Mängel des Bildes erster Hand (des Naturschönen) auf und kehrt zum göttlichen Urbilde zurück; das Naturschöne ist die Mitte zwischen diesem und seiner Herstellung durch den Menschengeist; gerade weil das zweite Bild Scheinbild ist, tilgt es die Mängel des ersten und nie steht Plato mit seiner Ideelehre in gröberem Widerspruch, als wenn er so den Schein verkennt.
Das so erzeugte Schöne nun ist das Ideal, zunächst das innere der Phantasie; nach Kant (a. a. O. §. 17) "die Vorstellung eines einzelnen als einer (richtiger: seiner) Idee adäquaten Wesens." Wir brauchen keine weitere Definition, als den Zusatz zu unserem §. 14, daß das Schöne, wie es dort bestimmt ist, seine wahre Wirklichkeit durch die Thätigkeit der Phantasie erlange, eine Thätigkeit, welche aber das Naturschöne als Stoff voraussetzt. Nach der zu §. 379 angeführten Klage über die Seltenheit schöner Weiber fährt Raphael in seinem Briefe an Castiglione fort, er bediene sich um dieser Theurung des Stoffes willen di certa idea, che mi viene nella mente. Das Naive davon ist, daß es danach scheint, als bilde der Künstler entweder nach schönen Modellen, oder in Ermang- lung derselben nach einem Phantasiebilde; und ebenso steht es mit der bekannten Aeußerung Cicero's (Orat. 3), welche von Phidias sagt, daß sein Jupiter, seine Minerva nicht nach einem Modell geschaffen wurde: sed ipsius in mente insidebat species pulchritudinis eximia quaedam, quam intuens in eaque defixus ad illius similitudinem artem et manum dirigebat. Das Phantasiebild ist immer das lebendige Ineinander eines naturschönen Stoffs und des ganzen Gehalts mit der ganzen Formthätigkeit des Künst- lergeistes. Freilich Raphael hat dort seine Galathea, Cicero hat Götter- bilder im Auge, und diese sind kein in der Natur gegebener Stoff. Allein wir haben zum Stoffe auch Solches gerechnet, was durch Kunde überlie- fert wird, zunächst das Geschichtliche. Zu diesem werden wir im folg. Abschnitt eine neue Stoffmasse treten sehen: das ganze Gebiet der religiö- sen Vorstellung, welche, zunächst selbst eine Art von Production des Schönen durch Phantasie, doch selbst wieder ihre noch unreifen Bilder als Stoff der freieren, rein ästhetischen Phantasie überliefert. Hier ist also das über- lieferte Sagenbild das Naturschöne, in dessen Umbildung die Phantasie thätig ist. Soll nun diese ihr Bild zur objectiven Ausführung bringen, so entsteht die Frage, ob sie sich nicht noch außerdem nach eigentlich naturschönen Objecten als Vorlagen umsehen soll: diese Frage gehört aber nicht hieher, sondern in die Kunstlehre. Es handelt sich da von dem nachträglichen Benützen von Modellen, und erst, wenn das Natur- schöne auch in dieser zweiten Instanz zur Sprache kommt, ist die Frage über Naturnachahmung in der Kunst spruchreif; vorbereitet aber haben wir allerdings die Sache zur leichten und raschen Lösung.
Mängel des Bildes erſter Hand (des Naturſchönen) auf und kehrt zum göttlichen Urbilde zurück; das Naturſchöne iſt die Mitte zwiſchen dieſem und ſeiner Herſtellung durch den Menſchengeiſt; gerade weil das zweite Bild Scheinbild iſt, tilgt es die Mängel des erſten und nie ſteht Plato mit ſeiner Ideelehre in gröberem Widerſpruch, als wenn er ſo den Schein verkennt.
Das ſo erzeugte Schöne nun iſt das Ideal, zunächſt das innere der Phantaſie; nach Kant (a. a. O. §. 17) „die Vorſtellung eines einzelnen als einer (richtiger: ſeiner) Idee adäquaten Weſens.“ Wir brauchen keine weitere Definition, als den Zuſatz zu unſerem §. 14, daß das Schöne, wie es dort beſtimmt iſt, ſeine wahre Wirklichkeit durch die Thätigkeit der Phantaſie erlange, eine Thätigkeit, welche aber das Naturſchöne als Stoff vorausſetzt. Nach der zu §. 379 angeführten Klage über die Seltenheit ſchöner Weiber fährt Raphael in ſeinem Briefe an Caſtiglione fort, er bediene ſich um dieſer Theurung des Stoffes willen di certa idea, che mi viene nella mente. Das Naive davon iſt, daß es danach ſcheint, als bilde der Künſtler entweder nach ſchönen Modellen, oder in Ermang- lung derſelben nach einem Phantaſiebilde; und ebenſo ſteht es mit der bekannten Aeußerung Cicero’s (Orat. 3), welche von Phidias ſagt, daß ſein Jupiter, ſeine Minerva nicht nach einem Modell geſchaffen wurde: sed ipsius in mente insidebat species pulchritudinis eximia quædam, quam intuens in eaque defixus ad illius similitudinem artem et manum dirigebat. Das Phantaſiebild iſt immer das lebendige Ineinander eines naturſchönen Stoffs und des ganzen Gehalts mit der ganzen Formthätigkeit des Künſt- lergeiſtes. Freilich Raphael hat dort ſeine Galathea, Cicero hat Götter- bilder im Auge, und dieſe ſind kein in der Natur gegebener Stoff. Allein wir haben zum Stoffe auch Solches gerechnet, was durch Kunde überlie- fert wird, zunächſt das Geſchichtliche. Zu dieſem werden wir im folg. Abſchnitt eine neue Stoffmaſſe treten ſehen: das ganze Gebiet der religiö- ſen Vorſtellung, welche, zunächſt ſelbſt eine Art von Production des Schönen durch Phantaſie, doch ſelbſt wieder ihre noch unreifen Bilder als Stoff der freieren, rein äſthetiſchen Phantaſie überliefert. Hier iſt alſo das über- lieferte Sagenbild das Naturſchöne, in deſſen Umbildung die Phantaſie thätig iſt. Soll nun dieſe ihr Bild zur objectiven Ausführung bringen, ſo entſteht die Frage, ob ſie ſich nicht noch außerdem nach eigentlich naturſchönen Objecten als Vorlagen umſehen ſoll: dieſe Frage gehört aber nicht hieher, ſondern in die Kunſtlehre. Es handelt ſich da von dem nachträglichen Benützen von Modellen, und erſt, wenn das Natur- ſchöne auch in dieſer zweiten Inſtanz zur Sprache kommt, iſt die Frage über Naturnachahmung in der Kunſt ſpruchreif; vorbereitet aber haben wir allerdings die Sache zur leichten und raſchen Löſung.
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Mängel des Bildes erſter Hand (des Naturſchönen) auf und kehrt zum
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und ſeiner Herſtellung durch den Menſchengeiſt; gerade weil das zweite
Bild Scheinbild iſt, tilgt es die Mängel des erſten und nie ſteht Plato mit
ſeiner Ideelehre in gröberem Widerſpruch, als wenn er ſo den Schein
verkennt.
Das ſo erzeugte Schöne nun iſt das Ideal, zunächſt das innere der
Phantaſie; nach Kant (a. a. O. §. 17) „die Vorſtellung eines einzelnen
als einer (richtiger: ſeiner) Idee adäquaten Weſens.“ Wir brauchen
keine weitere Definition, als den Zuſatz zu unſerem §. 14, daß das Schöne,
wie es dort beſtimmt iſt, ſeine wahre Wirklichkeit durch die Thätigkeit der
Phantaſie erlange, eine Thätigkeit, welche aber das Naturſchöne als Stoff
vorausſetzt. Nach der zu §. 379 angeführten Klage über die Seltenheit
ſchöner Weiber fährt Raphael in ſeinem Briefe an Caſtiglione fort,
er bediene ſich um dieſer Theurung des Stoffes willen di certa idea, che
mi viene nella mente. Das Naive davon iſt, daß es danach ſcheint, als
bilde der Künſtler entweder nach ſchönen Modellen, oder in Ermang-
lung derſelben nach einem Phantaſiebilde; und ebenſo ſteht es mit der
bekannten Aeußerung Cicero’s (Orat. 3), welche von Phidias ſagt, daß
ſein Jupiter, ſeine Minerva nicht nach einem Modell geſchaffen wurde: sed
ipsius in mente insidebat species pulchritudinis eximia quædam, quam
intuens in eaque defixus ad illius similitudinem artem et manum dirigebat.
Das Phantaſiebild iſt immer das lebendige Ineinander eines naturſchönen
Stoffs und des ganzen Gehalts mit der ganzen Formthätigkeit des Künſt-
lergeiſtes. Freilich Raphael hat dort ſeine Galathea, Cicero hat Götter-
bilder im Auge, und dieſe ſind kein in der Natur gegebener Stoff. Allein
wir haben zum Stoffe auch Solches gerechnet, was durch Kunde überlie-
fert wird, zunächſt das Geſchichtliche. Zu dieſem werden wir im folg.
Abſchnitt eine neue Stoffmaſſe treten ſehen: das ganze Gebiet der religiö-
ſen Vorſtellung, welche, zunächſt ſelbſt eine Art von Production des Schönen
durch Phantaſie, doch ſelbſt wieder ihre noch unreifen Bilder als Stoff
der freieren, rein äſthetiſchen Phantaſie überliefert. Hier iſt alſo das über-
lieferte Sagenbild das Naturſchöne, in deſſen Umbildung die Phantaſie
thätig iſt. Soll nun dieſe ihr Bild zur objectiven Ausführung bringen,
ſo entſteht die Frage, ob ſie ſich nicht noch außerdem nach eigentlich
naturſchönen Objecten als Vorlagen umſehen ſoll: dieſe Frage gehört
aber nicht hieher, ſondern in die Kunſtlehre. Es handelt ſich da von dem
nachträglichen Benützen von Modellen, und erſt, wenn das Natur-
ſchöne auch in dieſer zweiten Inſtanz zur Sprache kommt, iſt die Frage
über Naturnachahmung in der Kunſt ſpruchreif; vorbereitet aber haben
wir allerdings die Sache zur leichten und raſchen Löſung.
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Vischer, Friedrich Theodor von: Ästhetik oder Wissenschaft des Schönen. Bd. 2,2. Reutlingen u. a., 1848, S. 360. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/vischer_aesthetik0202_1848/74>, abgerufen am 16.02.2025.
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