liche Macht und die vielen Landesherren in Deutschland mit Gewalt ab- zuwerfen. Alle großen Männer der Zeit könnten um ihn gruppirt werden. Der Bauernkrieg war schon im Ausbrechen, wurde aber erst zwei Jahre später unterdrückt; es wäre aber nicht nur erlaubt, sondern gefordert, hier einen Anachronismus zu begehen und Sickingen auch diese tragische Ka- tastrophe noch erleben zu lassen. -- Das Endschicksal nun wird in den großen Stoffen meist in der Hauptsache so gegeben sein, daß wesentliche Umänderung Sünde wäre, wie wenn Julius Cäsar, Wallenstein glücklich endigen sollten. Sagenstoffe dagegen werden eher, aber auch nur in sel- tenen Fällen, eine Freiheit abweichenden positiv oder negativ tragischen Schlusses zulassen. Antigone, Macbeth, Othello, Lear mit glücklichem Ende nur zu denken ist verkehrt; die Hamletsage aber ließ eine Umbildung ihres glücklichen Schlusses in einen unglücklichen deßwegen zu, weil sie die Eintragung eines zerrissenen Innern in das Seelenleben des Helden zuließ. Natürlich hindert aber überall nichts, das Ende reiner zu moti- viren und zu gestalten, wie z. B. den Tod der Jungfrau von Orleans, oder wenn Jemand Ulrich von Huttens Tod als Verzehrung aus Gram darstellen wollte, der doch aus einem zufälligen Uebel hervorgieng. In kleineren, engeren Stoffen aber, in welchen die Zustände der Gesellschaft, der Familie, des Privatlebens, an sich zwar höchst bedeutend, aber doch abliegend vom großen Schauplatze der Geschichte, sich spiegeln, hat die Phantasie durchaus freiere Hand in der Gestaltung des Endschicksals. Da spielt der Zufall eine andere Rolle, da kann in der Wirklichkeit etwas offenbar tragisch Angelegtes glücklich auslaufen und umgekehrt, während dagegen im politischen Leben so reiche und mächtige Kräfte wirken, daß Schuld und Schicksal mit strengerer Nothwendigkeit zusammenhängen (nur daß man darüber, wie oben erinnert ist, nicht vergessen darf, wie Vieles auch hier für die schöpferische Phantasie im Ganzen des Stoffes noch zu thun bleibt). Zudem legt sich natürlich in die Stoffe aus engerer Sphäre ungleich mehr mit ihren eigenen Erfahrungen die Persönlichkeit des schaf- fenden Subjects und benützt das geschichtlich Gegebene nur als frucht- baren Keim.
Was nun die Culturformen betrifft, so gewinnt Hegel (Aesth. B. 1, S. 339--360) aus einer sehr belehrenden Gegenüberstellung der Extreme archivarischer Genauigkeit und schreiender Verletzung der historischen Treue aus Unwissenheit oder Hochmuth den Begriff des rechten Maaßes. Vom zweiten gibt die beste Anschauung das classische Theater der Fran- zosen zur Zeit Ludwigs XIV; es war freilich nicht nur das Kostüm ver- fehlt, sondern mit der Sitte und Anschauungsweise des Alterthums über- haupt sein ganzer Ton und Habitus und davon ist der französischen Darstellung immer etwas anzufühlen, sie bringt in Alles einen Schnitt,
liche Macht und die vielen Landesherren in Deutſchland mit Gewalt ab- zuwerfen. Alle großen Männer der Zeit könnten um ihn gruppirt werden. Der Bauernkrieg war ſchon im Ausbrechen, wurde aber erſt zwei Jahre ſpäter unterdrückt; es wäre aber nicht nur erlaubt, ſondern gefordert, hier einen Anachroniſmus zu begehen und Sickingen auch dieſe tragiſche Ka- taſtrophe noch erleben zu laſſen. — Das Endſchickſal nun wird in den großen Stoffen meiſt in der Hauptſache ſo gegeben ſein, daß weſentliche Umänderung Sünde wäre, wie wenn Julius Cäſar, Wallenſtein glücklich endigen ſollten. Sagenſtoffe dagegen werden eher, aber auch nur in ſel- tenen Fällen, eine Freiheit abweichenden poſitiv oder negativ tragiſchen Schluſſes zulaſſen. Antigone, Macbeth, Othello, Lear mit glücklichem Ende nur zu denken iſt verkehrt; die Hamletſage aber ließ eine Umbildung ihres glücklichen Schluſſes in einen unglücklichen deßwegen zu, weil ſie die Eintragung eines zerriſſenen Innern in das Seelenleben des Helden zuließ. Natürlich hindert aber überall nichts, das Ende reiner zu moti- viren und zu geſtalten, wie z. B. den Tod der Jungfrau von Orleans, oder wenn Jemand Ulrich von Huttens Tod als Verzehrung aus Gram darſtellen wollte, der doch aus einem zufälligen Uebel hervorgieng. In kleineren, engeren Stoffen aber, in welchen die Zuſtände der Geſellſchaft, der Familie, des Privatlebens, an ſich zwar höchſt bedeutend, aber doch abliegend vom großen Schauplatze der Geſchichte, ſich ſpiegeln, hat die Phantaſie durchaus freiere Hand in der Geſtaltung des Endſchickſals. Da ſpielt der Zufall eine andere Rolle, da kann in der Wirklichkeit etwas offenbar tragiſch Angelegtes glücklich auslaufen und umgekehrt, während dagegen im politiſchen Leben ſo reiche und mächtige Kräfte wirken, daß Schuld und Schickſal mit ſtrengerer Nothwendigkeit zuſammenhängen (nur daß man darüber, wie oben erinnert iſt, nicht vergeſſen darf, wie Vieles auch hier für die ſchöpferiſche Phantaſie im Ganzen des Stoffes noch zu thun bleibt). Zudem legt ſich natürlich in die Stoffe aus engerer Sphäre ungleich mehr mit ihren eigenen Erfahrungen die Perſönlichkeit des ſchaf- fenden Subjects und benützt das geſchichtlich Gegebene nur als frucht- baren Keim.
Was nun die Culturformen betrifft, ſo gewinnt Hegel (Aeſth. B. 1, S. 339—360) aus einer ſehr belehrenden Gegenüberſtellung der Extreme archivariſcher Genauigkeit und ſchreiender Verletzung der hiſtoriſchen Treue aus Unwiſſenheit oder Hochmuth den Begriff des rechten Maaßes. Vom zweiten gibt die beſte Anſchauung das claſſiſche Theater der Fran- zoſen zur Zeit Ludwigs XIV; es war freilich nicht nur das Koſtüm ver- fehlt, ſondern mit der Sitte und Anſchauungsweiſe des Alterthums über- haupt ſein ganzer Ton und Habitus und davon iſt der franzöſiſchen Darſtellung immer etwas anzufühlen, ſie bringt in Alles einen Schnitt,
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liche Macht und die vielen Landesherren in Deutſchland mit Gewalt ab-
zuwerfen. Alle großen Männer der Zeit könnten um ihn gruppirt werden.
Der Bauernkrieg war ſchon im Ausbrechen, wurde aber erſt zwei Jahre
ſpäter unterdrückt; es wäre aber nicht nur erlaubt, ſondern gefordert, hier
einen Anachroniſmus zu begehen und Sickingen auch dieſe tragiſche Ka-
taſtrophe noch erleben zu laſſen. — Das Endſchickſal nun wird in den
großen Stoffen meiſt in der Hauptſache ſo gegeben ſein, daß weſentliche
Umänderung Sünde wäre, wie wenn Julius Cäſar, Wallenſtein glücklich
endigen ſollten. Sagenſtoffe dagegen werden eher, aber auch nur in ſel-
tenen Fällen, eine Freiheit abweichenden poſitiv oder negativ tragiſchen
Schluſſes zulaſſen. Antigone, Macbeth, Othello, Lear mit glücklichem Ende
nur zu denken iſt verkehrt; die Hamletſage aber ließ eine Umbildung
ihres glücklichen Schluſſes in einen unglücklichen deßwegen zu, weil ſie
die Eintragung eines zerriſſenen Innern in das Seelenleben des Helden
zuließ. Natürlich hindert aber überall nichts, das Ende reiner zu moti-
viren und zu geſtalten, wie z. B. den Tod der Jungfrau von Orleans,
oder wenn Jemand Ulrich von Huttens Tod als Verzehrung aus Gram
darſtellen wollte, der doch aus einem zufälligen Uebel hervorgieng. In
kleineren, engeren Stoffen aber, in welchen die Zuſtände der Geſellſchaft,
der Familie, des Privatlebens, an ſich zwar höchſt bedeutend, aber doch
abliegend vom großen Schauplatze der Geſchichte, ſich ſpiegeln, hat die
Phantaſie durchaus freiere Hand in der Geſtaltung des Endſchickſals.
Da ſpielt der Zufall eine andere Rolle, da kann in der Wirklichkeit etwas
offenbar tragiſch Angelegtes glücklich auslaufen und umgekehrt, während
dagegen im politiſchen Leben ſo reiche und mächtige Kräfte wirken, daß
Schuld und Schickſal mit ſtrengerer Nothwendigkeit zuſammenhängen (nur
daß man darüber, wie oben erinnert iſt, nicht vergeſſen darf, wie Vieles
auch hier für die ſchöpferiſche Phantaſie im Ganzen des Stoffes noch zu
thun bleibt). Zudem legt ſich natürlich in die Stoffe aus engerer Sphäre
ungleich mehr mit ihren eigenen Erfahrungen die Perſönlichkeit des ſchaf-
fenden Subjects und benützt das geſchichtlich Gegebene nur als frucht-
baren Keim.
Was nun die Culturformen betrifft, ſo gewinnt Hegel (Aeſth. B. 1,
S. 339—360) aus einer ſehr belehrenden Gegenüberſtellung der Extreme
archivariſcher Genauigkeit und ſchreiender Verletzung der hiſtoriſchen
Treue aus Unwiſſenheit oder Hochmuth den Begriff des rechten Maaßes.
Vom zweiten gibt die beſte Anſchauung das claſſiſche Theater der Fran-
zoſen zur Zeit Ludwigs XIV; es war freilich nicht nur das Koſtüm ver-
fehlt, ſondern mit der Sitte und Anſchauungsweiſe des Alterthums über-
haupt ſein ganzer Ton und Habitus und davon iſt der franzöſiſchen
Darſtellung immer etwas anzufühlen, ſie bringt in Alles einen Schnitt,
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Vischer, Friedrich Theodor von: Ästhetik oder Wissenschaft des Schönen. Bd. 2,2. Reutlingen u. a., 1848, S. 368. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/vischer_aesthetik0202_1848/82>, abgerufen am 08.07.2024.
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