rauhen Bedingungen der Wirklichkeit im Großen als Fessel fühlt und demjenigen nachgeht, was man vorzugsweise das allgemein oder rein Menschliche nennt. Göthe z. B. war so organisirt, er hatte eine gewisse Scheu vor der Herbheit der Geschichte, Schiller aber war ganz politischer Geist.
Einem Solchen nun ist die Geschichte aufgeschlagen, die großen Männer, Thaten und Schicksale mit bestimmten Namen, aus bestimmten Zeiten überliefert. Hier brauchen wir nur anzudeuten, wie den Einen die alte, den Andern die mittlere, den Dritten die neuere Zeit anziehen, wie es wieder für den Charakter besonderer Perioden einen besondern Sinn geben wird, um auf die Mannigfaltigkeit der Organisationen, in die sich diese Art verzweigt, hinzudeuten.
2. Hält man zuerst die Reihen, welche durch die Arten innerhalb dieses Eintheilungsgrunds entstehen, zusammen, so bilden sich auch hier neue Combinationslinien. Die landschaftliche Phantasie kann sich mit der thierischen und menschlichen verbinden und wird im letzteren Fall gern die Culturformen der Völker in Verbindung mit der Thierwelt, Hirtenleben, Jagd, wandernde Horden, Schlachten und dergl. zum Stoffe nehmen. Schreitet die allgemein menschliche Phantasie auf den Boden der geschicht- lichen über, so wird sie das rein Menschliche an das Leben der Staaten knüpfen, wie Shakespeare in Romeo und Lear, Göthe in Hermann und Dorothea, leicht aber die politische Grundbedeutung der Epochen über- sehen, wie Göthe im Götz und in den fatalen Lustspielen, deren Stoff die französische Revolution ist; sie wird aber auch die Naturvölker und das Alterthum besonders lieben, es wäre denn die Unterart, die das Psy- chologische des individuellen Lebens in die Tiefe verfolgt: diese wird Fa- milien-, Bildungs-Stoffe in der neueren Geschichte suchen. Legt sich aber die geschichtliche Phantasie in die Landschaft, in die thierische Schönheit, in die Culturformen und das Privatleben, so wird sie alle diese Sphären in einem großartig monumentalen oder stark und mächtig bewegten Geiste behandeln. Interessante Beziehungen ergeben sich weiter, wenn man die eben schon berührten engeren Kreise oder Unterarten weiter zusammenhält: die Phantasie z. B., welche der natürlichen menschlichen Schönheit (der Gestalt) nachgeht, wird, wenn sie in Familienscenen übergeht, idyllische, naive lieber, als kampfvolle, wenigstens als zerrissene Scenen, wenn sie sich auf den Boden der Stände begiebt, solche suchen, die geruhig mit der Natur verkehren, Fischfang und dergl. Wir überlassen weitere Combina- tionen dem Leser.
Nun stellt sich aber dieses ganze Gebiet mit dem des vorh. §. zu- sammen und da kommt in diese Masse schon schärfere Bestimmtheit, aber auch zugleich so viel neuer Reichthum, daß wir nur Winke geben können.
rauhen Bedingungen der Wirklichkeit im Großen als Feſſel fühlt und demjenigen nachgeht, was man vorzugsweiſe das allgemein oder rein Menſchliche nennt. Göthe z. B. war ſo organiſirt, er hatte eine gewiſſe Scheu vor der Herbheit der Geſchichte, Schiller aber war ganz politiſcher Geiſt.
Einem Solchen nun iſt die Geſchichte aufgeſchlagen, die großen Männer, Thaten und Schickſale mit beſtimmten Namen, aus beſtimmten Zeiten überliefert. Hier brauchen wir nur anzudeuten, wie den Einen die alte, den Andern die mittlere, den Dritten die neuere Zeit anziehen, wie es wieder für den Charakter beſonderer Perioden einen beſondern Sinn geben wird, um auf die Mannigfaltigkeit der Organiſationen, in die ſich dieſe Art verzweigt, hinzudeuten.
2. Hält man zuerſt die Reihen, welche durch die Arten innerhalb dieſes Eintheilungsgrunds entſtehen, zuſammen, ſo bilden ſich auch hier neue Combinationslinien. Die landſchaftliche Phantaſie kann ſich mit der thieriſchen und menſchlichen verbinden und wird im letzteren Fall gern die Culturformen der Völker in Verbindung mit der Thierwelt, Hirtenleben, Jagd, wandernde Horden, Schlachten und dergl. zum Stoffe nehmen. Schreitet die allgemein menſchliche Phantaſie auf den Boden der geſchicht- lichen über, ſo wird ſie das rein Menſchliche an das Leben der Staaten knüpfen, wie Shakespeare in Romeo und Lear, Göthe in Hermann und Dorothea, leicht aber die politiſche Grundbedeutung der Epochen über- ſehen, wie Göthe im Götz und in den fatalen Luſtſpielen, deren Stoff die franzöſiſche Revolution iſt; ſie wird aber auch die Naturvölker und das Alterthum beſonders lieben, es wäre denn die Unterart, die das Pſy- chologiſche des individuellen Lebens in die Tiefe verfolgt: dieſe wird Fa- milien-, Bildungs-Stoffe in der neueren Geſchichte ſuchen. Legt ſich aber die geſchichtliche Phantaſie in die Landſchaft, in die thieriſche Schönheit, in die Culturformen und das Privatleben, ſo wird ſie alle dieſe Sphären in einem großartig monumentalen oder ſtark und mächtig bewegten Geiſte behandeln. Intereſſante Beziehungen ergeben ſich weiter, wenn man die eben ſchon berührten engeren Kreiſe oder Unterarten weiter zuſammenhält: die Phantaſie z. B., welche der natürlichen menſchlichen Schönheit (der Geſtalt) nachgeht, wird, wenn ſie in Familienſcenen übergeht, idylliſche, naive lieber, als kampfvolle, wenigſtens als zerriſſene Scenen, wenn ſie ſich auf den Boden der Stände begiebt, ſolche ſuchen, die geruhig mit der Natur verkehren, Fiſchfang und dergl. Wir überlaſſen weitere Combina- tionen dem Leſer.
Nun ſtellt ſich aber dieſes ganze Gebiet mit dem des vorh. §. zu- ſammen und da kommt in dieſe Maſſe ſchon ſchärfere Beſtimmtheit, aber auch zugleich ſo viel neuer Reichthum, daß wir nur Winke geben können.
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rauhen Bedingungen der Wirklichkeit im Großen als Feſſel fühlt und
demjenigen nachgeht, was man vorzugsweiſe das allgemein oder rein
Menſchliche nennt. Göthe z. B. war ſo organiſirt, er hatte eine gewiſſe
Scheu vor der Herbheit der Geſchichte, Schiller aber war ganz politiſcher
Geiſt.
Einem Solchen nun iſt die Geſchichte aufgeſchlagen, die großen
Männer, Thaten und Schickſale mit beſtimmten Namen, aus beſtimmten
Zeiten überliefert. Hier brauchen wir nur anzudeuten, wie den Einen
die alte, den Andern die mittlere, den Dritten die neuere Zeit anziehen,
wie es wieder für den Charakter beſonderer Perioden einen beſondern
Sinn geben wird, um auf die Mannigfaltigkeit der Organiſationen, in
die ſich dieſe Art verzweigt, hinzudeuten.
2. Hält man zuerſt die Reihen, welche durch die Arten innerhalb
dieſes Eintheilungsgrunds entſtehen, zuſammen, ſo bilden ſich auch hier
neue Combinationslinien. Die landſchaftliche Phantaſie kann ſich mit der
thieriſchen und menſchlichen verbinden und wird im letzteren Fall gern die
Culturformen der Völker in Verbindung mit der Thierwelt, Hirtenleben,
Jagd, wandernde Horden, Schlachten und dergl. zum Stoffe nehmen.
Schreitet die allgemein menſchliche Phantaſie auf den Boden der geſchicht-
lichen über, ſo wird ſie das rein Menſchliche an das Leben der Staaten
knüpfen, wie Shakespeare in Romeo und Lear, Göthe in Hermann und
Dorothea, leicht aber die politiſche Grundbedeutung der Epochen über-
ſehen, wie Göthe im Götz und in den fatalen Luſtſpielen, deren Stoff
die franzöſiſche Revolution iſt; ſie wird aber auch die Naturvölker und
das Alterthum beſonders lieben, es wäre denn die Unterart, die das Pſy-
chologiſche des individuellen Lebens in die Tiefe verfolgt: dieſe wird Fa-
milien-, Bildungs-Stoffe in der neueren Geſchichte ſuchen. Legt ſich aber
die geſchichtliche Phantaſie in die Landſchaft, in die thieriſche Schönheit,
in die Culturformen und das Privatleben, ſo wird ſie alle dieſe Sphären
in einem großartig monumentalen oder ſtark und mächtig bewegten Geiſte
behandeln. Intereſſante Beziehungen ergeben ſich weiter, wenn man die
eben ſchon berührten engeren Kreiſe oder Unterarten weiter zuſammenhält:
die Phantaſie z. B., welche der natürlichen menſchlichen Schönheit (der
Geſtalt) nachgeht, wird, wenn ſie in Familienſcenen übergeht, idylliſche,
naive lieber, als kampfvolle, wenigſtens als zerriſſene Scenen, wenn ſie
ſich auf den Boden der Stände begiebt, ſolche ſuchen, die geruhig mit der
Natur verkehren, Fiſchfang und dergl. Wir überlaſſen weitere Combina-
tionen dem Leſer.
Nun ſtellt ſich aber dieſes ganze Gebiet mit dem des vorh. §. zu-
ſammen und da kommt in dieſe Maſſe ſchon ſchärfere Beſtimmtheit, aber
auch zugleich ſo viel neuer Reichthum, daß wir nur Winke geben können.
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Vischer, Friedrich Theodor von: Ästhetik oder Wissenschaft des Schönen. Bd. 2,2. Reutlingen u. a., 1848, S. 376. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/vischer_aesthetik0202_1848/90>, abgerufen am 16.02.2025.
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