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Vischer, Friedrich Theodor von: Ästhetik oder Wissenschaft des Schönen. Bd. 2,2. Reutlingen u. a., 1848.

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dieser mania, die er als eine Gattung neben der prophetischen, mystischen
(Dionysischen) und erotischen zählt, von der beigegebenen Ironie sehr
schwer zu scheiden ist, so kommt dieß daher, daß der mania eine doppelte
Besonnenheit gegenübersteht: die gemeine, und ihr gegenüber ist die mania
göttlich, eine Entrückung aus dem Geleise der Gewöhnlichkeit (ton eiothoton
nomimon), ihr gegenüber hat sie ihre Besonnenheit; dann aber die höhere
philosophische, und ihr gegenüber sind die Dichter blind, weil sie keine
Einsicht in das haben, was sie sprechen, und "wie eine Quelle, was immer
herbeikommt, willig dahin strömen lassen." (Die Stellen vergl. in Ruge's
Platon. Aesthetik S. 87 ff. Ed. Müller a. a. O. B. 1, S. 42 -- 56).
Plato zieht aber nirgends in strengem Zusammenhang jene Unterscheidung,
daher das Schillern zwischen Ernst und Ironie.

§. 395.

Dieser schwebende Zustand verbirgt aber bereits den Anfang einer Form-
thätigkeit in sich. Das aufgenommene Bild geht mit der Masse der sonst
gesammelten, demselben Kreise angehörigen Bilder eine geheime Gährung ein,
worin sie sich mit unbefestigten Umrissen durchkreuzen und einen Act vorbereiten,
der zugleich Verbindung und Scheidung ist.

Die ganze Thätigkeit, die hier im ersten Stadium ihres letzten und
höchsten Schrittes vor uns tritt, geht rein im Gebiete der Form vor sich.
Man kann sich nicht genug hüten vor einem Anfang, der das falsche
Verfahren vorbereitet, das Schöne daraus zu erklären, daß das Subject,
mit der Idee erfüllt, zuerst den Gegenstand an der Seite des Ideengehalts
ergreife und von da aus erst die Form erfasse, um sie zu läutern. Hegel
ist von diesem falschen Wege allerdings nicht ganz freizusprechen. Hier
nun, wo wir jetzt noch stehen, hat das Subject, freilich mit seiner geisti-
gen Fülle, aber mit dieser wie sie von Anfang an Eins ist mit seinem
Formsinn, das Object, das ebenfalls Gehalt und Form in Einem, aber
beides in getrübter Weise ist, ergriffen, sich ein Bild davon genommen,
und dieses Bild gährt mit der Masse dessen, was wir überhaupt als
gesammelt (§. 386) und aufbewahrt voraussetzen, in einem verhüllten
Prozesse zusammen. Aus dieser Masse wird das Bild durch die einfache
Attraction seiner Gattung diejenigen Bilder anziehen, die zu derselben
Gattung gehören; dieser Kreis wird sich aber zugleich verengen bis zu
der näheren und nächsten Sphäre -- z. B. bei einer geschichtlichen Person
Nation, Volksstamm, Stand, Thätigkeit, Verhältnisse, Temperament, Cha-
rakter. In der Mitte der verwandten Bilder aus diesen näheren und
nächsten Kreisen schwebt das ursprüngliche, eben jetzt als naturschöner

dieſer μανία, die er als eine Gattung neben der prophetiſchen, myſtiſchen
(Dionyſiſchen) und erotiſchen zählt, von der beigegebenen Ironie ſehr
ſchwer zu ſcheiden iſt, ſo kommt dieß daher, daß der μανία eine doppelte
Beſonnenheit gegenüberſteht: die gemeine, und ihr gegenüber iſt die μανία
göttlich, eine Entrückung aus dem Geleiſe der Gewöhnlichkeit (τῶν εἰωϑότων
νομίμων), ihr gegenüber hat ſie ihre Beſonnenheit; dann aber die höhere
philoſophiſche, und ihr gegenüber ſind die Dichter blind, weil ſie keine
Einſicht in das haben, was ſie ſprechen, und „wie eine Quelle, was immer
herbeikommt, willig dahin ſtrömen laſſen.“ (Die Stellen vergl. in Ruge’s
Platon. Aeſthetik S. 87 ff. Ed. Müller a. a. O. B. 1, S. 42 — 56).
Plato zieht aber nirgends in ſtrengem Zuſammenhang jene Unterſcheidung,
daher das Schillern zwiſchen Ernſt und Ironie.

§. 395.

Dieſer ſchwebende Zuſtand verbirgt aber bereits den Anfang einer Form-
thätigkeit in ſich. Das aufgenommene Bild geht mit der Maſſe der ſonſt
geſammelten, demſelben Kreiſe angehörigen Bilder eine geheime Gährung ein,
worin ſie ſich mit unbefeſtigten Umriſſen durchkreuzen und einen Act vorbereiten,
der zugleich Verbindung und Scheidung iſt.

Die ganze Thätigkeit, die hier im erſten Stadium ihres letzten und
höchſten Schrittes vor uns tritt, geht rein im Gebiete der Form vor ſich.
Man kann ſich nicht genug hüten vor einem Anfang, der das falſche
Verfahren vorbereitet, das Schöne daraus zu erklären, daß das Subject,
mit der Idee erfüllt, zuerſt den Gegenſtand an der Seite des Ideengehalts
ergreife und von da aus erſt die Form erfaſſe, um ſie zu läutern. Hegel
iſt von dieſem falſchen Wege allerdings nicht ganz freizuſprechen. Hier
nun, wo wir jetzt noch ſtehen, hat das Subject, freilich mit ſeiner geiſti-
gen Fülle, aber mit dieſer wie ſie von Anfang an Eins iſt mit ſeinem
Formſinn, das Object, das ebenfalls Gehalt und Form in Einem, aber
beides in getrübter Weiſe iſt, ergriffen, ſich ein Bild davon genommen,
und dieſes Bild gährt mit der Maſſe deſſen, was wir überhaupt als
geſammelt (§. 386) und aufbewahrt vorausſetzen, in einem verhüllten
Prozeſſe zuſammen. Aus dieſer Maſſe wird das Bild durch die einfache
Attraction ſeiner Gattung diejenigen Bilder anziehen, die zu derſelben
Gattung gehören; dieſer Kreis wird ſich aber zugleich verengen bis zu
der näheren und nächſten Sphäre — z. B. bei einer geſchichtlichen Perſon
Nation, Volksſtamm, Stand, Thätigkeit, Verhältniſſe, Temperament, Cha-
rakter. In der Mitte der verwandten Bilder aus dieſen näheren und
nächſten Kreiſen ſchwebt das urſprüngliche, eben jetzt als naturſchöner

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[346/0060] dieſer μανία, die er als eine Gattung neben der prophetiſchen, myſtiſchen (Dionyſiſchen) und erotiſchen zählt, von der beigegebenen Ironie ſehr ſchwer zu ſcheiden iſt, ſo kommt dieß daher, daß der μανία eine doppelte Beſonnenheit gegenüberſteht: die gemeine, und ihr gegenüber iſt die μανία göttlich, eine Entrückung aus dem Geleiſe der Gewöhnlichkeit (τῶν εἰωϑότων νομίμων), ihr gegenüber hat ſie ihre Beſonnenheit; dann aber die höhere philoſophiſche, und ihr gegenüber ſind die Dichter blind, weil ſie keine Einſicht in das haben, was ſie ſprechen, und „wie eine Quelle, was immer herbeikommt, willig dahin ſtrömen laſſen.“ (Die Stellen vergl. in Ruge’s Platon. Aeſthetik S. 87 ff. Ed. Müller a. a. O. B. 1, S. 42 — 56). Plato zieht aber nirgends in ſtrengem Zuſammenhang jene Unterſcheidung, daher das Schillern zwiſchen Ernſt und Ironie. §. 395. Dieſer ſchwebende Zuſtand verbirgt aber bereits den Anfang einer Form- thätigkeit in ſich. Das aufgenommene Bild geht mit der Maſſe der ſonſt geſammelten, demſelben Kreiſe angehörigen Bilder eine geheime Gährung ein, worin ſie ſich mit unbefeſtigten Umriſſen durchkreuzen und einen Act vorbereiten, der zugleich Verbindung und Scheidung iſt. Die ganze Thätigkeit, die hier im erſten Stadium ihres letzten und höchſten Schrittes vor uns tritt, geht rein im Gebiete der Form vor ſich. Man kann ſich nicht genug hüten vor einem Anfang, der das falſche Verfahren vorbereitet, das Schöne daraus zu erklären, daß das Subject, mit der Idee erfüllt, zuerſt den Gegenſtand an der Seite des Ideengehalts ergreife und von da aus erſt die Form erfaſſe, um ſie zu läutern. Hegel iſt von dieſem falſchen Wege allerdings nicht ganz freizuſprechen. Hier nun, wo wir jetzt noch ſtehen, hat das Subject, freilich mit ſeiner geiſti- gen Fülle, aber mit dieſer wie ſie von Anfang an Eins iſt mit ſeinem Formſinn, das Object, das ebenfalls Gehalt und Form in Einem, aber beides in getrübter Weiſe iſt, ergriffen, ſich ein Bild davon genommen, und dieſes Bild gährt mit der Maſſe deſſen, was wir überhaupt als geſammelt (§. 386) und aufbewahrt vorausſetzen, in einem verhüllten Prozeſſe zuſammen. Aus dieſer Maſſe wird das Bild durch die einfache Attraction ſeiner Gattung diejenigen Bilder anziehen, die zu derſelben Gattung gehören; dieſer Kreis wird ſich aber zugleich verengen bis zu der näheren und nächſten Sphäre — z. B. bei einer geſchichtlichen Perſon Nation, Volksſtamm, Stand, Thätigkeit, Verhältniſſe, Temperament, Cha- rakter. In der Mitte der verwandten Bilder aus dieſen näheren und nächſten Kreiſen ſchwebt das urſprüngliche, eben jetzt als naturſchöner

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Zitationshilfe: Vischer, Friedrich Theodor von: Ästhetik oder Wissenschaft des Schönen. Bd. 2,2. Reutlingen u. a., 1848, S. 346. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/vischer_aesthetik0202_1848/60>, abgerufen am 21.11.2024.