in derselben Spezies unterlegte, aber in keinem einzelnen völlig erreicht zu haben scheint." Dann fährt er fort, diese Normal-Idee sei keineswegs das ganze Urbild der Schönheit in dieser Gattung, sondern nur die Form, welche die unnachläßliche Bedingung aller Schönheit, mithin blos die Richtigkeit in der Darstellung der Gattung ausmache, ihre Darstellung sei nur schulgerecht, habe nichts Charakteristisches (unter diesem versteht er die individuelle Eigenheit s. uns. §. 39 und die zu diesem §. gegebene Anm. Kants). Nun meint man, er werde die Bestimmung des Individuel- len in diese abstracte Gestalt aufzunehmen suchen und so das eigentliche Ideal, die Schönheit, entstehen lassen. Statt dessen vergißt er nun das "Charakteristische" alsbald wieder ganz und fordert zur Entstehung des Ideals den "sichtbaren Ausdruck sittlicher Ideen"! Als ob jene sogenannte Normalidee blos vom plastischen Kanon gälte und nicht vielmehr überhaupt von jeder Art des Daseins, den Ausdruck seines Wesens, im Menschen also des Sittlichen, so daß er in einem gewissen, abstracten Durchschnitte genom- men wird, miteingeschlossen, müßte gebildet werden können. In unserer Entwicklung ist das innere Leben des Gegenstands, also auch das sittliche, als ergossen in die Form im Voraus mit inbegriffen; nicht nur dieß, son- dern das innere Leben des Objects liegt uns bereits vor als ein durch- wärmtes, mit dem in es eingeströmten Leben des phantasiereichen Subjects verdoppeltes. Nicht also sittlicher Ausdruck, denn dieser gehört an sich schon zur Sache, fehlt jener sogenannten Normalidee, sondern Individualität. Daß dieß die Aufgabe sei, -- die Einheit des Allgemeinen und Indivi- duellen im Schönen zu erklären --, hat auch Winkelmann übersehen, wenn er kurzweg die Sache bei einem Entweder Oder stehen läßt: die schöne Bildung ist entweder individuell "auf das Einzelne gerichtet," oder "ideal, eine Wahl schöner Theile aus vielen einzelnen und Verbindung in Eins." Dann setzt er aber im Gefühle der Schiefheit dieser Bestimmung hinzu: "jedoch mit dieser Erinnerung, daß etwas idealisch heißen kann, ohne schön zu sein," und führt dafür die ägyptischen Figuren an, in wel- chen weder Muskeln, noch Nerven, noch Adern angedeutet sind. (Kunstgesch. B. 4, Cap. 2, §. 25). So fallen ihm alle Momente des Schönen aus- einander, ein Uebelstand, der uns nicht mehr begegnen kann, nachdem wir den ganzen Prozeß der Entstehung des Schönen von einem individuellen Naturschönen abgeleitet haben. Sollen wir daher die Richtigkeit jener Kantischen Erklärung aus einer verhüllten Division prüfen, so ist die Ge- staltbildung, von welcher dieselbe gelten soll, für uns eine ganz andere. Vor Allem nämlich müssen wir jene sogenannte Normalidee oder was Winkelmann auch idealisch nennt, ganz zur Seite werfen. Der Kanon ist etwas ganz Abstractes, was wirklich und buchstäblich gemessen werden kann, weder eine Idee, noch ein Ideal, sondern nur eine Vorstellung,
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in derſelben Spezies unterlegte, aber in keinem einzelnen völlig erreicht zu haben ſcheint.“ Dann fährt er fort, dieſe Normal-Idee ſei keineswegs das ganze Urbild der Schönheit in dieſer Gattung, ſondern nur die Form, welche die unnachläßliche Bedingung aller Schönheit, mithin blos die Richtigkeit in der Darſtellung der Gattung ausmache, ihre Darſtellung ſei nur ſchulgerecht, habe nichts Charakteriſtiſches (unter dieſem verſteht er die individuelle Eigenheit ſ. unſ. §. 39 und die zu dieſem §. gegebene Anm. Kants). Nun meint man, er werde die Beſtimmung des Individuel- len in dieſe abſtracte Geſtalt aufzunehmen ſuchen und ſo das eigentliche Ideal, die Schönheit, entſtehen laſſen. Statt deſſen vergißt er nun das „Charakteriſtiſche“ alsbald wieder ganz und fordert zur Entſtehung des Ideals den „ſichtbaren Ausdruck ſittlicher Ideen“! Als ob jene ſogenannte Normalidee blos vom plaſtiſchen Kanon gälte und nicht vielmehr überhaupt von jeder Art des Daſeins, den Ausdruck ſeines Weſens, im Menſchen alſo des Sittlichen, ſo daß er in einem gewiſſen, abſtracten Durchſchnitte genom- men wird, miteingeſchloſſen, müßte gebildet werden können. In unſerer Entwicklung iſt das innere Leben des Gegenſtands, alſo auch das ſittliche, als ergoſſen in die Form im Voraus mit inbegriffen; nicht nur dieß, ſon- dern das innere Leben des Objects liegt uns bereits vor als ein durch- wärmtes, mit dem in es eingeſtrömten Leben des phantaſiereichen Subjects verdoppeltes. Nicht alſo ſittlicher Ausdruck, denn dieſer gehört an ſich ſchon zur Sache, fehlt jener ſogenannten Normalidee, ſondern Individualität. Daß dieß die Aufgabe ſei, — die Einheit des Allgemeinen und Indivi- duellen im Schönen zu erklären —, hat auch Winkelmann überſehen, wenn er kurzweg die Sache bei einem Entweder Oder ſtehen läßt: die ſchöne Bildung iſt entweder individuell „auf das Einzelne gerichtet,“ oder „ideal, eine Wahl ſchöner Theile aus vielen einzelnen und Verbindung in Eins.“ Dann ſetzt er aber im Gefühle der Schiefheit dieſer Beſtimmung hinzu: „jedoch mit dieſer Erinnerung, daß etwas idealiſch heißen kann, ohne ſchön zu ſein,“ und führt dafür die ägyptiſchen Figuren an, in wel- chen weder Muſkeln, noch Nerven, noch Adern angedeutet ſind. (Kunſtgeſch. B. 4, Cap. 2, §. 25). So fallen ihm alle Momente des Schönen aus- einander, ein Uebelſtand, der uns nicht mehr begegnen kann, nachdem wir den ganzen Prozeß der Entſtehung des Schönen von einem individuellen Naturſchönen abgeleitet haben. Sollen wir daher die Richtigkeit jener Kantiſchen Erklärung aus einer verhüllten Diviſion prüfen, ſo iſt die Ge- ſtaltbildung, von welcher dieſelbe gelten ſoll, für uns eine ganz andere. Vor Allem nämlich müſſen wir jene ſogenannte Normalidee oder was Winkelmann auch idealiſch nennt, ganz zur Seite werfen. Der Kanon iſt etwas ganz Abſtractes, was wirklich und buchſtäblich gemeſſen werden kann, weder eine Idee, noch ein Ideal, ſondern nur eine Vorſtellung,
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in derſelben Spezies unterlegte, aber in keinem einzelnen völlig erreicht
zu haben ſcheint.“ Dann fährt er fort, dieſe Normal-Idee ſei keineswegs
das ganze Urbild der Schönheit in dieſer Gattung, ſondern nur die Form,
welche die unnachläßliche Bedingung aller Schönheit, mithin blos die
Richtigkeit in der Darſtellung der Gattung ausmache, ihre Darſtellung
ſei nur ſchulgerecht, habe nichts Charakteriſtiſches (unter dieſem verſteht
er die individuelle Eigenheit ſ. unſ. §. 39 und die zu dieſem §. gegebene
Anm. Kants). Nun meint man, er werde die Beſtimmung des Individuel-
len in dieſe abſtracte Geſtalt aufzunehmen ſuchen und ſo das eigentliche
Ideal, die Schönheit, entſtehen laſſen. Statt deſſen vergißt er nun das
„Charakteriſtiſche“ alsbald wieder ganz und fordert zur Entſtehung des
Ideals den „ſichtbaren Ausdruck ſittlicher Ideen“! Als ob jene ſogenannte
Normalidee blos vom plaſtiſchen Kanon gälte und nicht vielmehr überhaupt
von jeder Art des Daſeins, den Ausdruck ſeines Weſens, im Menſchen alſo
des Sittlichen, ſo daß er in einem gewiſſen, abſtracten Durchſchnitte genom-
men wird, miteingeſchloſſen, müßte gebildet werden können. In unſerer
Entwicklung iſt das innere Leben des Gegenſtands, alſo auch das ſittliche,
als ergoſſen in die Form im Voraus mit inbegriffen; nicht nur dieß, ſon-
dern das innere Leben des Objects liegt uns bereits vor als ein durch-
wärmtes, mit dem in es eingeſtrömten Leben des phantaſiereichen Subjects
verdoppeltes. Nicht alſo ſittlicher Ausdruck, denn dieſer gehört an ſich
ſchon zur Sache, fehlt jener ſogenannten Normalidee, ſondern Individualität.
Daß dieß die Aufgabe ſei, — die Einheit des Allgemeinen und Indivi-
duellen im Schönen zu erklären —, hat auch Winkelmann überſehen,
wenn er kurzweg die Sache bei einem Entweder Oder ſtehen läßt: die
ſchöne Bildung iſt entweder individuell „auf das Einzelne gerichtet,“ oder
„ideal, eine Wahl ſchöner Theile aus vielen einzelnen und Verbindung
in Eins.“ Dann ſetzt er aber im Gefühle der Schiefheit dieſer Beſtimmung
hinzu: „jedoch mit dieſer Erinnerung, daß etwas idealiſch heißen kann,
ohne ſchön zu ſein,“ und führt dafür die ägyptiſchen Figuren an, in wel-
chen weder Muſkeln, noch Nerven, noch Adern angedeutet ſind. (Kunſtgeſch.
B. 4, Cap. 2, §. 25). So fallen ihm alle Momente des Schönen aus-
einander, ein Uebelſtand, der uns nicht mehr begegnen kann, nachdem wir
den ganzen Prozeß der Entſtehung des Schönen von einem individuellen
Naturſchönen abgeleitet haben. Sollen wir daher die Richtigkeit jener
Kantiſchen Erklärung aus einer verhüllten Diviſion prüfen, ſo iſt die Ge-
ſtaltbildung, von welcher dieſelbe gelten ſoll, für uns eine ganz andere.
Vor Allem nämlich müſſen wir jene ſogenannte Normalidee oder was
Winkelmann auch idealiſch nennt, ganz zur Seite werfen. Der Kanon
iſt etwas ganz Abſtractes, was wirklich und buchſtäblich gemeſſen werden
kann, weder eine Idee, noch ein Ideal, ſondern nur eine Vorſtellung,
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Vischer, Friedrich Theodor von: Ästhetik oder Wissenschaft des Schönen. Bd. 2,2. Reutlingen u. a., 1848, S. 349. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/vischer_aesthetik0202_1848/63>, abgerufen am 16.02.2025.
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