;teht das Wilde, Nebelhafte, Verworrene.<lb/>
Die neuere Romantik hat ordentlich den Traum zum Organe des Schö-<lb/>
nen erheben wollen. (Berechtigte Abarten: Arabeske, mu&#x017F;ikali&#x017F;ches Phan-<lb/>
ta&#x017F;iren, Mährchen). Die Bilder der Einbildungskraft erregen &#x017F;toffartig:<lb/>
&#x017F;innliche, unfrei leiden&#x017F;chaftliche Phanta&#x017F;ie. Es gibt eine doppelte Sinn-<lb/>
lichkeit der &#x017F;o auf das Stoffartige der Einbildungskraft ge&#x017F;tellten Phanta&#x017F;ie:<lb/>
die fri&#x017F;che und die reflectirte, die offene, natürliche und die heimliche,<lb/>
onani&#x017F;ti&#x017F;che; aber auch die er&#x017F;tere i&#x017F;t Verirrung, denn es fixirt &#x017F;ich ein Mo-<lb/>
ment, das in die Intere&#x017F;&#x017F;elo&#x017F;igkeit der Objectivität aufgehoben werden<lb/>
&#x017F;ollte (Hein&#x017F;e). Hier beginnt Häßlichkeit, doch fehlt noch ihr eigentlicher<lb/>
Grund.</hi> </p><lb/>
                  <p> <hi rendition="#et">3. Von einer in die Formthätigkeit nicht übergehenden Sub&#x017F;tantialität<lb/>
der Per&#x017F;önlichkeit konnte in den bisherigen Eintheilungen nicht die Rede<lb/></hi> </p>
                </div>
              </div>
            </div>
          </div>
        </div>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[385/0099] 1. Es entſtehen aus dieſem Eintheilungsgrunde ſowohl Einſeitigkeiten und Verirrungen der Phantaſie, als auch Nebenzweige, Formen anhängen- der Schönheit, die weder Lob noch Tadel trifft, wenn ſie nicht mehr, als dieß, ſein wollen. Beide Formen, ſowohl die Mängel und Unarten, Aus- artungen, als auch die Abarten werden hier nur erſt in der allge- meinſten Weiſe gefunden und bezeichnet. Auf die Gebietsverletzungen aber, welche in den Schlußbemerkungen zu §. 404 berührt ſind, laſſen wir uns hier nicht ein, ſie können ihre nähere Darſtellung erſt in der Lehre von den Künſten und ihrer Geſchichte finden. 2. Die erſte Einſeitigkeit entſteht, wenn das Bild der Einbildungskraft auf dem Punkte aufgefaßt wird, wo der Geiſt ſo eben noch von der An- ſchauung herkommt, wo es noch ihre Schärfe, aber auch die Mängel des Naturſchönen hat. Der Phantaſie, die auf ſtarker und ſtrenger Anſchau- ung ruht, liegt Realität auf Koſten der Idealität nahe; es gibt aber bis herab zum gemeinen Copiſten der Natur der Abſtufungen viele. Wir haben nun zwar den Ausdruck: arm an Idealität aufgenommen, aber darum den Ausdruck Realiſmus nicht gewählt. Was man ſo nennt, ge- hört in die Geſchichte des Ideals. Zugleich ſammelt der reiche Beobachter der Natur viel, er iſt fruchtbar in Maſſen, aber es fehlt ihnen die in- nere Einheit. Ebendieß findet zunächſt ſtatt, wo ſich die Phantaſie im Momente der Einbildungskraft fixirt. Hineingezogen aber in ihren Fluß drängt ſich Bild an Bild in regelloſer Fülle, es entſteht üppige, breite Fruchtbarkeit ohne Einheit. Beiſpiele der Ueberſchwängerung mit Fabeln, Figuren, Beſchreibungen bietet die Kunſtgeſchichte in Menge, wir fänden aber hier und bei den weiteren Formen kein Ende, wenn wir uns darauf einlaſſen wollten. Arioſt z. B. ſteht nahe an der Schwelle der Ausar- tung, die meiſten Ritterromane des Mittelalters mitten darin. Die Bil- der der Einbildungskraft gaukeln in bunten und unſteten Vermiſchungen: herrſcht dieß Moment, ſo entſteht das Wilde, Nebelhafte, Verworrene. Die neuere Romantik hat ordentlich den Traum zum Organe des Schö- nen erheben wollen. (Berechtigte Abarten: Arabeske, muſikaliſches Phan- taſiren, Mährchen). Die Bilder der Einbildungskraft erregen ſtoffartig: ſinnliche, unfrei leidenſchaftliche Phantaſie. Es gibt eine doppelte Sinn- lichkeit der ſo auf das Stoffartige der Einbildungskraft geſtellten Phantaſie: die friſche und die reflectirte, die offene, natürliche und die heimliche, onaniſtiſche; aber auch die erſtere iſt Verirrung, denn es fixirt ſich ein Mo- ment, das in die Intereſſeloſigkeit der Objectivität aufgehoben werden ſollte (Heinſe). Hier beginnt Häßlichkeit, doch fehlt noch ihr eigentlicher Grund. 3. Von einer in die Formthätigkeit nicht übergehenden Subſtantialität der Perſönlichkeit konnte in den bisherigen Eintheilungen nicht die Rede

Suche im Werk

Hilfe

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)
XML (TEI P5 inkl. att.linguistic)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Voyant Tools ?

Language Resource Switchboard?

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde gemäß den DTA-Transkriptionsrichtlinien im Double-Keying-Verfahren von Nicht-Muttersprachlern erfasst und in XML/TEI P5 nach DTA-Basisformat kodiert.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/vischer_aesthetik0202_1848
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/vischer_aesthetik0202_1848/99
Zitationshilfe: Vischer, Friedrich Theodor von: Ästhetik oder Wissenschaft des Schönen. Bd. 2,2. Reutlingen u. a., 1848, S. 385. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/vischer_aesthetik0202_1848/99>, abgerufen am 24.11.2024.